So sieht die Lage der Selmer Flüchtlingshelfer aus
Integrationsgipfel
Rund 100 Menschen engagieren sich ehrenamtlich in der Integrations- und Flüchtlingsarbeit in Selm. Wir warfen jetzt mit den Verantwortlichen einen Blick zurück auf Geschafftes und einen nach vorn auf die Herausforderungen. Und klärten die Frage: Wie oft ist man als Ehrenamtlicher hier vor Ort eigentlich mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert?
Wir haben uns im Otantik an der Hauptstraße in Bork getroffen: Das ist die Zentrale der Schicksalshelfer, eine der vier Gruppierungen, die sich um die Integration der Ehrenamtlichen in Selm, Bork und Cappenberg kümmern. Die Ruhr Nachrichten haben Holger Langer von Hand-in-Hand aus Cappenberg, Monika Heitmann vom Arbeitskreis Asyl Bork, Anja Palmer vom Schicksalshelfer e.V. und Holger Boecker vom Arbeitskreis Asyl Selm als Sprecher ihrer Gruppierungen zu Gast. Sie hatten eingeladen zum Integrationsgipfel – etwa ein Jahr, nachdem sich die Flüchtlingshelfergruppen gegründet haben.
Wie schätzen Sie die Situation vor Ort zurzeit für sich ein? Wo liegen die Hauptaufgaben für die Integrationshelfer?
Langer: Wir wollen die Leute in die Gemeinschaft des Dorfes Cappenberg integrieren und das Dorf mitnehmen zu den Flüchtlingen. Wir machen mehrere Versuche. Das Flüchtlingscafé an unterschiedlichen Orten, im Winter im Bischof-Vieter-Haus mitten im Dorf, im Sommer vor dem Flüchtlingsheim, damit für sie der Weg kürzer ist – dafür haben wir dort weniger Menschen aus dem Dorf. Das Café ist wichtig, um Kontakte zu machen. Der nächste Integrationsschritt ist wegen der Nähe zum Sportplatz des GSC der Fußball. Der Verein stellt uns einige Stunden in der Woche den Platz zur Verfügung. Dort können die Leute Fußball spielen, aber mit Trainer und Leuten aus dem Dorf.Also Integration aus zwei Richtungen: einmal aus Sicht derer, die neu hierher kommen, aber auch aus der Sicht der Cappenberger, die sich mit den Neuen beschäftigen sollen. Ist das in Bork ähnlich, Frau Heitmann, eine zweiseitige Geschichte?
Heitmann: Teilweise. Wir haben das Café international wie in Cappenberg, alle zwei Wochen, zu dem deutsche und ausländische Mitbürger kommen. Schwerpunkt bei uns ist die persönliche Begleitung. Ämtergänge, Arztbesuche, Anmeldungen an der Schule, Kindergarten, die Spielgruppe Luftikus, die wir gegründet haben für diejenigen, die keinen Kitaplatz bekommen haben - das ist eine tolle Geschichte geworden. Unser Kleiderladen ist Dreh- und Angelpunkt ist für Flüchtlinge, die in Bork fest zugewiesen sind.
Würden Sie beide sagen, dass die Integration in den beiden Ortsteilen schon vorangeschritten ist? Gibt es Kontakt zu Poahlbürgern, oder beschränkt sich das auf den Helferkreis?
Langer: Es ist schon noch beschränkt, aber bei den Veranstaltungen gibt es keine Ausgrenzung mehr. Am Weihnachtsmarkt und an der Fronleichnamsprozession haben Flüchtlinge teilgenommen, sie werden Willkommen geheißen. Aber es gibt Berührungsängste: Nicht jeder geht gleich aktiv auf die neuen Mitbürger zu.
Heitmann: Das ist ähnlich in Bork. Aber es gibt Ansätze beim PSV, wo Jugendliche Fußballspielen gehen. Es gab den Borker Sonntag im letzten Jahr mit unserem Stand, wo wir reichlich Zulauf hatten. Es geht aber um Kontakte auf der Straße, im Edeka, dass man sich wahrnimmt, sich kennt, sich grüßt. Das kommt schon vor, auch wenn es nicht die Masse ist.
