Ein Jahr nach der Massenschlägerei von Castrop-Rauxel Wann beginnen die Gerichtsprozesse?

Ein Jahr nach Massenschlägerei: „Es gelingt nicht, in der Masse unterzutauchen“
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Es war der 15.06.2023, es war eigentlich Teil zwei der Auseinandersetzungen an der Wartburgstraße von Castrop-Rauxel. Aber erst bei diesem Teil des Streits kam es zu heftigen Bildern und in der Folge zu einem riesigen Polizeieinsatz. Es war einer der größten in Castrop-Rauxel überhaupt. Wenngleich es im Januar an der Lange Straße auch schon einen Riesen-Einsatz gab.

Ein Jahr später sagt NRW-Innenminister Herbert Reul auf Anfrage unserer Redaktion: „Im Anschluss an die Auseinandersetzung in Castrop-Rauxel haben die Ermittlerinnen und Ermittler 69 Personen identifiziert. Das ist herausragend und macht deutlich, dass es bei solchen Tumultlagen nicht gelingt, in der Masse unterzutauchen. Klar ist aber auch, dass es kriminelle Machenschaften von Clan-Mitgliedern weiterhin geben wird. Mit einer engen Vernetzung der Sicherheitsbehörden, Kontrollen und null Toleranz machen wir deutlich: Nicht mit uns!“

Der CDU-Minister brachte sich auch persönlich intensiv in dieses Thema ein. „Seine Politik der 1000 Nadelstiche“ gegen Kriminalität aus Großfamilien trägt er seit Jahren öffentlichkeitswirksam, aber auch intern klar vor sich her. So klar, wie in dieser Sache ermittelt wurde: Schon am Abend, als es zum Tumult kam, fuhren Hundertschaften vor, nahmen Personalien auf. Ermittler sichteten Material wie Fotos und Videos, nahmen Zeugenaussagen entgegen. Seither sind Aktenberge zu diesem Sachverhalt entstanden.

„Das Verfahren umfasst mehrere Umzugskartons an Akten“, bestätigt Carsten Dombert. Der Oberstaatsanwalt aus Dortmund hat dieses Thema nun auf dem Tisch und sagte am Freitag auf Anfrage: „Die sind sukzessive den verschiedenen Verteidigern zur Verfügung gestellt worden. Aufgrund des Verfahrensumfangs wurden längere Einlassungsfristen eingeräumt. Nach Verstreichen dieser Fristen und nach meiner Rückkehr aus dem Sommerurlaub werde ich den Vorgang sichten und dann eine Verfahrens-abschließende Verfügung treffen.“ Bei den Gerichten ist demnach noch nichts angekommen, wie eine Sprecherin des Amtsgerichts Castrop-Rauxel bestätigt.

Sieben Menschen verletzt, ein 23-Jähriger lebensgefährlich, unter anderem dieser Mann, der am Tag nach der Massenschlägerei schon wieder zu einem weiteren Familien-Treffen in Merklinde kam.
Sieben Menschen verletzt, ein 23-Jähriger lebensgefährlich, unter anderem dieser Mann, der am Tag nach der Massenschlägerei schon wieder zu einem weiteren Familien-Treffen in Merklinde kam. © J.K.

Rückblende: Am 13.6., einem Dienstag, kommt es zu handfestem Zoff im Treppenhaus und im Hinterhof eines Hauses an der Wartburgstraße. Ein Streit zwischen Kindern zweier Familien, die zur Tatzeit dort wohnten, eskalierte. Erwachsene Familienmitglieder prügeln aufeinander ein. Neun Personen werden leicht verletzt. Eine volljährige Tochter der syrischen Familie trug Verletzungen durch einen Besenstil davon.

