„Soldaten machen dich zu einer echten Todesmaschine“ Wie die Menschen Schytomyr verteidigen

Bürger von Schytomyr haben ihre Verteidigung selbst aufgebaut
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Datum und Uhrzeit haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bewohner von Schytomyr eingegraben. Es war am 24. Februar 2022 um 4.34 Uhr, als die ganze Stadt aus dem Schlaf gerissen wurde. Von einem lauten Knall. Bei einem russischen Luftangriff war der Militärflughafen getroffen worden, zehn Kilometer von der Innenstadt entfernt.

Dortmunds künftige Partnerstadt Schytomyr erlebte vor allem zu Kriegsbeginn drei Schreckensmonate – Februar, März und April – mit mehreren Luftangriffen. Doch dem ersten Schock folgte der kollektive Widerstand. Russische Soldaten standen rund 100 Kilometer entfernt an der Schytomyr-Autobahn, und die Bürger wollten ihnen auf keinen Fall ihre Stadt überlassen.

Schon in den ersten Tagen packten viele mit an, um Schytomyr zu verteidigen, sollten die Russen tatsächlich näher kommen. Auch heute stehen noch die stacheligen Panzerbarrieren, Hedgehogs (Igel) genannt, an vielen Straßen. Bürger haben sie aus 355 Tonnen Metall hergestellt, berichtet die 1. stellvertretende Bürgermeisterin Svitlana Olshanska.

Die erste stellvertretende Bürgermeisterin von Schytomyr Svitlana Olshanska
Die erste stellvertretende Bürgermeisterin Svitlana Olshanska wundert sich heute noch, wie schnell die Menschen in Schytomyr die Verteidigung für ihre Stadt aufgebaut haben. © Kolle

2233 Zementblöcke

Sie haben auch 12.000 Tonnen Sand in Säcke gefüllt, um Gebäude zu schützen, 300 Holzkonstruktionen als Barrieren gebaut, 2233 Zementblöcke gegossen und zwölf Gebäude als Verteidigungsstellungen hergerichtet. „Wir haben in nur einer Woche unsere Verteidigung aufgebaut“, sagt Svitlana Olshanska. Und sie wunderten sich noch heute, dass sie das geschafft hätten.

Zum Widerstand gehören auch die vielen Freiwilligen, die sich zur Territorialverteidigung gemeldet haben, die sich im Umgang mit dem Gewehr schulen ließen und nachts Wache schoben.

Auf der Homepage der Stadtverwaltung von Schytomyr warb die Armee um Freiwillige für die „Dritte Angriffsbrigade“, eine von acht Sturmbrigaden für die Gegenoffensive. Diese neuen bewaffneten Einheiten mit insgesamt 40.000 Rekruten sollen für die Gegenoffensive Seite an Seite mit der regulären Armee kämpfen.

Die Wut für den Sieg

„Deine Wut muss für den Sieg arbeiten!“, heißt es da. „Ein Team professioneller Soldaten macht dich zu einer echten Todesmaschine.“ Den Freiwilligen wird gezeigt, „wie sich Hass in Kugeln und Granaten verkörpert.“ 23.000 Ukrainer sollen sich schon für diesen Dienst gemeldet haben, auch aus Schytomyr.

12.000 Tonnen Sand wurden in Säcke gefüllt, um öffentliche Gebäude - wie hier das Rathaus - zu schützen.
12.000 Tonnen Sand wurden in Säcke gefüllt, um öffentliche Gebäude - wie hier das Rathaus - zu schützen. © Kolle

Viele Sandsäcke in Schytomyr sind inzwischen mit dunklen Netzen bedeckt, „weil das schöner aussieht“, sagt die stellvertretende Bürgermeisterin. Aus dem selben Grund sind manche Hedgehogs heute bunt bemalt. Doch auch die Menschen von Schytomyr, die nicht an der Front kämpfen, tun weiterhin alles dafür, Russisches in ihrer Stadt auszuradieren.

Fünf Straßen und 16 Gassen sollen umbenannt werden. Russische Dichter wie Tschechow und Tolstoi will man nicht mehr auf Straßenschildern lesen. Stattdessen dürfen die Bürger aus verschiedenen Vorschlägen online neue Namen wählen – alles Namen historischer Mütter und Väter von Schytomyr.

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