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PSV Bork und Notunterkunfts-Auswahl spielen 2:2 in Freundschaft
1:0 für die Völkerverständigung: Der PSV Bork 45 und eine Mannschaft der Notunterkunfts-Zeltstadt am LAFP trennten sich am Dienstagabend in einem Freundschaftsspiel vor fast 100 Zuschauern 2:2. Das Spiel war ein tolles Zeichen dafür, wie man die Nachbarschaft positiv gestalten kann. In der Notunterkunft leben seit einigen Wochen mehr als 500 Menschen aus aller Welt relativ fest. Darunter sind viele junge Männer aus Afrika und dem Nahen Osten, die nun eine Auswahl-Fußballmannschaft auf die Beine gestellt haben.
Sie, Frau Heitmann, haben Ihren Kleiderladen am Markt, heute sind wir an der Hauptstraße: beides mitten im Dorf. Frau Palmer, wie fühlen sich die Flüchtlinge hier? Sind sie integriert oder kommen sie sich vor, als seien sie von einem anderen Planeten?
Palmer: Das kommt darauf an, wie lange sie hier sind. Einige kennen sich schon aus. Aber es gibt auch die in der Zeltstadt, die sich sicher vorkommen wie auf einem fremden Planeten. Wir versuchen hier im Otantik eine Schnittstelle zu sein zu den Angeboten, die wir machen. Wir sind immer als Betreiber der Kleiderkammer wahrgenommen worden. Das ist aber natürlich nicht so. Integration findet über Sprache statt – das ist bei uns ein Schwerpunkt durch die ehrenamtliche Arbeit von Erdal Macit und Kollegen.
Auf der anderen Seite steht für uns als Schwerpunkt die Versorgung mit den Dingen des alltäglichen Lebens. Hier entstehen Kontakte und wir bekommen im Gespräch mit, was die Leute brauchen. Es geht um Formulare, Termine, Ansprechpartner in Behörden. Das Level der Integration ist unterschiedlich. Da kommt es auch auf die Bereitschaft der Einzelnen an. Und es hängst vom Status des Asylantrags ab. Wenn die Leute wissen, ich kann sowieso nicht bleiben, ist die Bereitschaft geringer, sich zu integrieren, Deutsch zu lernen. Sie ist aber grundsätzlich hoch. Das unterstützen wir und klopfen den individuellen Bedarf ab. Leute, die studieren wollen, die ihre Familie nachholen wollen, die anwaltliche Hilfe brauchen.
In Selm ist der Arbeitskreis Asyl aktiv. Vieles dreht sich da um die Unterkunft an der Körnerstraße. Aber das ist vielleicht auch nicht alles. Wo sehen Sie Schwerpunkte, Herr Boecker?
Boecker: Die Zahl der Bewohner in der Körnerstraße ist abnehmend. Das Gedränge ist nicht mehr so groß. Schwerpunkt ist die Wohnungssuche und -ausstattung und das Ansinnen, die Leute in den Ort zu bringen. Wohnungssuche ist schwierig, aber wir haben einen Pool an passiven Gönnern, die Wohnraum zur Verfügung stellen und Leute aufnehmen. Zweiter Schwerpunkt ist die Vorbereitung des Stadtfestes mit dem Fest der Kulturen. Darüber haben sich Kontakte mit den Pfadfindern ergeben. Ein junger eritreischer Mann hat eine Wohnung gefunden, ist eingezogen, stellte sich bei den Nachbarn vor und traf dann auf eine Frau, die sagte: Ach, ich kenne dich, du warst beim Pfadi-Treffen! Über solche Sachen wollen wir sie ins Dorf und in die Stadt bringen.
Wie gelingt Ihnen das?
Boecker: Die Sprache ist eine Barriere. Je besser sie ist, desto größer der Drang, in die Gesellschaft zu kommen – je schwächer, desto größer die Distanz. Da ist das Aufeinanderzugehen schwierig, denn da sind wir außerhalb des Gebäudes an der Körnerstraße dann die einzigen Ansprechpartner. Warum ist das so? Alle sehen doch ein, auch die Politik, dass Sprache das Zentrale ist...