Zwei Tage später: Ein Versöhnungsgespräch soll zwischen den Familien, einer syrischen und einer türkisch-libanesischen, stattfinden, um den Streit beizulegen. Doch es kommt ganz anders: Im Treppenhaus fliegen wieder Fäuste. Im Hinterhof geht es weiter, und dann verlagert sich das Ganze nach vorn auf die Wartburgstraße. Auf zwei nahe gelegenen Parkplätzen von Netto und K+K und am Straßenrand sind schon Dutzende Männer aus dem Kreis der syrischen und libanesischen Streitparteien aufgelaufen. Die Kennzeichen der zum Teil sehr sportlichen Autos zeigen: Sie sind zum Teil aus Essen, Duisburg und anderen Städten hergekommen.

Das Fass läuft über. Am Kreisverkehr und vor dem Mehrfamilienhaus kommt es zu Tumulten. Die Polizei steht da schon mit zwei oder drei Einsatzfahrzeugen quasi mittendrin. Anweisungen und Aufforderungen der Polizeibeamten werden vollständig ignoriert. Auch Polizisten werden verbal und wohl auch körperlich angegriffen. Gegenstände werden aus der Wohnung der syrischen Familie auf Personen auf der Straße geworfen.

Der Fahrer eines Autos auf dem Supermarkt-Parkplatz fährt auf Personen der syrischen Partei zu. Eine Person wird erfasst. Am Kreisverkehr kam es zu einer ähnlichen Szene. Jemand macht offensichtlich Jagd auf Syrer. Die meisten von ihnen können soeben ausweichen.

Krankenwagen und Rettungskräfte kümmerten sich um knapp zehn Verletzte, die an der Massenschlägerei im Juni 2023 beteiligt waren.
Krankenwagen und Rettungskräfte kümmerten sich um knapp zehn Verletzte, die an der Massenschlägerei im Juni 2023 beteiligt waren. © picture alliance/dpa

Ein Mann, der bereits zuvor an der Auseinandersetzung im Treppenhaus beteiligt war, wird von acht bis zehn Personen über die Straße Schwarzer Weg bis zur Einmündung Sofienstraße verfolgt. Sie schlagen mit Baseballschlägern und anderen Gegenständen auf den Mann ein. Er hat hinterher auch eine Stichwunde, stürzte an der Sofienstraße und wird am Boden liegend weiter geschlagen und getreten.

Es kommt mehr und mehr Polizei. Dadurch beruhigt sich die Lage. Die Einsatzkräfte kesseln eine Gruppe ein. Rettungskräfte versorgen Verletzte. Die Straße wird gesperrt. Ein Hubschrauber kreist in der Luft. Der Mann, der den Messerstich erlitt, muss notoperiert werden.

Am Abend danach treffen sich in Merklinde, ein paar Kilometer vom Tumult-Ort entfernt, libanesische Familienmitglieder. Die Polizei durchsucht Autos und nimmt Personalien auf. Es werden Stichwaffen gefunden. Einige Tage später wird in Altenessen ein syrisches Café überfallen. Es kommt zu einem ersten Schlichtungsgespräch in einer Moschee und noch ein paar Tage später zu einem „Friedensgipfel“ mit muslimischem „Friedensrichter“ in einem Duisburger Veranstaltungszentrum.

Eine Mordkommission „Wartburg“ wird aufgesetzt. Die Polizeipräsidentin zeigt sich schockiert ob der Dimensionen dieses Tumults. Bis zum Februar arbeiten die Kriminalkommissare fast schon forensisch an den Ermittlungen. Am 29. Februar gehen die Akten an die Staatsanwaltschaft Dortmund.

Das Thema wird lange heftig diskutiert, auch politisch. Es gibt offene Gesprächsrunden im Bahnhofsumfeld von Castrop-Rauxel, aber auch Ausschusssitzungen in Düsseldorf und Gespräche in Berlin.

Bald wird sich das Geschehen zu den Gerichten verlagern: „Nach dem Ausmaß eines Großteils der Taten, wie sie in den Medien berichtet wurden, gehen unsere Strafrichter davon aus, dass die Prozesse am Schöffengericht bzw. Landgericht Dortmund angeklagt werden“, sagte am Freitag Amtsgerichts-Direktorin Yvonne Schmuck-Schmiedel auf Anfrage unserer Redaktion. Es wird wohl Winter oder gar Frühling 2025 werden.

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