Edin Terzic ist seit 100 Tagen im Amt als Cheftrainer von Borussia Dortmund. Ohne Chef-Erfahrung musste er sich sofort mit allen sportlichen Lebenslagen auseinandersetzen. Eine Zwischenbilanz.
Seit 100 Tagen steht Edin Terzic (38) beim BVB in der Verantwortung: Vom Co-Trainer ohne jegliche Chef-Erfahrung zum schwarzgelben Frontmann in allen sportlichen Lebenslagen. Hat sich der Mut bei seiner Berufung ausgezahlt? Eine Zwischenbilanz:
100 Tage Cheftrainer von Borussia Dortmund: Plötzlich kannte ganz Europa Edin Terzic
Wie eine Atemwolke aus purem Adrenalin schwebte die Begeisterung für jedermann sichtbar aus seinem Mund. Die Hände zu Fäusten geballt, den Kopf in den Nacken geworfen, und raus mit der Freude. Edin Terzics Jubelschrei zeichnete sich weißgrau-glitzernd ab in der kalten Luft, er hallte von den steilen Rängen im Dortmunder Stadion zurück, dieses lang gezogene „Jaaaa“ setzte den Schlussstrich unter ein Fußballspiel mit einem fast wahnwitzigen Verlauf. Borussia Dortmund stand in diesem Moment, beim Schlusspfiff des Rückspiels gegen den FC Sevilla, im Viertelfinale der Champions League, das ist einer der größeren Erfolge in der jüngsten Klubgeschichte. Terzic hatte das bedeutendste Duell seiner noch kurzen Karriere als Cheftrainer gewonnen. Seit Mitte März kennt man den 38-jährigen Edin Terzic aus Menden in ganz Europa.
100 Tage steht Terzic jetzt bei Borussia Dortmund sportlich in der Verantwortung, angefühlt hätte sich das „eher wie zehn Tage“, sagt er. 20 Spiele sind im Zeitraffer an ihm vorbeigehuscht, Tausende Entscheidungen hat er getroffen. Als am 13. Dezember sein Chef und Vorgänger Lucien Favre von seinen Aufgaben freigestellt wurde, gingen die BVB-Bosse ein beachtliches Risiko ein. Diesen Co-Trainer ohne nennenswerte Erfahrung als Übungsleiter Nummer eins zu befördern, ihm in diesem krisengeprägten Spieljahr die Aufgabe zu erteilen, den wankelmütigen und weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibenden Kader fußballerisch und mental aufzuputschen, in der Bundesliga mindestens Platz vier zu erreichen und in den Pokalwettbewerben für Furore zu sorgen, das war so gewagt wie Vorhersagen über Reise- oder Impfregelungen in Coronazeiten.
Trotz Rückschlag: Unter Terzic hat sich beim BVB viel zum Guten gewendet
Die Entscheidung war geprägt von jenem Mut, mit dem Terzic sich inzwischen seine Sporen verdient hat und den er von seinen Spielern permanent einfordert. Er selber weiß, wie seine Vorgesetzten auch, dass längst nicht alles gut ist bei Borussia Dortmund. Das schlappe 2:2 in Köln, von der Körpersprache her ein enttäuschender Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten, ist ja gerade erst zwei Tage her. Doch viel hat sich zum Guten gewendet unter der Regie des Fußballromantikers Terzic.

Edin Terzic (l.) noch als Co-Trainer von Borussia Dortmund im Gespräch mit Ex-BVB-Coach Lucien Favre (r.). © imago images/Sven Simon
Balance und Geduld lauteten zuvor Stichworte für Borussias Fußball. Quälend lange hatten passable Ergebnisse im Herbst noch übertüncht, was im Umfeld der Borussia als Erkenntnis längst die Runde machte: Der BVB agierte zunehmend verunsichert, Favre forderte Stabilität und förderte Verwirrung. Auf dem Platz und den Spielfeldern daneben gerieten zwei Grundfesten der schwarzgelben Glaubensgemeinschaft ins Wanken: die Identität des Spiels und die Identifikation mit der Mannschaft.