Palmer: Fasi, Arabisch, Kurdisch, wenn es gut läuft Französisch, Englisch – die Leute kommen aus anderen Kulturkreisen. Wir als Helfer stoßen an unsere Grenzen. Arabisch zu lernen ist wahnsinnig schwierig. Nur über Gestik, Mimik und Piktogramme kann man nicht kommunizieren. Die Leute müssen Deutsch lernen. Sonst kann man ihnen auch nicht unsere Kultur näher bringen. Warum gehen wir in die Kirche? Was essen wir? Warum tun wir dies und das? Das kann man nur erzählen. Wir kennen deren Kultur genauso wenig wie sie unsere. Jeder, der im Ausland mal versucht, Englisch zu sprechen, der kennt das, wenn man von anderen Leuten belächelt wird. Darüber muss man hinweg kommen.
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Wie Schicksalshelfer Flüchtlingen Deutschunterricht geben
Die Schicksalshelfer geben pro Woche 15 Stunden Sprachunterricht für Asylbewerber und Flüchtlinge in Bork und Selm. Zwei Lehrer arbeiten ehrenamtlich in ihrer Freizeit mit den Menschen, die zum Teil nicht einmal die lateinische Schrift beherrschen. Wir haben eine Unterrichtsstunde begleitet und mit Udo Herrmann und Erdal Macit darüber gesprochen.
Boecker: Unsere Erfahrung ist, dass die vielfältigsten Traumata dazu führen, dass es konzentrative und motivationale Probleme im Sprachkurs gibt. Es gibt das Angebot, er wird auch wahrgenommen, aber die Konzentration kann nicht so fokussiert werden auf das Lernen, weil unheimlich viel anderes verarbeitet werden muss – und das wiederum bedarf der Sprache, um an den Kern des Problems zu kommen. Heitmann: Hinzu kommt, dass jeder Mensch unterschiedlich begabt ist. Dem einen fällt es leicht, der andere tut sich schwer: Ich habe das bei einer Frau erlebt, die schon länger hier wohnt. Seitdem wir engeren Kontakt haben, wird es besser. Das kommt hinzu: Wenn ich keinen Kontakt zu Deutschen habe, dann lerne ich die Sprache auch nicht.
Palmer: Viele Menschen sind auch nicht alphabetisiert: Die kennen unsere Schrift nicht. Man muss sie alphabetisieren und dann anfangen, in Schrift und mündlich die Sprache zu vermitteln. Es dauert wesentlich länger, wenn man beibringen muss, wie man schreibt. Da gibt es auch zu wenig öffentliche Angebote.
Wie ist das mit der Motivation ihrer zusammengerechnet rund 100 aktiven Helfer? Die arbeiten seit einiger Zeit, vermutlich die meisten seit Sommer 2015, mit. Wie schaffen Sie es, sie zu motivieren?
Heitmann: Über Beziehung läuft viel: Da kommt es vor, dass man sich in den Arm nimmt, man freut sich, wenn sie etwas erreichen, wir erleben, wie die Kinder groß werden. Wir haben von November bis Januar fünf Geburten gehabt. Das bringt zusammen, und über die Beziehung bekommen wir Anerkennung. Viele Leute aus unserem Kreis leben genau dafür. Die sagen: Das gibt mir so viel, das kann man mit Geld nicht aufwiegen. Es gibt Zeiten, da ist es schwer auszuhalten, zum Beispiel, wenn eine Familie mit zwei Kindern zurück in die Heimat muss. Dann sitzen wir im Arbeitskreis zusammen, sind erst einmal eine Runde enttäuscht, traurig. Darum ist es so wichtig, dass wir Helfer uns regelmäßig treffen, damit wir über die Begegnungen mit den Menschen sprechen. Es geht bei unseren zweiwöchigen Arbeitskreis-Treffen nicht nur immer darum, zu organisieren.
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Der Flüchtlingsweg von Bashir S.
Bashir S. flüchtete aus Nord-Syrien nach Deutschland und landete im Flüchtlingsheim an der Körnerstraße in Selm. Auf den Fotos sind Stationen von Bashirs Flucht zu sehen.
Sie haben die Enttäuschung und Traurigkeit angesprochen. Ist es gerade dann nicht schwer, wieder Kontakt zu neuen Menschen aufzunehmen, die bald vielleicht schon wieder weg sind?
