Kaffee am Phoenix-See statt Krieg „Das ist wie ein Traum“ - und doch nur eine Ablenkung für Elena aus der Ukraine

„Das ist wie ein Traum“ – und ist doch nur eine Ablenkung vom Krieg
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Der Krieg zu Hause ist 1700 Kilometer entfernt, und doch bleibt er nah. Der Nachrichtenkanal auf Elena Rosenblats Handy trägt die neuesten Nachrichten von der Front und den russischen Drohnenangriffen in der Ukraine an den sonnenüberfluteten Phoenix-See. Der gibt sich an diesem Spätsommertag von seiner schönsten Seite. Wie hält man so einen Kontrast aus?

„Es ist wie ein Traum. Nicht darüber nachzudenken, ob etwas passiert.“ Und trotzdem ist der Krieg in den Gedanken allgegenwärtig. „Auch wenn wir hier in Sicherheit sind, haben wir das Gefühl, dass Krieg ist. Wir können den Krieg nicht abschalten wie einen Fernseher, aber der See hier ist eine schöne Ablenkung“, sagt Elena Rosenblat und nippt an ihrem Café Americano.

Die Unternehmerin aus Schytomyr, Dortmunds Partnerstadt in der Ukraine, ist aus Anlass der Digitalen Woche für fünf Tage mit einer Delegation in der Stadt.

Spontaner Entschluss

Elena Rosenblat sitzt als Stadtverordnete im Rat von Schytomyr und hat erst am vergangenen Freitag (22.9.) von der Reise erfahren. „Ich muss da mit“, dachte sie sofort. „Ich kann Brücken bauen.“ Denn sie kennt Dortmund, hat hier familiäre Beziehungen. Bis zwei Stunden vor Abfahrt am Samstagmittag war nicht sicher, dass das klappt. Aber Elena Rosenblat kann sehr überzeugend sein.

Das hat sie in den gut 19 Monaten Krieg immer wieder unter Beweis gestellt. Schon am zweiten Kriegstag hatte sie angefangen, ein Freiwilligenzentrum in Schytomyr zu gründen und Hilfslieferungen zu organisieren. Inzwischen konnte sie mit ihren Mitstreiterinnen mehr als 80.000 Menschen helfen – Familien, Flüchtlingen und dem Militär.

Ja, sagt sie, nach 19 Monaten Krieg seien die Menschen in der Ukraine müde und erschöpft. „Aber je länger der Krieg dauert, umso mehr gewöhnen wir uns daran, mit diesem Krieg zu leben und zu widerstehen.“ Das höre sich schrecklich an, sagt sie, „aber es gibt keine andere Möglichkeit. Wir müssen uns daran gewöhnen und weiterleben.“ Das klingt nicht mehr nach Mittelstreckenlauf, das klingt nach Marathon.

„Jeder Tag ist ein Risiko“

Nach wie vor heulen jede zweite Nacht in Schytomyr die Sirenen und warnen vor Drohnen und Raketen. In der Region habe es in jüngster Vergangenheit mehrere Luftangriffe gegeben, sagt Elena. „Jeder Tag ist ein Risiko, dass eine Bombe oder Rakete einschlägt. Niemand weiß, wo die nächste Explosion ist.“

Wenn sie ein Flugzeug höre, zucke sie in Bruchteilen einer Sekunde vor Schreck zusammen. „Bis heute“. Auf den Friedhöfen von Schytomyr gebe es nach wie vor jeden Tag eine Beerdigung. Die Stadt habe mehrere Militäreinrichtungen, und viele Männer von dort kämpften an der Front.

Gut eineinhalb Jahre nach dem russischen Angriff ist die Lage in der Ukraine angespannter denn je. Die Menschen steuern auf den zweiten Kriegswinter zu. Noch ist es spätsommerlich warm in der Ukraine, doch im Oktober beginne die Heizperiode. „Die Russen haben schon angekündigt, dass sie die Stadtwerke und damit die Energieversorgung bombardieren werden.“, sagt Elena. Letzten Winter habe es 15 Angriffe mit Raketen und Drohnen auf die Heizkraftwerke von Schytomyr gegeben. „Es gab Gebiete, die drei bis vier Tage ohne Strom waren.“

Generator angeschafft

Man bereite sich in Schytomyr auf eine harte Zeit im Winter vor. „Wir haben uns zu Hause einen Generator angeschafft“, sagt die Unternehmerin. Der Dortmunder Pumpenhersteller Wilo habe Pumpen nach Schytomyr geliefert. Außerdem erhielt die Stadt Generatoren und kleine Blockheizkraftwerke. „Wir richten Wärmestuben ein, wo die Leute einen Tee trinken und ihre Handys aufladen können“, erzählt Elena.

Die Delegation aus Schytomyr am Phoenix-See.
Die Delegation aus Schytomyr mit der ersten stellvertretenden Bürgermeisterin Svitlana Olshanska (3.v.l) an der Spitze und Elena Rosenblat (2.v.r.). Rechts Fabian Zeuch vom städtischen Büro für internationale Beziehungen. © Kolle

Man kenne die Risiken, sagt Elena: „Die Hauptsache ist, dass wir darauf vorbereitet sind, technisch und mental. Wir alle haben schlicht keine andere Wahl.“

Ein Herzensanliegen sind Elena die Schwächsten, die Kinder und Jugendlichen. „Die Kinder, die an den ersten Tagen in der Ukraine waren, haben das alles mitgekriegt. Das Problem ist, dass sie nicht darüber sprechen. Doch das Problem bleibt, es muss verarbeitet werden.“

Flüchtlingskinder

Deshalb hat sie unter dem Dach des Freiwilligenzentrums mit ihren Mitstreiterinnen das Projekt „Widerstand“ ins Leben gerufen. Unter Anleitung eines Regisseurs, und mit Unterstützung von Pädagogen und Betreuern tragen Kinder und Jugendliche eigene Gedichte und die anderer Kinder über das Erlebte auf der Bühne vor. Das helfe ihnen, den Krieg zu verarbeiten, sagt Elena.

In Dortmund gebe es auch viele Flüchtlingskinder aus der Ukraine. „Sie sind in Sicherheit, haben aber auch psychologische Probleme.“ Deshalb möchte Elena Rosenblat dieses Projekt auch nach Dortmund und in zwei, drei andere deutsche Städte exportieren. Sie hat es bereits am Montag in Dortmund präsentiert. Erste Gespräche und Treffen seien vereinbart. „Wir hoffen, dass wir das verwirklichen können.“

Die Hilfen für die Ukraine sind komplexer geworden. Anfangs ging es um Nahrung und Hygiene. Das werde auch jetzt noch gebraucht, sagt Elena. Heute gehe es aber – auch bei der Frage nach der Zukunft – vor allem um Infrastruktur und mentale Hilfen für die Menschen.

Dortmund als Vorbild

Sie sei schon mehrfach in Dortmund gewesen, habe aber bei der Rundfahrt am Montag die Stadt mit anderen Augen gesehen. Nach 40 Jahren Strukturwandel habe sich Dortmund sehr verändert, habe sich wirtschaftlich neu aufgestellt und sei von einer Industrie- zu einer grünen Stadt geworden.

„Das gibt mir Hoffnung als Stadtverordnete für unsere Stadt und für mich persönlich“, sagt Elena Rosenblat und blickt auf den Phoenix-See: „Ich bin sicher, es gibt auch bei uns die Möglichkeit des Wiederaufbaus und des Umbaus zu etwas Neuem. Dortmund ist auf diesem Weg Vorbild.“

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