BVB-Coach Edin Terzic: Der loyale Zuarbeiter mit der Faust in der Tasche
Terzic, lange ein loyaler Zuarbeiter mit der Faust in der Tasche, veränderte von Tag eins an die Ansprache und das Vokabular, er rückte für alle offensichtlich von der Fokussierung auf die Gegner ab und redete lieber seine eigenen Spieler stark. „Edin gibt dir das Vertrauen, dass die Dinge funktionieren werden“, erlaubte Routinier Axel Witsel (32) einen Blick in die Beziehungsarbeit und das Innenleben der Mannschaft.
Nun wäre es der Ehre zu viel, die komplizierten Anfangswochen unter Terzic zu verschweigen. Ein 1:2 bei Union Berlin saugte die Luft aus dem Neuanfang, extrem wechselhafte Auftritte mit brillanten Phasen (Wolfsburg, Leipzig) und strukturlosen Schwächeperioden (Leverkusen, Gladbach) kosteten im ersten Monat Kraft und Zuversicht, ernüchternde Resultate (Freiburg, Hoffenheim) warfen den BVB in der Bundesliga zeitweise auf Platz sieben zurück. Die Umstellungen fruchteten nur sporadisch, es fehlte die Konstanz und vor allem fehlten Ergebnisse und Punkte. Schwarzgelb in Alarmstimmung!
Edin Terzic tauscht sich regelmäßig mit BVB-Abwehrchef Mats Hummels aus
Terzic holte sich immer wieder Rat. Von seinen Kollegen im Trainerteam, von den Vorgesetzten. Mit BVB-Abwehrchef Mats Hummels tauscht er sich regelmäßig aus, auch mit Ober-Einflüsterer Matthias Sammer steht er im Kontakt. „Er ist Teil des Vereins. Es wäre albern von mir, wenn ich nicht versuche, mir Ratschläge einzuholen, mir dann aber auch meine eigene Meinung bilde“, erklärte Terzic.
Den Blick der Experten von außen nutzt und schätzt er. Auch Slaven Bilic, seinem Förderer aus gemeinsamen Zeiten bei Besiktas Istanbul (2013 bis 2015) und West Ham United (2015 bis 2017), hört er genau zu. Bilic sagt über Terzic: „Ich schätze seine Fähigkeiten sehr, ich weiß, wozu er in der Lage ist. Ich bin mir sehr sicher, er wird das nächste große Ding im Trainergeschäft.“
Terzic genießt beim BVB von Beginn an großes Vertrauen
An Lob und Vertrauensvorschuss mangelte es von Beginn an nicht. Terzic blieb trotz der Rückschläge bei seinem eingeschlagenen Weg, kümmerte sich, eines seiner Leitmotive, nicht um Probleme, sondern um Lösungen. Die oberste Priorität setzte er, es klingt so simpel, beim Training an, wo er die Intensität in den Übungseinheiten, die einen eher kuscheligen Charakter angenommen hatte, scharf nach oben korrigierte. Taktik, Tempoarbeit und kleine Turnierformen zählen dazu.

Edin Terzic als Chefcoach bei einer Trainingseinheit des BVB. © imago images/Kirchner-Media
Eine Szene in einer Einheit Mitte Februar sprach Bände, als drei Teams bei einem Kleinfeld-Wettstreit gegeneinander antreten und der nicht als Streber bekannte Raphael Guerreiro in fast aussichtsloser Situation eine Grätsche gegen Mats Hummels ansetzte. Das brachte dem Portugiesen zwar einen geharnischten Rüffel vom Weltmeister ein, stand aber bildlich für die verbesserte Arbeitsmoral auf dem Übungsplatz, der genau als solcher dienen soll. Man müsse sich „die Dinge im Training erarbeiten“, die man in den Spielen zeigen wolle, sagt Terzic. Ein wenig glamouröser Satz, doch er hat es mit Empathie und Überzeugungsarbeit geschafft, die Mannschaft auf seine Seite zu ziehen. Er hat schwächelnde Spieler wieder in die Spur bekommen mit Streichel- und Fitnesseinheiten bei Jadon Sancho, mit Geduld und Motivationskünsten bei Nico Schulz, mit taktischer Nachhilfe im Defensivverhalten bei Mateu Morey.
