Christina Wittler und Jonas von der Bahnhofsmission gaben einen Einblick in ihren Alltag

Christina Wittler und Jonas von der Bahnhofsmission gaben einen Einblick in ihren Alltag © Schaper

Krieg und Armut: In der Bahnhofsmission hat man „Angst vor dem Winter“

rnHauptbahnhof Dortmund

Pandemie, Kriegsflucht, Inflation: Die aktuellen Krisen spüren auch die Mitarbeiter der Bahnhofmission. Wie im Brennpunkt wird hier die Not der Menschen sichtbar. Wir waren vor Ort.

Dortmund

, 24.10.2022, 08:32 Uhr / Lesedauer: 3 min

Claudia Wischnewski fiel es zu schwer, allein damit umzugehen: Als sie aus dem Supermarkt zurück in ihre Wohnung kam, war ihr Verlobter plötzlich verschwunden. Ohne eine Nachricht, ohne ihr Bescheid zu sagen.

Wischnewski sorgte sich um ihn. Drei Tage lang lebte sie in Ungewissheit. Bis sie zur Bahnhofmission ging, wo sie ein offenes Ohr fand.

Claudia Wischnewski (r.) kann wieder lachen, während Swetlana Berg von der Bahnhofsmission ein offenes Ohr hat.

Claudia Wischnewski (r.) kann wieder lachen, während Swetlana Berg von der Bahnhofsmission ein offenes Ohr hat. © Schaper

Es sind seit Wochen Menschen wie Claudia Wischnewski, die verstärkt zur Bahnhofmission strömen. Hier sind die Krisen der Gegenwart seit Monaten verstärkt zu spüren: Pandemie, Krieg oder Inflation sorgen für Not und Verunsicherung. Auf der Suche nach Hilfe stranden viele am Hauptbahnhof: die Armen, die Geflüchteten oder die Opfer von häuslicher Gewalt.

„Leute aus der Mitte der Gesellschaft sind dazugekommen“

In der Dortmunder Bahnhofmission arbeiten zwei Haupt- und knapp 50 Ehrenamtliche, um die Bedürftigen zu unterstützen. Und sehen dabei zunehmend unbekannte Gesichter: „Es sind ganz neue Leute aus der Mitte der Gesellschaft dazugekommen“, erzählt Christina Wittler, die stellvertretende Leiterin. „Viele unserer Gäste leben in Wohnungen.“

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Ihnen ergeht es wie Claudia Wischnewski: Sie haben zwar ein Dach über dem Kopf, leben aber trotzdem oft in prekären Situationen. In der Bahnhofmission fand Wischnewski Trost, wie sie erzählt: „Ich brauchte einfach Leute, die mir zuhörten.“

Braucht wer Hilfe? Christina und Jonas laufen eine Runde durch den Hauptbahnhof

Braucht wer Hilfe? Christina und Jonas laufen eine Runde durch den Hauptbahnhof © Schaper

An diesem Dienstagvormittag sitzt sie im Aufenthaltsraum, trinkt einen Kaffee. „Mir gefällt es richtig gut hier“, erzählt sie. „Aber mir tun die Obdachlosen da draußen leid.“ Immerhin hat sie auch eine gute Nachricht: Ihr Verlobter tauchte wieder auf. „Jetzt bin ich richtig glücklich“, verrät die Dortmunder, die in der Nordstadt lebt.

Dieses Prinzip wird hier großgeschrieben: Hilfe zur Selbsthilfe

Ein Tisch hinter Wischnewski sitzt im Aufenthaltsraum ein schweigsamer Mann. Er kommt aus Polen und spricht kein Deutsch. Sein Problem: Ohne eine Lohnarbeit, Sozialbezüge oder eine deutsche Staatsangehörigkeit erhält er nicht so einfach eine medizinische Versorgung. In der Bahnhofsmission halfen sie ihm dabei, über das Gast-Haus einen Arzt zu finden.