Heitmann: Es sind nicht nur wir traurig, sondern auch die Flüchtlinge, die miterleben, dass die anderen nächste Woche gehen müssen. Da fragen sich alle: Was machen wir zum Abschied? Geben wir ihnen Fotos oder etwas anderes mit? Da passiert ganz viel an Emotionen. Das bringt uns noch mehr zusammen, wenn wir sagen: Da müssen wir gemeinsam durch. Wir können es nicht ändern.Verzweifelt man denn nicht manchmal? Vieles wird doch auch als ungerecht wahrgenommen.
Palmer: Natürlich. Wir haben uns gegründet, als die Flüchtlingswelle kam. Viele sind nicht mehr dabei, die sich anfangs von der Welle haben tragen lassen, dann aber gemerkt haben, dass Ehrenamt nicht nur immer Spaß macht. Dass man Freizeit abgibt, das Haus nicht geputzt ist, die Kinder fragen: Wann gibt es was zu essen? Aber man sieht, dass der harte Kern, der jetzt noch dabei ist, es aus anderen Gründen macht als Wertschätzung oder „Wir retten jeden“-Mentalität – wir wissen ja, dass das nicht geht. Man hat die Schicksale vor Augen, kennt die Menschen, spielt mit den Kindern, weiß, woher die Leute kommen, dass sie zum Teil mit Minus zurück müssen, dass sichere Herkunftsländer oft keine sicheren Herkunftsländer sind.
Man muss lernen, das zu akzeptieren. Aber man tut immer alles, um denjenigen zu helfen. Und wenn es bedeutet, dass man den Leuten schöne Erinnerungen und die eigene Handynummer mitgibt. Im besten Falle schafft man es, dass der Junge der Familie noch das Schuljahr zu Ende machen kann. Dass man guckt, was sie zu Hause brauchen – einen Herd zum Beispiel oder Dinge, die sie sich dort nicht leisten können. Man muss lernen, Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann. Aber verzweifelt ist man manchmal schon – und geweint wird auch bei uns. Wenn man aber diese Emotion nicht hereinbringt, dann hat man den Kontakt zu den Leuten auch nicht gehabt.Wie oft sind Sie mit Leuten konfrontiert, die sagen: Wir können keine Flüchtlinge aufnehmen. Die müssen alle wieder weg. Ausländer raus. Ist man dagegen als Helfer gefeiert?
Palmer: Man bezieht dann Stellung dagegen.
Langer: Bei uns ist das kein großes Problem. Es gibt einzelne Stimmen, die dieser Meinung sind, keine Frage. Aber die treten wenig öffentlich damit auf, also nicht dort, wo sie Widerstand befürchten müssten.
Heitmann: Ich erlebe eher, dass mich Leute fragen: Wie läuft es? Was macht ihr denn? Ich erlebe, dass die Leute erstaunt sind.
Boecker: Ich persönlich habe das nicht erlebt, aber auf der Bürgerversammlung letztens fand ich die Ablehnung schon laut. Das hat mich massiv gestört in meinem Wohlbefinden. Die Nachbarschaft der Pestalozzischule hat sich massiv dagegen gestellt. Argumente sind befürchteter Verlust von Grundstückswert, Angst vor Kriminalität...
Palmer: ... was widerlegt ist, wenn man sich die Statistik ansieht. In Bork ist es nicht offen so, dass man angefeindet wird, aber im „Social Web“ ist das schon so: Da äußern sich Leute krähend, dass wir das alles nicht brauchen. Wir werden als Terrornest bezeichnet, so grandiose Sachen. Aber die Leute sind meist nicht mutig genug, uns selbst zu kontaktieren. Man bekommt schon mal auf Facebook eine Nachricht von einem Fake-Account, in der man bepöbelt wird. Aber das kann man löschen und fertig. Ich habe schon erlebt, dass mir jemand sagte: Mein Kind ist in der Schule von einem Asylantenkind verprügelt worden. Woraufhin ich sagte: Wenn es ein Kind vom deutschen Bauernhof gewesen wäre, hättest du es nicht als Bauernhofkind beschimpft.
