Immer wieder hatte Ewgeni Gorodetski aus Dortmund Elena Rosenblat im Februar 2022 gefragt, ob es wirklich keinen Krieg geben werde in der Ukraine. Er machte sich Sorgen um seine Eltern, die in Schytomyr leben, er wollte sie nach Deutschland holen.
„Nichts wird passieren“, versicherte Rosenblat, die in der westukrainischen Stadt lebt und Ewgeni und seine Eltern seit ihrer Kindheit kennt, ihm immer wieder. „Am 24. Februar habe ich mich so schuldig gefühlt“, berichtet Rosenblat. Ewgeni hatte sich auf ihr Urteil verlassen und nun erlebten seine Eltern zum zweiten Mal in ihrem Leben einen Luftangriff auf Schytomyr.
Als Hitler 1941 die Sowjetunion angriff, waren Gorodetskis Eltern noch Kinder, erinnern können sie sich daran nicht mehr. Aber sie haben die Geschichten ihrer eigenen Eltern gehört. Erst in den 90er-Jahren fand Genia Gorodetski die Gräber ihrer jüdischen Großeltern, die von den Nazis ermordet wurden.
„Vielleicht ist es mein Schicksal, dass ich am Anfang und am Ende meines Lebens einen Krieg erlebe“, sagt Genia. Sie lebt heute wieder mit ihrem Mann in Schytomyr.
Krieg? „Auf keinen Fall“
Auch Genia hätte nie gedacht, dass es wirklich noch mal zu einem Krieg in der Ukraine kommen würde. „Am 23. Februar 2022 habe ich meine Rente bei der Bank abgeholt“, erzählt sie. Dort habe man sie auch gefragt, was sie über die Gerüchte, Russland würde die Ukraine angreifen, denkt. „Auf keinen Fall“, habe sie geantwortet.
Doch am nächsten Tag rief die Krankenschwester an, die jeden Tag kommt, um bei Genias Mann einen Verband zu wechseln. Ihr Mann ist Soldat und arbeitete damals auf dem Militärflughafen unweit von Schytomyr, der von Russland angegriffen wurde. „Ruft so schnell wie möglich ein Auto und fahrt weg“, sagte sie zu Genia.
Nachbarn trugen Mann in Keller
Doch das Paar blieb. Vier bis fünf Mal am Tag mussten sie sich vor Luftangriffen im Keller verstecken. Nachbarn halfen jedes Mal, Genias Mann, der an Parkinson erkrankt ist, nach unten zu tragen. Erst, als am 2. März ein Krankenhaus in Schytomyr von Bomben zerstört wurde, entschieden sie sich, zu gehen. Das Krankenhaus war das erste zivile Ziel, das in Schytomyr getroffen wurde.
Genia packte Dokumente, Medikamente und Verbandsmaterial für ihren Mann ein, für sich selbst nur ein wenig Unterwäsche. Mit dem Auto fuhren sie zur polnischen Grenze, doch sie mussten häufig anhalten, um den Verband ihres Mannes zu wechseln. „Jedes Mal, als wir ausstiegen, hatte ich Angst“, erzählt Genia. Die Westukraine wurde in dieser Zeit heftig beschossen.
Banges Warten an der Grenze
An der Grenze wartete Sohn Ewgeni auf der polnischen Seite - in der Aufregung hatte er vergessen, seinen Reisepass mitzunehmen, weshalb er nicht in die Ukraine gelassen wurde. Genias Mann hatte immer wieder Parkinson-Anfälle, das lange Sitzen im Auto war eine Qual für ihn. Der Dortmunder flehte einen polnischen Grenzbeamten an, ihn zu seinen Eltern zu lassen, die nur wenige hundert Meter entfernt am Grenzübergang im Stau standen.
Irgendwann nahm der Grenzbeamte ihn an der Hand und ging mit ihm ins Nachbarland. Dort konnte Ewgeni seinen Vater in einen Rollstuhl vom Roten Kreuz setzen und über die Grenze bringen.
Rückkehr nach Dortmund
Auch Genia war zu dem Zeitpunkt am Ende ihrer Kräfte. „Ich hatte Tränen in den Augen, als vor mir an der Grenze eine Frau mit Baby auf dem Arm stand.“ Als die Mutter nach ihren Dokumenten suchte, nahm die Grenzbeamtin das Baby so lange auf den Arm.
Ewgeni brachte seine Eltern nach Kattowice, von dort flogen sie nach Dortmund. „Am ersten Abend in Dortmund habe ich so geweint“, erzählt Genia.

Zwölf Tage lang hielten Genia und ihr Mann es in Dortmund aus. Als Ewgeni eine Kur im tschechischen Karlsbad für sie organisierte, war ihnen klar: Danach fahren wir wieder nach Hause. Am 22. April waren sie und ihr Mann zurück in Schytomyr. „Ich bin in Schytomyr geboren und ich will hier auch sterben“, sagt Genia.
Ihre Seele habe nach Hause gewollt, sagt Genia. Vor Luftangriffen hat sie keine Angst mehr, beim Alarm geht sie nicht mehr in den Keller. „Was passieren soll, passiert. Ob hier oder im Keller.“
Was sie den Dortmundern sagen möchte? „Die Menschen sollen wissen, dass die Ukraine Widerstand leistet und sehr viele Menschen für diesen Widerstand ihr Leben opfern. Denn dieser Widerstand ist nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa.“
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