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Dieses Prinzip wird hier großgeschrieben: Hilfe zur Selbsthilfe. „Wir wollen die Leute hier nicht anbinden, sondern in das bestehende Sozialsystem integrieren“, erklärt Swetlana Berg, die Leiterin der Bahnhofmission. „Die Menschen müssen ihr Leben selbst organisieren.“

Am Mittag steht ein sechsköpfiges Team der Bahnhofsmission bereit

Am Mittag steht ein sechsköpfiges Team der Bahnhofsmission bereit © Schaper

Obwohl es am frühen Mittag rund um den Hauptbahnhof ruhig ist, registriert auch Berg vor Ort eine Zunahme der Armut. Gerade am Vorplatz seien es immer mehr Leute, die in Schlafsäcken übernachten. Es seien vor allem Menschen aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern, so Berg: „Denn diese Leute haben keinen Anspruch auf einen Wohnraum.“

Mit Corona ging es los – dann folgten die nächsten Krisen

Der Andrang begann mit der Pandemie vor zweieinhalb Jahren, wie sich Berg erinnert: „Durch Corona sind es komplett andere Leute geworden, die hier hinkommen – auch aus umliegenden Städten“, sagt sie.

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Und auch die folgenden Krisen haben sie an der Bahnhofmission bewältigt, wie Christina Wittler erwähnt: Als Anfang März der Ukrainekrieg 360.000 Ukrainer zur Flucht Richtung Deutschland zwang, leistete auch das Team der Bahnhofmission enorm viel Fürsorgearbeit für die Geflüchteten. „Auch das haben wir mit einer Kraftanstrengung überstanden“, sagt Wittler. „Aber ich bin hoffnungslos, was die kommende Krise angeht.“

Gerade an der U-Bahn-Station des Hauptbahnhofs suchen zunehmend Obdachlose Übernachtungsmöglichkeiten

Gerade an der U-Bahn-Station des Hauptbahnhofs suchen zunehmend Obdachlose Übernachtungsmöglichkeiten © Schaper

Denn die Inflation, vor allem die hohen Energiekosten, könnten sie bald auch in der Bahnhofsmission spüren: „Wenn es knackig kalt wird, ist unsere Einrichtung voll“, befürchtet Wittler. „Ich habe Angst vor dem Winter, die Armut wird uns stärker beschäftigen.“

„Diese Menschen können wir oft gar nicht mehr erreichen.“

Und zum Teil lässt sich eine Verelendung bereits am Vorplatz beobachten, den Wittler während ihrer Runde durch den Hauptbahnhof passiert. Denn gerade in der angrenzenden U-Bahnstation nehmen die Übernachtungen zu: „Die Menschen, die da unten schlafen, können wir oft gar nicht mehr erreichen.“

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Sie erwähnt einen Obdachlosen, der regelmäßig Essen in der Biotonne hinter dem Bahnhof sucht – obwohl er Verpflegung von der Mission bekäme. An Wittlers Seite läuft an diesem Mittag auch Jonas. Beide schauen, ob Hilfe benötigt wird und stehen mit Rat zur Seite.

Der 23-jährige Jonas ist erst seit dem Februar bei der Bahnhofmission tätig – für drei Stunden in der Woche. Er hat es nicht bereut, sich ehrenamtlich zu engagieren, wie er erklärt: „Ich schätze die Arbeit sehr, weil man den Menschen hier ganz praktisch helfen kann.“

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Und das lässt sich an diesem Mittag an Claudia Wischnewski erkennen, die ebenso auf dem Vorplatz steht. Endlich wieder neben ihrem Verlobten. Sie winkt. Und wirkt glücklich.

Die Bahnhofsmission sucht weiterhin Ehrenamtliche, die anpacken wollen. Neben Geldspenden benötigen sie vor allem Kaffee für die Menschen vor Ort.
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