Da sollte man vorsichtig sein mit der Wortwahl. Die Frau hat sich dann auch entschuldigt. Die Stimmung ist aber anders geworden: Wo früher Multikulti gelebt wurde und es oberflächlich friedlich vonstatten ging, ist es durch die Verwerfungen dieser Flüchtlingskrise nicht mehr so. Die Leute, die sich vorher niemals geäußert hätten, fühlen sich nun in guter Gesellschaft und lassen vom Stapel. Jetzt hatte Bork die Riesenaufgabe mit der Notunterkunft im Sommer 2015 vor der Brust. Man wusste nicht, wie es sich verhalten wird. Dann war die Unterkunft schnell voll, dann kam der schnelle Wechsel und die kurze Aufenthaltsdauer. Jetzt steht für Selm auf der Agenda, Platz für 200 Menschen am Pädagogenweg zu finden.
Kann der Arbeitskreis Selm mit seinen 20 zum harten Kern zählenden Aktiven diese Aufgabe schaffen? Was sehen Sie auf sich zukommen?
Boecker: Wir haben darüber nachgegrübelt. Wenn das auf Selm zukommt, kann es von unserem kleinen Kreis nicht getragen werden. Zumindest etwas professionell koordinatives muss stattfinden, wo grundlegende Dinge zusammenlaufen. Ist es denn sinnvoll, so viele Leute auf engem Raum in einer Unterkunft unterzubringen, oder wäre es besser, die zu verteilen?
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So sieht es in der Flüchtlings-Erstaufnahme bei Seppenrade aus
Im Keller arbeiten die Handwerker unter Hochdruck an den Abflussleitungen für die Waschmaschinen, draußen reichen freundliche DRK-Helfer den ersten 50 Flüchtlingen erst einmal einen mit Wasser gefüllten Becher. Seit gestern Nachmittag ist die Erstaufnahme-Einrichtung am Ortsrand von Seppenrade in Betrieb. Die zweite, die das Rote Kreuz gestern im Kreis in Betrieb genommen hat.
Palmer: Dezentrale Unterbringung ist für Integration aus meiner Sicht von Vorteil, denn man hat die Leute dann direkt in den Orten, bei den Nachbarn. Die Kinder spielen dann eher miteinander. Man hat nicht so den Blick von außen, die Ghettoisierung, die in den Köpfen stattfindet. Aber auf der anderen Seite muss man auch sehen: Wie will man 200 Menschen in verschiedenen Unterkünften betreuen? Man muss dann wie ein Pflegedienst von Adresse zu Adresse fahren und den Bedarf abklopfen. Das ist schwierig. Man muss versuchen, das zu kombinieren – und da ist die Politik gefragt. Wobei die Selmer Politik und Verwaltung unserem Verein gegenüber immer extrem kooperativ waren. Wenn man klar äußert, was man kann und was man nicht in der Lage ist zu schaffen, dann sagen sie: Wir versuchen zu ergänzen. Nach meinem Empfinden ist man dort sehr froh, dass das Ehrenamt hier so aktiv ist.
Boecker: Die können auf die Erfahrung der Ehrenamtlichen zurückgreifen. Aus dieser Erfahrung heraus müssen Anforderungen an die Politik weitergegeben werden.Zurück zur Unterbringung: Wir haben uns mit den Leuten in der Körnerstraße darüber unterhalten. Sie äußern immer wieder, dass sie froh sind, da zu leben. Dass sie Freunde haben in Großeinrichtungen in Berlin zum Beispiel, die sich sehr verlassen fühlen, weil sie gar keine Ansprechpartner haben. Hier wissen sie, dass es da den Hans vom Arbeitskreis Asyl gibt, dass jemand mit ihnen zur Arbeitsagentur geht. Ein Vorteil kleiner Einrichtungen. Wie sind Ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung?
Heitmann: Super. Aber ich glaube auch, dass wir der Verwaltung eine Menge Arbeit abnehmen. Dinge, die wir gerne tun, klar, aber wo ich auch manchmal denke: Das ist jetzt nicht mehr unser Part. Es gibt Situationen, wo wir sagen: Halt, da muss die Verwaltung was tun oder was verändern.
