Parkinson-Patienten in der Pandemie: Nadine Mattes kämpft für Digitalisierung

© Parkinson Youngster

Parkinson-Patienten in der Pandemie: Nadine Mattes kämpft für Digitalisierung

rnGlücks-Umfrage

Parkinson-Patienten wie Nadine Mattes hat der Lockdown hart getroffen. Digitale Angebote gibt es schon, insbesondere für die Selbsthilfe. Doch die Finanzierung ist schwierig.

Dorsten

, 22.02.2022, 05:30 Uhr / Lesedauer: 4 min

Chronisch kranke Menschen leiden besonders stark unter der Pandemie, das gilt insbesondere für jene mit der Diagnose Morbus Parkinson. Nadine Mattes, Dorstener Gründerin und erste Vorsitzende des Bundesverbandes „Parkinson Youngster“, ist gleich doppelt belastet - als Patientin wie auch als Aktivistin.

Die heute 40-Jährige erhielt mit nur 35 Jahren ihre Diagnose, ein Jahr später gründete sie ihre erste Selbsthilfegruppe in Dorsten, heute hat sie Mitstreiter in ganz Deutschland, betont aber, wie klein ihr Verein noch immer ist.

Finanzielle Unterstützung bekommt die Selbsthilfe normalerweise über die Gesetzliche Krankenkasse (GKV), deren Leitlinie Nadine Mattes primäres Online-Angebot zwar grundsätzlich fördern würde, aber immense Anforderungen an den Datenschutz stellt. Die nötige technische Ausrüstung und das Equipment müssen sie und ihre Mitarbeiter selbst finanzieren.

Digital sehr gut aufgestellt

Schon vor der Pandemie hatte sie viel auf digitale Angebote gesetzt, auch weil ländliche Regionen oft nicht gut mit entsprechenden Spezialisten versorgt sind. Parkinson-Patienten benötigen eine Vielzahl an Therapien, um die Erkrankung zu behandeln beziehungsweise Symptome zu lindern. Neben Ergo- und Physiotherapie gebe es auch Logotherapie und psychologische Beratung vor allem in der Anfangszeit, so Nadine Mattes. „Da kommen schnell vier bis fünf Termine in der Woche zusammen“, erzählt sie. Oft seien Wartelisten lang, Anfangswege weit. Termine beim Neurologen seien mitunter über ein halbes Jahr im Voraus ausgebucht. „Die Pandemie hat die Lage noch verschlimmert“, berichtet die Bundesvorsitzende.

Jetzt lesen

Ein Lösungsversuch könnten die sogenannten Digitalen Gesundheitsanwendungen, kurz DiGas, die von der Krankenkassen bezahlt werden, sein. „Viele Ärzte wissen aber noch gar nichts davon“, weiß Mattes. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, andere Patienten zu beraten, zu helfen und zu unterstützen. Aus Infektionsschutz laufen alle Treffen seit Beginn der Pandemie digital ab, zusätzlich gibt es 1:1-Coachings über Zoom. „Ich berate bis zu sieben Patienten am Tag“, erzählt die Frührentnerin. Für sie sei das ein Vollzeitjob, den sie komplett ehrenamtlich betreibe. Ihr Homeoffice sei nicht erstattungsfähig, sagen die Krankenkassen.

GKV-Richtlinien nicht nachvollziehbar

„Die Richtlinie der Krankenkasse macht eine Digitalisierung sehr schwer“, so Mattes und auch nicht nachvollziehbar: „Ich sehe keinen Sinn in zusätzlichen Ausgaben für eine dann auch nur teilweise erstattungsfähige Geschäftsstelle. Wir sind in allen Bundesländern aktiv und der Löwenanteil läuft sowieso online.“

Jetzt lesen

Eine Corona-Soforthilfe, wie andere Vereine, habe sie auch nicht bekommen. „Für Selbsthilfegruppen wäre ja die Krankenkasse zuständig“, erklärt sie die komplizierte Rechtslage. Sie fühlt sich allein gelassen. „Innovative Ideen werden nicht unterstützt“, beklagt sie die Ungerechtigkeit der Geldverteilung. Ihre Bemühungen seien immer wieder niedergeschmettert worden. „Ich sei ja noch neu und müsse mich erst beweisen“, nennt sie das Lieblingsargument ihrer Streitpartner.

„Ich habe nichts zu verlieren!“

Für Nadine Mattes, die sich nicht unterkriegen lässt, ist die Zeit des Schweigens längst vorbei. „Die Selbsthilfe muss dort hin, wo sie hingehört“, fordert sie. „Weg von Politik, Geld und Macht.“ Insbesondere die digitale Selbsthilfe biete so tolle Möglichkeiten. Ihre virtuellen Treffen würden sehr gut angenommen, sogar im Ausland schalte man sich regelmäßig zu. „Wir haben Teilnehmer aus Spanien, England oder Österreich“, freut sich Mattes. Das seien häufig Auswanderer, die in ihrer neuen Heimat kaum Unterstützung fänden.

Jetzt lesen

„Gerade kurz nach der Diagnose haben Betroffene unendlich viele Fragen“, weiß sie aus Erfahrung. Insbesondere in jungen Jahren, denn Parkinson ist keine reine Erkrankung des Alters. „Auch junge Leute erkranken“, stellt sie klar und verweist dabei auf den Namen ihres Vereins. Sie selbst habe erste Symptome schon als Teenager gezeigt.

Lutz Allhoff hat in der Pandemie ein Buch mit Kurzgeschichten geschrieben.

