Bürgermeister mit Gewehr auf dem Schreibtisch ist Gandhi-Fan Zu Besuch bei Serhii Sukhomlyn

Bürgermeister hat Gewehr auf dem Schreibtisch und Gandhi an der Wand
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Wo andere Bürgermeister ihre Akten oder ihren Laptop auf dem Schreibtisch liegen haben, liegt bei Serhii Sukhomlyn ein Gewehr. Als der Besuch eintritt, nimmt er die Waffe wie beiläufig vom Tisch und bringt sie in einen hinteren Raum.

Eigentlich passt das Gewehr sehr gut in das Ambiente; denn der große Raum mit Stuckdecke, schweren Holzmöbeln und der ukrainischen Flagge an der Rückwand ist vollgestellt mit militärischen Utensilien. Etwas verstörend wirkt das Skelett am Eingang, behängt und umstellt von Ausrüstungsgegenständen russischer Soldaten. „Trophäen“, sagt er.

Auf der Fensterbank und auf einem Tisch tummeln sich verschiedene Panzermodelle. „Den ersten Panzer hatte ich mir zum Geburtstag gewünscht“, erzählt er. Danach bekam er viele weitere geschenkt. Ein Leopard ist nicht dabei. Doch er hat schon mal in einem Challenger, einem englischen Kampfpanzer gesessen, der auch in der Ukraine eingesetzt wird.

Bürgermeister Serhii Sukhomlyn mit einigen Panzermodellen aus seiner Sammlung.
Bürgermeister mit einigen Panzermodellen aus seiner Sammlung. © Kolle

Gandhi neben Selenskyj

Der 52-Jährige hat die Militärhochschule absolviert, kennt sich mit Panzern aus. Er hat in den ersten Tagen des russischen Angriffskriegs Stadtmitarbeiter und Freiwillige der Territorialverteidigung im Umgang mit dem Gewehr unterrichtet. Man sollte gewappnet sein, falls die Russen der Stadt noch näher kommen sollten, als sie damals schon waren.

Bürgermeister Serhii Sukhomlyn (l) auf einem Handyfoto mit seinem Sohn.
Bürgermeister Serhii Sukhomlyn (l) auf einem Handyfoto mit seinem Sohn. © Kolle

Noch am Dienstag, 20. Juni, war er im umkämpften Osten und hat dort seinen Sohn besucht, der als Soldat eingesetzt ist. Gern wäre Sukhomlyn länger dort geblieben, doch in ein paar Tagen wird er wieder da sein zu einer Schulung an einer militärischen Pilotanlage.

Serhii Sukhomlyn, Bürgermeister von Schytomyr, mit "Trophäen" von russischen Soldaten.
Serhii Sukhomlyn, Bürgermeister von Schytomyr, mit „Trophäen“ von russischen Soldaten. © Gaby Kolle

Nur eines will nicht so recht ins Bild des militärisch geschulten Bürgermeisters passen: Das gezeichnete Porträt von Mahatma Gandhi, das hinter seinem Schreibtisch aufgestellt ist – schräg unterhalb eines Bildes von Präsident Selenskyj. Wie passt das zusammen?

Ein Selenskyj-Typ

In den Arbeitszimmern von Bürgermeistern in der Ukraine sei es üblich, den Präsidenten im Rücken hängen zu haben“, berichtet er. Er selbst hatte das nie. Als noch Petro Poroschenko Präsident der Ukraine war – von Juni 2014 bis zum Mai 2019 –, sei er von Besuchern aus Kiew immer wieder gefragt worden, warum er kein Porträt des Präsidenten an der Wand habe. „Damit keine weiteren Fragen kommen, habe ich beschlossen, den Gandhi hinzuhängen.“

Aber er verstehe auch die Philosophie von Indiens gewaltfreiem Freiheitskämpfer. „Die Kraft des Geistes wirkt stärker als Waffen“, sagt er, „man kann eher im Dialog Kompromisse finden.“ Doch seit dem russischen Angriffskrieg habe er erkannt, „dass in dieser Zeit die Philosophie von Gandhi nicht funktioniert“. Präsident Selenskyj habe gezeigt, dass er ein Anführer sei. Deshalb ist Selenskyj der erste Präsident, der in seinem Büro hängt.

Serhii Sukhomlyn ist selbst ein Selenskyj-Typ. Smart, durchtrainiert und drahtig, kein Apparatschik aus der alten Sowjetunion, sondern ein Politiker der neuen Generation in der Ukraine, der seine Kraft auch gern an Gewichten auf der Langhantel misst. Er nutzt den Krieg als Beschleuniger für Innovationen und neue Denkmuster. Zerstörtes soll nicht einfach nur wieder aufgebaut, sondern zukunftsträchtig gestaltet werden. Wie die von einer Rakete zerstörte Schule Lyceum Nr. 25, für die zunächst ein neues Lernkonzept entwickelt und erst dann das Gebäude dazu geplant wird.

Reha-Zentrum für Soldaten

Oder die zum Teil zerstörten Krankenhäuser. Sie sollen in einem Neubau zu einem zentralen Krankenhauskomplex mit allen Fachrichtungen zusammengelegt und mit einem Rehabilitationszentrum für Soldaten ergänzt werden. Das Konzept für den neuen Industriepark, der vor dem Krieg begonnen wurde, wird nach mehr als einem Jahr Krieg wieder geändert und den neuen Begebenheiten angepasst.

Die Stadt müsse Prioritäten setzen, unterstreicht er. „Wenn heute jemand sagt, der Kindergarten brauche eine Renovierung, dem sage ich, das Krankenhaus braucht ein Reha-Zentrum für die Soldaten.“

Diese Meinung vertritt er auch gegenüber Politikern, die solche Projekte gern zentralistisch von Kiew aus steuern würden. „In der Gemeinde vor Ort weiß man besser, was man braucht.“ Dennoch meint er, dass in Kriegszeiten ein gewisser Grad von Zentralisierung notwendig ist. „Aber die Stadt bestimmt, was Vorrang hat.“

Auch Fußballfan

Der Vater von vier Kindern, davon zwei Adoptivkinder mit Behinderung, ist auch Sport- und Fußballfan. Für den heimischen Fußballverein FC Polissia, der Erfolge feiert, wurde trotz Kriegs in diesem Jahr ein Trainingszentrum gebaut, und ein neues Stadion soll folgen.

Bei seinem Video-Gespräch mit Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal habe er gesagt, „dass der FC Polissia in die ukrainische Premier League aufgestiegen ist und gegen Borussia Dortmund spielen kann.“

Optimismus nicht nur in Sachen Fußball wird überall in Schytomyr vermittelt. Alle glauben an den Sieg über Russland. Sagen sie jedenfalls. Dann werde vielleicht auch das Porträt von Selenskyj wieder ausgewechselt“, sagt Serhii Sukhomlyn schmunzelnd. Dann könnte Ghandi wieder die Oberhand haben.

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