Bis zum Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine war Elena Rosenblat überzeugt: „Es gibt keinen Krieg.“ Doch in den frühen Morgenstunden des 24. Februar wird auch der Stadträtin von Schytomyr klar, dass das Unglaubliche eingetreten ist. Wenn auch nicht sofort. „Wir waren wach und konnten es nicht glauben.“ Ihre Stadt wurde bombardiert. Erstes Ziel war die Infrastruktur. Der Militärflughafen.
Sie sei den ganzen Tag wie erstarrt gewesen, erinnert sich Elena. Doch dann ging es der Unternehmerin wie vielen Menschen in Schytomyr und dem Rest der Ukraine. „Am nächsten Tag habe ich gedacht, ich muss was machen.“
Die Russen waren 70 bis 80 Kilometer entfernt, Fabriken und Geschäfte blieben geschlossen, das Leben stand still. Es gab viele Verletzte, und den Krankenhäusern fehlte das Nötigste, um sie zu versorgen. „Die Leute wussten nicht, wie es weitergeht“, sagt Elena.
Alle Freunde angerufen
Seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 hatte sie bereits Erfahrung mit Hilfslieferungen. Und sie hatte Kontakte ins Ausland. „Ich habe alle meine Freunde angerufen und gesagt, wir brauchen Hilfe.“
In Schytomyr gründete sie mit Mitstreiterinnen das Freiwilligenzentrum, setzte ein Formular ins Netz, mit dem sich Unterstützer für die Mithilfe melden konnten. Elena hatte die Kontakte, Gala Chyburovska die Lagerräume für die zu sammelnden Hilfsgüter.
Die schrecklichste Zeit sei im Februar, März und April 2022 gewesen, als Schytomyr unter Beschuss stand, so Elena. „Im März waren jeden Tag zwei-, dreimal Flugzeuge über unseren Köpfen und haben die Stadt bombardiert.“
Zuerst das Militär unterstützt
Die erste Aufgabe damals sei gewesen, das Militär zu unterstützen. Die Militärküche war zerstört. So packten sie Lebensmittelpakete für die Soldaten. „Frühstück, Mittag- und Abendessen für zehn Personen war ein Paket.“
Anschließend weiteten sie die Hilfe aus, sammelten für die von Russen besetzten Gebiete in der Region um Kiew. Sie wunderte sich, dass die Fahrzeuge, die die Hilfsgüter abholten, normale Personenwagen waren. „Warum kommt ihr nicht mit Transportern?, fragte Elena erstaunt. Sie erfuhr, dass die Russen sich nur 100 Kilometer entfernt im Wald versteckten, um die Transporte abzufangen. Da falle man mit einem kleinen Auto weniger auf.
Tatsächlich sagt sie, sei einer der Fahrer, der am 28. März zum zwischenzeitlich besetzten Dorf Motyzhyz unterwegs gewesen sei, von Russen getötet worden.
Nur im Schlafanzug
Ein weiterer Schwerpunkt für das Freiwilligenzentrum wurde die Hilfe für die Binnenflüchtlinge. „Insgesamt 100.000 Menschen flohen aus den besetzten Gebieten nach Schytomyr“, berichtet die tatkräftige Stadträtin. „Wir Freiwilligen haben sie willkommen geheißen. Es war März und sehr kalt. Manche kamen in Schlafanzug und Slippern. Manche hatten keine Dokumente dabei. Sie haben nur ihre Kinder genommen und weg.“
„Wir waren so glücklich, dass wir helfen konnten“, sagt Elena. Das hat uns von unseren eigenen Sorgen abgelenkt.“ Die Hilfe sei aber nur mit Unterstützung vieler Helfer im Ausland, vor allem auch aus Dortmund möglich gewesen. „Dortmund ist sehr nah für uns, und wir sind sehr dankbar.“
„Engel“ Ewgeni
Die Liste der Unterstützer aus Dortmund ist lang. Unter anderem zählen dazu das Mallinckrodt-Gymnasium, die Landgrafenschule, die Jüdische Gemeinde, das Johannes- und das Josefs-Hospital, die Spitzweg-Apotheke, der Lions Club Reinoldus, die Katholische Paulus-Gesellschaft, der Galerist und Cityring-Vorsitzende Thomas Heitmann und Connie Welke vom gleichnamigen Zoogeschäft. Allen voran allerdings half der Dortmunder Unternehmer Ewgeni Gorodetski, den sie ihren „Engel“ nennen und dessen Eltern in Schytomyr leben.
Gorodetski kümmerte sich von Anfang an um die Transporte, schickte medizinische Geräte, Medikamente, Generatoren, Lebensmittel, Schlafsäcke, warme Decken, Möbel für soziale Einrichtungen, Powerbanks, Babynahrung, Pampers und Tierfutter auf die Strecke. Mittlerweile sind es 25 Transporte in großen LKW. Der 26. macht sich in diesen Tagen mit Krankenbetten auf den Weg.
„Diese Zusammenarbeit hat uns von Anfang an geholfen. Die ganze Welt war mit uns. In diesem Moment waren wir stolz, dass wir nicht allein waren“, sagt Elena.
Auch wenn weiter das Nötigste zum Leben gesammelt wird, steht heute ein anderer Hilfsbedarf im Fokus: die psychologische Betreuung von Kindern und Jugendlichen.
Die Kraft im Hintergrund
Dazu zählt ein Projekt, das vom Freiwilligenzentrum unterstützt und in fünf Bezirken der Schytomyr-Region angeboten wird. Unter Anleitung eines Regisseurs, und mit Unterstützung von Pädagogen und Betreuern tragen Kinder und Jugendliche eigene Gedichte und die anderer Kinder über das Erlebte vor. 100 Kinder stehen auf der Bühne. „Das Projekt hilft ihnen, diesen schrecklichen Krieg zu verarbeiten“, sagt Maryna Matveichnuk, auch eine Mitstreiterin von Elena.
Die psychologische Hilfe und die seelische Gesundheit sei heute am wichtigsten bei der Frage nach der Zukunft, sagt Maryna. „Wenn die Soldaten wissen, dass es ihren Familien gut geht, dann ist das psychologische Unterstützung für sie. Mit dieser Kraft im Hintergrund können sie besser kämpfen.“
80.000 Menschen hätten sie bislang helfen können, sagt Elena. Dafür wurden sie vor zwei Wochen mit dem Preis „Charity Ukraine 2022“ in der Kategorie Kollektivfreiwillige ausgezeichnet. Maryna: „Das ist ein Preis für alle, die uns geholfen haben.“

Nicht nachlassen
Die Frauen werben dafür, mit der Hilfe nicht nachzulassen. Sie unterstützen auch die Soldaten und Bewohner in den aktuell umkämpften Gebieten im Süden und Osten des Landes. Elena: „Wenn Menschen für die Hilfe Partner in der Ukraine suchen – wir sind bereit.“
Die Einstellungen zum Leben, die Werte und die Ziele eines jeden in der Ukraine hätten sich durch den Krieg geändert, sagt Elena: „Wir sind andere Menschen geworden. Militärisch wäre es vielleicht möglich gewesen, Kiew in drei Tagen einzunehmen, aber Putin hat nicht mit dem Widerstand unserer Leute gerechnet.“
Bürgermeister mit Gewehr auf dem Schreibtisch ist Gandhi-Fan: Zu Besuch bei Serhii Sukhomlyn
Live-Blog zum Nachlesen: Eindrücke aus Dortmunds künftiger Partnerstadt Schytomyr
Vitalii (43) hat sich mit Youtube das Schießen beigebracht: Als Freiwilliger schützt er sein Land