Palmer: Wobei die Strukturen dafür nicht da sind. Man hat gesehen, wie 2015 viele Behörden überfordert waren. Die sind schwerfällig. Ehrenamtler waren schnell da und haben gezeigt, wie man das machen könnte. In Kooperation ist dann wünschenswert, dass die Stadt sagt, wenn Gelder für irgendetwas da sind. Allein könnte die Verwaltung das nicht schaffen. Wir klopfen den Bedarf ab, weil wir Kontakt zu den Leuten haben. Die Verwaltung ist Entscheider, vielleicht auch Geldgeber, hat Kontakt zu Land und Bund, kennt Fördertöpfe. Wenn das Hand in Hand läuft, kann man das Optimale herausholen.
Langer: Wir haben eine Sondersituation mit dem kleinen Wohnheim mit 70 Plätzen und wenig Familien. Wir haben nun zum Glück eine zweite Familie bekommen, der Rest sind alleinstehende Männer bis 30 Jahre. Wir brauchen dadurch eine andere Infrastruktur: Die Unterkunft liegt am Dorfrand, es gibt keinen Gemeinschaftsraum. Darauf weisen wir die Verwaltung lange hin und schaffen es jetzt gemeinsam, einen Raum dafür zu schaffen. Es gibt immer noch keinen Telefon- und Internetanschluss. Das ist bei 60 jungen Männern etwas, das nicht geht. Wie sollen sie sich um die Wohnungssuche kümmern? Wir haben keine richtigen Einkaufsmöglichkeiten im Dorf, keine Kneipe, kein Café. Die Leute müssen immer mit dem Bus raus.Gerade gegen alleinreisende Männer gibt es die größten Vorbehalte, spätestens nach der Silvesternacht von Köln. Sie haben ja viele Erfahrungen mit den Leuten. Können Sie das nachvollziehen?
Langer: Nicht wirklich. In dem Moment, in dem man mit diesen Leuten spricht, sind das ganz liebe Menschen, die froh sind, dass jemand da ist, der mit ihnen spricht. Im Grunde verliert jeder, der mit ihnen spricht, die Vorurteile schnell.
Palmer: Auf Schützenfesten, wenn richtig getankt wurde, fühle ich mich unwohler, als wenn ich hier abends mit den Flüchtlingen zusammen bin. Ich will nicht pauschalieren – es gibt welche, die sich nicht benehmen können. Aber ich spüre als Frau immer einen Respekt. Dem Vorurteil begegnet man, indem man mit ihnen spricht. 90 Prozent dieser Männer verurteilen aufs Schärfste, was in Köln passiert ist, und dass es mit ihren Werten nicht in Einklang zu bringen ist. Darum habe ich keine Angst.Wir haben angeschnitten, dass auf Selm neue Herausforderungen zukommen: Wenn die Notunterkunft laut Plan Ende August geschlossen wird, fallen die 1000 Plätze aus der Anrechung fürs Kontingent weg. Die Stadtverwaltung rechnet bis Jahresende bei derzeit etwas weniger als 200 fest zugewiesenen Flüchtlingen mit einem Anstieg auf etwa 500. Es kommen also etwa 300 fest Zugewiesene hinzu. Damit kommt auf alle Gruppen auch mehr Arbeit zu. Sind Sie hoffnungsfroh oder skeptisch ob der Aufgaben?
Heitmann: Der größere Teil wird in Selm angesiedelt. Dort braucht man braucht einen Sozialarbeiter, der zuständig ist für diesen Bereich. Das kann ein Arbeitskreis nicht auffangen. Unser Arbeitskreis würde sagen: Wir haben mit Bork genug zu tun. Ich sehe nicht, dass wir mit in die Pestalozzischule gehen und da etwas übernehmen. Wir wissen oft so schon nicht weiter – es ist genug Arbeit hier.
Palmer: Wir sind nicht auf einen Ort beschränkt, wir helfen auch in Dortmund, Waltrop, Castrop-Rauxel. Die helfen auch uns. Die Aufgaben sind gewaltig, aber eben nicht nur für die Organisationen, für die Verwaltung, auch für die Bürger: Das Stadtbild wird sich verändern. Da ist jeder gefragt. Jeden, den wir aktivieren können, nehmen wir mit. Wir geben weiter alles, wussten ja auch vorher nicht, was wir leisten können. Wir haben das aber ein bisschen gezeigt mit dem Otantik, mit den Sprachkursen, der Bildung des Vereins. Wir wachsen mit unseren Aufgaben und sind vielleicht in der Lage, neue Ehrenamtler zu rekrutieren. Vielleicht sind da Pädagogen im Ruhestand, die sagen: Wir kommen jetzt aus den Löchern. Oder Leute, die mit den Kindern was machen wollen. Wir haben dem Bürgermeister gesagt: Wenn Bedarf ist, dann frag einfach. Was wir machen können, das machen wir; ergänzend.