Edin Terzic: Der freundliche BVB-Coach mit dem harten Kern
Wer den freundlichen, jugendlichen und hemdsärmeligen Chefcoach mit Baseball-Kappe ausschließlich als einen zugewandten Spielerversteher interpretiert, der irrt. Mahmoud Dahoud etwa flog wegen einer Disziplinlosigkeit für zwei Spiele aus dem Kader, ehe er sich mit guten Trainingsleistungen aufdrängte und nun beim BVB wichtiger ist als je zuvor. Auch der langjährige Stammtorhüter Roman Bürki wird ob seiner Degradierung zur Nummer zwei – eine Entscheidung, die Terzic mit vorantrieb – nicht vor Dankbarkeit auf die Knie gefallen sein. Der Trainer hat ein Ohr für die Spieler, die Spieler bekommen von ihm unmissverständlich zu hören, was er sehen will. Wer dann nicht liefert, ist eben selber schuld.
Nachhaltigen Schub bekamen der Trainer und sein Team in den ersten 45 Minuten der Partie in Sevilla. Früh gerieten die Borussen in Rückstand, doch die taktischen Vorgaben fruchteten, 3:1 zur Pause, begeisternder BVB-Fußball. „Unser Trainer hatte einen guten Plan“, sagte Torjäger Erling Haaland. „Wir haben an Intensität zugelegt“, lobte Sportdirektor Michael Zorc, er stellte auch in den Achterbahn-Wochen fest: „Die Chemie zwischen Mannschaft und Trainer stimmt.“
Edin Terzic pflegt einen aggressiveren Spielstil beim BVB
Der aggressivere Stil bei der Arbeit gegen den Ball und das schnellere Spiel in die Spitze mag fußball-ästhetisch in Konkurrenz stehen zum ballbesitzorientierten Ansatz von Favre, der Übergang mag nach monotonen Monaten holprig und überfordernd gewesen sein. Doch mittlerweile verkörpert der BVB immer öfter wieder jene Malocher-Mentalität und den Ansatz von Heavy-Metal-Fußball, der Terzic, ehemaliger Student der Ruhr-Uni Bochum und von 2010 bis 2013 als Scout und Co-Trainer beim BVB-Nachwuchs, imponierte und prägte, als ein gewisser Jürgen Klopp die Schwarzgelben zu ungeahnten Leistungen trieb.
„Jürgen hat nicht nur Borussia Dortmund geprägt, sondern auch alle Mitarbeiter. Ich bin glücklich, dass ich das aus der Nähe miterleben durfte“, sagte Terzic. „Ich wurde aber genauso geprägt von anderen Trainerkollegen wie Hannes Wolf, Slaven Bilic und zuletzt Lucien Favre, von denen ich lernen durfte.“
Der BVB unter Chefcoach Edin Terzic: Plötzlich wieder Vollgas in Dortmund
Vor allem mit dem Vollgas-Etikett können sich die Fans der Borussia, zu denen sich der Chefcoach selber zählte und zählt, sehr gut anfreunden. Der Trend im internationalen Fußball geht unaufhörlich weiter in Richtung einer wuchtigen, hochtourigen und intensiven Spielart. Ohne damit Favre in ein schlechtes Licht rücken zu wollen, sagte Witsel über den neuen Betriebsleiter: „Seine bevorzugte Art des Fußballs ist vielleicht ein Stück moderner angelegt.“ Terzic will Kampf und Kunst wieder zusammenführen, die zuletzt murrenden Fans für die Mannschaft neu begeistern – und umgekehrt. Als einer von ihnen. Als Ballspielvereiner. Dass er von vielen Leuten hört, sie könnten sich wieder mehr mit dem BVB identifizieren, das macht ihn „stolz“.