Lutz Allhoff hat in der Pandemie ein Buch mit Kurzgeschichten geschrieben. © Privat

„Viele Menschen bekommen die Diagnose, wenn sie noch voll im Arbeitsleben stehen und eine junge Familie zu versorgen haben“, ergänzt Lutz Allhoff. Da stellten sich nicht nur medizinische Fragen. Stattdessen gehe es um finanzielle Absicherung, rechtliche und soziale Aspekte. Der Mittfünfziger ist Gründungsmitglied von Parkinson Youngster, organisiert Team-Treffen und hat sogar ein Buch über seine Gefühls- und Gedankenwelt geschrieben. „Das Schreiben hat mir in der Pandemie sehr geholfen“, sagt er, dessen Sozialleben sehr unter den harten, aber zum Schutz nötigen Kontaktbeschränkungen gelitten hat. „Ich hatte Angst vor einem schweren Verlauf“, so der Buchautor, der sich deshalb auch so früh wie möglich hatte impfen lassen.

Selbstexperimente mit neuen Medikamenten

Für ihn hat Corona auch vieles erschwert. „Ich hatte seit Beginn der Pandemie keine Komplextherapie mehr“, sagt der Parkinsonexperte. Stattdessen habe er - wie auch Kollegin Nadine Mattes - auf die Selbsthilfe gesetzt. Seine Bewegungstherapien absolvierte er in Eigenregie über Online-Videos, stellte auch seine Medikamente weitestgehend selbst ein. Seit seiner Diagnose 2010 hat er viel gelesen, Fachvorträge gehört und seinen eigenen Körper kennen- und einschätzen gelernt. Vor der Pandemie hatte er auch immer wieder Veranstaltungen mit medizinischem Fachpersonal organisiert und sich so weitergebildet.

Auch Lutz Allhoff leidet unter den Kontaktbeschränkungen.

Auch Lutz Allhoff leidet unter den Kontaktbeschränkungen. © privat

Pragmatisch, aber nicht ideal, wie Mattes betont. Sie selbst hatte ihre letzte Komplextherapie, die der Medikamentenum- und Neueinstellung und der langfristigen Therapieplanung dient, wegen des ersten Lockdowns abbrechen müssen. Nur noch Akutpatienten sollten stationär behandelt werden. Ich wurde mittendrin allein gelassen“, sagt sie. Weil Termine bei Fachärzten nur noch telefonisch stattgefunden hatten, habe sie quasi experimentell die Wirkung der Medikamente ausprobieren müssen.

Jetzt lesen

Noch heute geht es der 40-jährigen Mutter einer Tochter physisch sehr schlecht. „Mein Körper ist am Ende“, sagt sie, die nach vielen Monaten Suche im März endlich die Behandlung bei einem neuen Neurologen beginnen kann. Viele Ärzte hätten sie abgelehnt mit dem Argument, keine Bundesvorsitzende behandeln zu wollen. „Es wäre mir lieber, wenn Sie woanders hingingen“, sei ihr nahegelegt worden.

Psychische Belastung ohne Fachausbildung

Hinzu kommt die psychische Belastung durch ihren Kampf mit Geldgebern sowie bösen Kommentaren und Anfeindungen, weil sie sich in der Not Hilfe bei einer Freikirche gesucht hatte. In Gruppensitzungen und Einzelgesprächen sei sie in der schweren Coronazeit immer wieder mit schweren Schicksalen und Selbstmordgedanken anderer konfrontiert worden. „Es ist schwer, damit umzugehen, ich habe keine Ausbildung dafür“, betont sie, die doch so gerne helfen wollte.

„Bei manchen hat alles Reden aber nicht geholfen“, erzählt sie traurig. Die Freikirche habe sie aufgefangen, weshalb sie das Angebot auf ihrer Website öffentlich gemacht habe - zum Missfallen ihrer Kritiker. „Mir ging es dabei nie um die Bekehrung zum Glauben“, stellt sie klar. Jeder müsse seinen Weg finden und gehen dürfen.


Sie will trotz aller Widrigkeiten weitermachen. „Ich bin eine Powerfrau und habe nichts zu verlieren“, so ihre Einstellung. Mehr denn je ist ihr Selbsthilfeverband auf Spenden angewiesen, weil in diesem Jahr womöglich gar keine öffentlichen Gelder fließen werden.

Jetzt lesen

Die GKV habe ihr ohne Erklärung die Frist zur Beantragung gekürzt und kaum Zeit gegeben, den Antrag ausreichend zu begründen, erklärt sie. Von Mitgliedsbeiträgen allein könne und solle sich ihr Verein aber nicht finanzieren. „Unser Angebot ist und bleibt kostenlos“, betont sie. Niemand müsse erst Mitglied werden, wenn er Hilfe suche. Grund dafür sei auch die oft schwierige finanzielle Lage insbesondere junger Parkinsonpatienten.

„Für mich war das nach dem Schock der Diagnose der zweite Weltuntergang“, blickt die Aktivistin zurück. Sie hätte sich damals einen Leitfaden gewünscht, was nun alles auf sie zukommen würde. Auch deshalb hat sie Parkinson Youngster initiiert. Für zukünftige Patienten gibt es nun Menschen wie sie und Kollege Lutz Allhoff, die ehrenamtlich beraten, anleiten und an die Hand nehmen - Betroffene wie Angehörige, denn Parkinson betrifft die gesamte Familie.

Jetzt lesen

Die Grafiken in dieser Geschichte beruhen auf unserer Umfrage „Zwei Jahre mit Corona – Mensch, wie glücklich bist Du?“ Insgesamt 4.574 Leserinnen und Leser haben im Dezember und Januar mitgemacht. Anspruch auf Repräsentativität erhebt die Befragung nicht, alle Fragebögen flossen in die Auswertung ein.

Jetzt lesen