Rita Wruck kennt die Lange Straße seit über 50 Jahren. Seit Anfang der 50er Jahre lebt sie in Castrop-Rauxel, zunächst in Obercastrop. Seit 1970 ist Habinghorst ihr Zuhause. Sie wohnt direkt an der Henrichenburger Straße (B235); die Lange Straße liegt direkt gegenüber. „Das war früher die Kö von Castrop-Rauxel“, sagt die Seniorin.
Die Nostalgie scheint durch, wenn sie über die goldenen Zeiten der Einkaufsstraße spricht. „Hier gab es mehrere Kinos, große Einkaufsläden“, erzählt sie und zeigt auf die Geschäftsräume, in denen mittlerweile andere Geschäfte zu finden sind.
Auch Rita Wrucks Eltern hatten ein Geschäft, nicht auf der Einkaufsstraße selbst, sondern im Erdgeschoss ihres Wohnhauses an der B235. „Wir hatten hier alles“, so die Castrop-Rauxelerin. Seitdem sich das Einkaufsverhalten der Verbraucher immer mehr verlagert hat – weg vom inhabergeführten Lebensmittelladen, hin zu den großen Supermarkt- und Discounter-Ketten – hat sich die Lange Straße verändert.
Eher zum negativen, findet Rita Wruck. Mittlerweile hält sie sich dort nur noch zu bestimmten Zeiten auf. „Nach acht Uhr abends gehe ich da nicht mehr gerne lang“, sagt die 83-Jährige. Zu unsicher sei ihr das. „An vielen Orten brennt es“, sagt Rita Wruck. „Das muss mal benannt werden.“ Vor etwa einem halben Jahr wurden sie und eine Freundin überfallen. Von hinten wurde ihnen die Handtasche entrissen. „Man hat ein Angstgefühl hier. Seitdem umso mehr.“
Die ganze Nacht Party
So wie ihr geht es noch einigen anderen. Bei einem Nachbarschaftsaustausch mit gemeinsamem Spaziergang über die Lange Straße – eingeladen hatten der Stadtteilverein „Unser Habinghorst e.V.“ und die Stadt – bringen Anwohner ihre Sorgen mit. Sie reichen von ständiger Lärmbelästigung über Vermüllung bis hin zum mangelnden Sicherheitsgefühl. „Abends müsste hier der Ordnungsdienst präsenter sein“, fordern einige Teilnehmer.
Zwei Paare erzählen, sie hätten die Wohnungen ihrer Familien übernommen. „Wir fragen uns mittlerweile, ob das die richtige Entscheidung war“, erzählt einer der Anwohner. Ein Sicherheitsgefühl stelle sich nicht ein. Seine Frau und er wohnen beim Penny um die Ecke. „Hinterm Haus blicken wir auf einen großen Innenhof, wo dauernd Party ist.“ Seine Frau ergänzt: „Die feiern manchmal bis 11 Uhr am nächsten Tag. Die ganze Nacht durch.“ Die ganze Nachbarschaft sei aufgebracht.
Polizei oder Ordnungsamt wegen der Lärmbelästigung anzurufen, würde allerdings wenig bringen. Das Ehepaar meint: „Wenn ich seit drei Jahren so laut bin und sehe, dass das so gut wie keine Konsequenzen hat, mache ich natürlich genauso weiter.“ Mit dieser Kritik konfrontieren sie Dirk Treese, der auch an dem Spaziergang teilnimmt. Er ist der Leiter des Kommunalen Ordnungsdienstes (KOD) von Castrop-Rauxel. „Wir können natürlich Geldbußen verhängen“, erklärt er. Was passiert, nachdem seine Mitarbeiter dann wieder weg seien und ob es dann genauso laut weitergeht, darauf habe man wenig Einfluss.

Ideen der CDU, auf der Lange Straße einen dauerhaften KOD-Stützpunkt einzurichten, hatten im Februar 2023 im Betriebsausschuss 1 keine Mehrheit gefunden. Dafür fehlten schlicht die „personellen Möglichkeiten“, hatte der für Ordnung zuständige Beigeordnete Michael Eckardt erklärt.
Adil Tamouh von Stadtteilverein sieht auch die Eigentümer der Immobilien in der Verantwortung. Sie könnten zwar die Ruhestörungen nicht verhindern, würden sich aber seit Jahren einen schlanken Fuß machen. „Viele Häuser müssten eigentlich saniert werden, aber die Immobilienbesitzer stecken so gut wie kein Geld rein.“
Stattdessen würde zunächst versucht, die Wohnungen im schlechten Zustand neu zu vermieten. Mit dem Ergebnis, dass die Ballung an Familien in prekären Verhältnissen zunehme. „Vielen Vermietern ist das oft egal – die wohnen teilweise in Berlin oder sonst wo und bekommen gar nichts davon mit, was hier manchmal abgeht.“

Er betont aber auch, wie viele gute Entwicklungen es in Habinghorst gebe. Beim Spaziergang zeigt er die Grünflächen, die in den Nebenstraßen wie der Kampstraße angelegt wurden, wirbt für tüchtige Geschäftsinhaber, denen ihre Läden und die Lange Straße am Herzen liegen.
Darüber, wie man auf der Lange Straße zu mehr Miteinander findet, gehen die Meinungen auseinander. Rita Wruck meint: „Es müsste mehr Konsequenz geben. Man muss unsere Gesetze mal konsequenter anwenden.“ Die Störenfriede würden den Rechtsstaat nicht erstnehmen, die Strafen seien zu milde.
Ein besseres Stadtteilklima lasse sich nicht durch immer härtere Strafen herstellen, sagt hingegen KOD-Leiter Dirk Treese. „Wahrscheinlich lassen sich viele der Probleme gar nicht durch Ordnungsmaßnahmen lösen. So ehrlich muss man einfach sein“, sagt Treese im Gespräch mit den Anwohnern. „Da muss Sozialarbeit stattfinden, da müssen die Normen unseres Kulturkreises vermittelt werden.“

Rita Wruck bleibt trotz mancher Probleme bewusst in Habinghorst wohnen. „Hier sind die Leute, die ich kenne, meine Freunde.“ Anja‘s Café oder das Quartiersbüro sind die Orte, die ihr Zuversicht geben. Dass die Straße nicht mehr so aussieht wie früher, stört sie weniger. „Das ist ganz normal“, sagt Rita Wruck. „Es muss immer Entwicklung geben. Sonst würden wir ja heute noch hier sitzen und mit Steinen Feuer machen.“ Sie wünscht sich aber, dass es mehr Miteinander zwischen den Bewohnern gibt.
Im Video schildert Nina Pawlowski, die ihren Friseur-Salon in Habinghorst hat, was ihr an der Lange Straße gefällt:
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