Bei sowas muss man an einem Strang ziehen. Man darf nicht sagen: das ist Selm, das ist Bork, das ist Cappenberg. Selm ist eine Stadt, wir sind die Bevölkerung. Wir haben eine Mega-Aufgabe, und können zeigen, was wir können. Nicht nur in Selm, sondern über Selm hinaus. Wenn es uns gelingt zu sagen, wir Selmer ziehen alle an einem Strang, das schaffen wir mit dem Ehrenamt – dann könnte das unser Lohn sein. Kein Spritgeld, keine Ehrenamtsmedaille, sondern etwas, bei dem man sagen kann: Da haben wir was auf die Beine gestellt, Familien integriert, Nachzüge organisiert; oder einfach Kinder, die sich gegenseitig zum Geburtstag einladen. Es bleibt uns nichts anderes übrig – so sehen wir Schicksalshelfer das.
Boecker: Die Stimmung in unserem Arbeitskreis ähnlich. Wir haben zurückgeblickt auf die Arbeit im zurückliegenden Jahr, und auch wenn ich selbst noch nicht so lange dabei bin, haben wir zusammen festgestellt: Wir haben eine ganze Menge geschafft. Auch wenn es Rückschritte gab oder Zweifel oder jeder anfangs gesagt hat: Das schaffen wir nie. Die Stimmung ist: Das schaffen wir! Es gibt da Leute, die ich als Ehrenamtliche für professioneller halte als Leute, die als Sozialarbeiter vor Ort arbeiten. Sowohl von ihrer Einstellung als auch von ihrem Wissen und dem zwischenmenschlichen Können.Ehrenamt und Hauptamt – wie sehen Sie da die Zusammenarbeit? Braucht es mehr Hauptamt?
Palmer: Ehrenamt füllt einen Bedarf, den das Hauptamt nicht erfüllen kann. Je mehr das Ehrenamt tut, desto weniger ist die Verwaltung gefordert zu sagen: Da geben wir Geld rein. Wir haben eine klamme Kommune. Wir werden keine sieben, acht Hauptamtliche bekommen. Es gibt ja auch andere gesellschaftliche Bereiche: Altenpflege, Behinderte – nicht nur die Flüchtlingsproblematik. Es gibt andere Dinge, wo sich Ehrenamtliche genauso vorbildlich einbringen und – wie der Bürgermeister sagt – Säulen der Gesellschaft sind.
Langer: Wir weisen seit Monaten darauf hin, dass wir einen Sozialarbeiter brauchen – zumindest einen regelmäßigen Besuch aus der Stadtverwaltung. Wir sind fast alle beruflich tagsüber weit weg.Was ist die Reaktion der Stadt auf solche Anfragen?
Langer: Naja, es gibt keine.
Boecker: Es gab bei uns auch skeptische Stimmen gegen den hauptamtlichen Sozialarbeiter. Denn wir können frei arbeiten und müssen uns nicht mit einem Hauptamtlichen absprechen. Ein Ehrenamtlicher will vielleicht gar nicht zugewiesen werden in seiner Tätigkeit.Kurzer Blick nach vorne: Samstag ist Sommerfest in Bork an der Hauptschule, beim Stadtfest haben Sie das Fest der Kulturen. Wird es darüber gelingen, die Menschen enger zusammenzubringen?
Palmer: Das ist eine Schnittstelle, wo man punktuell etwas tun kann. Zeigen kann: Das sind wir, das tun wir, so schmeckt das Essen, so hören sich die Menschen an, wenn sie tanzen, singen, sich unterhalten. Hast du Interesse? Komm. Vielleicht kann man den einen oder anderen überzeugen. Aber die, die dagegen sind, die kommen gar nicht, da muss man sich nichts vormachen. Es soll ja auch was für die Flüchtlinge sein, um Ansprechpartner und Arbeitskreise kennenzulernen. Das ist ein Bonbon, die Kirsche auf der Glasur des Kuchens. Das Stadtfest halte ich noch für die größere Veranstaltung und Chance. Dieses Sommerfest war ja mehrfach verschoben worden, weil die Situation im Fluss war. Wir freuen uns darauf, hoffen, dass das Wetter gut wird, wissen aber auch nicht, wie die Resonanz ist und die Reaktionen.