Derbysieg, Viertelfinale in der Champions League, Halbfinale im DFB-Pokal, das sind sehr vorzeigbare Zwischenzeugnisse unter schwierigen Begleitumständen. Die BVB-Elf hat nicht mit überbordendem Eigenantrieb für sich geworben, die 80.000 Einpeitscher fehlen wegen der Corona-Pandemie wohl weiter. Es braucht zusätzliche Motivationsfaktoren wie das ausgegebene Motto „Kämpfen und siegen“ und Zielvorgaben.
Terzic sieht sich als Unterstützer der BVB-Profis
Seine eigene Rolle in diesem ganzen Zirkus will Terzic nicht überbewerten, da bildet er, mit 38 Jahren ein Vertreter der jungen Trainergarde, einen Gegenpol zu anderen Chefs. Fußball sei immer noch „ein Spieler-Spiel und kein Trainer-Spiel“, er selber sieht sich eher als Dienstleister und Unterstützer seiner „Jungs“. Er will anstiften, positiv zu denken und nach vorne zu schauen. Bei manchen verfängt das stark, bei anderen weniger.

Harte Aufgabe: Edin Terzic ist seit 100 Tagen als BVB-Cheftrainer im Amt. © picture alliance/dpa/dpa-Pool
Fast schelmisch zählt Terzic die wechselnden Bezeichnungen auf, die er in der Öffentlichkeit zu seinem Namen dazugestellt bekommen hat. In 100 Tagen habe er gleich vier Rollen übernommen, erst sei er Co-Trainer gewesen, dann Cheftrainer, schließlich Interimstrainer und wieder der zukünftige Co-Trainer. Dass sich der BVB um Marco Rose als Coach ab dem kommenden Sommer bemühte, wird er gewusst haben, die frühe öffentliche Bestätigung hat Rose mehr beschädigt als ihn.
Edin Terzic wäre auch als Co-Trainer beim BVB glücklich
Auf die außergewöhnliche Konstellation angesprochen sagt Terzic, er sei ja zehn Jahre lang als Co-Trainer glücklich gewesen – er sehe keinen Grund, warum das vom Sommer an anders sein sollte. Mit Glück und Geschick kann er als DFB-Pokalsieger („Ich will noch was gewinnen“) und Tabellenvierter die Mannschaft übergeben. Dann wäre er ein Held. Gelingt das nicht, wird‘s ein stiller Schritt zurück ins zweite Glied. Vorerst. Denn wenn man die Geduld bewahrt, wird man diese Zeit bis zum 30. Juni 2021, dann sind es kurioserweise exakt 200 Tage als Cheftrainer, in einigen Jahren als die erste Amtszeit von Terzic beim BVB bezeichnen, der eine zweite, längere folgen soll.
An mangelndem Ehrgeiz wird der Noch-Novize in seiner zukünftigen Laufbahn wohl nicht scheitern. 90 Minuten nach dem Triumph gegen den FC Sevilla zog Terzic nach einem Interview-Marathon und einem Siegerschlückchen einen kleinen Rollkoffer hinter sich her, als er sichtlich euphorisch den kurzen Weg vom Kabinentrakt bis zu seinem Auto spazierte. Wo er denn mit dem Koffer hinwolle? Terzics schlagfertige Antwort: „Ins Viertelfinale.“
Schon als Kind wollte ich Sportreporter werden. Aus den Stadien dieser Welt zu berichten, ist ein Traumberuf. Und manchmal auch ein echt harter Job. Seit 2007 arbeite ich bei den Ruhr Nachrichten, seit 2012 berichte ich vor allem über den BVB. Studiert habe ich Sportwissenschaft. Mein größter sportlicher Erfolg: Ironman. Meine größte Schwäche: Chips.