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Willkommensfest für Asylbewerber am LAFP in Bork
Ein kleines Willkommensfest für die Menschen in der Notunterkunft veranstaltete die Polizeischule LAFP in Bork am Montagvormittag. Dabei gestaltete die Polizei ein rund 90-minütiges Programm mit einer Puppenbühne der Polizei Dortmund. Es gab Amerikaner und Tee und eine Präsent-Tüte mit Malbuch, Stiften und anderen Kleinigkeiten. Auch Thomas Kirschner vom Deutschen Roten Kreuz und LAFP-Leiter Michael Frücht waren vor Ort - ebenso wie rund 100 Bewohner der Notunterkunft.
Heitmann: Als die Planung lief, war die Zeltstadt fast leer. Jetzt leben dort fast 600 Menschen. Darum bekommt das Fest einen ganz anderen Charakter. Ich bin gespannt. Was ich gut finde: Es ist wieder ein Ort der Begegnung, wo ich Angst abbauen kann, auf Menschen zugehen kann, Menschen ins Gespräch bringen. Von den Leuten hier in Bork habe ich mitbekommen, dass sie sich darauf freuen. Es gibt ein tolles Programm, finde ich, Musik, Spiel und Spaß. Das Stadtfest ist eine Präsentation: Da müssen wir da sein.
Palmer: Es ist eine klare Ansage, um uns mit ihnen dorthin zu stellen und Stellung zu beziehen - und zwar anders als es einige auf Bürgerversammlungen getan haben. Zu sagen: mit uns nicht, wir können das anders. Das sind die Menschen, über die ihr redet!
Heitmann: Es ist eine Chance, den Menschen da im Wohngebiet deutlich zu machen: Es sind Menschen wie Du und Ich. Ihr müsst keine Angst haben. Denn das Gefühl hatte ich bei der Bürgerversammlung: Es steckt Angst dahinter. Weil die Menschen noch keinen Kontakt mit ausländischen Mitbürgern hatten.
Boecker: Das ist eine gemachte Angst.
Heitmann: Aber aus Unkenntnis.
Boecker: Ja, und diese Angst ist ein Bruchteil von der Angst, die die Menschen hatten, mit denen wir zusammenarbeiten, die hierher gekommen sind über Fluchtwege diversester Art. Die Angst, dass man eine Haribo-Tüte in meinem Vorgarten landet, das ist keine wirkliche Angst.
Palmer: Relativ gesehen schon...
Heitmann: Genau, das muss ich ernst nehmen, dann kann ich mit den Leuten ins Gespräch gehen.
Boecker: Ich muss das dann relativieren. Und was ich gut finde beim Stadtfest: Dass wir das mit den Pfadfindern zusammen machen, mit Jugendlichen und Kindern, die sich sehr engagiert eingebracht haben. Und dass eben schon der eine oder andere Kontakt zustande gekommen ist, siehe mein Nachbarschafts-Erlebnis.
Palmer: Man kann bei sowas Synergien schaffen. Wenn man Vereine miteinander verknüpft, auf Augenhöhe kommt mit den Leuten, die dort wohnen, und sagt: Ihr wohnt da, aber ihr seid nicht allein. Wenn ihr Probleme habt, könnt ihr zu uns kommen. Meldet euch, wenn ihr Vorschläge habt, wie es anders laufen könnte. Angst entsteht oft durch Unwissenheit: Wenn ich nicht weiß, wie jemand warum ist. Angst ist etwas irrationales. Bei Furcht weiß ich, wovor ich mich fürchte. Bei Angst ist das im Kopf, wird geschürt aus der Gruppe. Bei diesen Aktionen kann man erklären, warum man keine Angst hat, kann die Leute zeigen, über die ihre redet - redet doch mal mit ihnen! Dass man da eine Stimmung schafft, wo man Willkommenskultur schaffen kann.Das gesamte Interview im Podcast: