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Lüner Kraftwerks-Chef Paul: „Ganz offensichtlich werden wir gebraucht“
Energie
Fast 70 Prozent der Kohle, die im Trianel-Kraftwerk Lünen verfeuert wird, kommt aus Russland. Der Ukraine-Krieg zwingt jetzt zum Umdenken - auch bei der Frage der Laufzeit.
Selbst bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel gibt es Wolken - zumindest im Lüner Westen. Dort strömt nahezu täglich eine helle Dampffahne nach oben. Das Trianel-Kraftwerk an der Frydagstraße ist so gut ins neue Jahr gestartet, wie es aus dem alten Jahr hinausgegangen war: mit Rekordzahlen. Und da war noch nichts zu ahnen von dem Überfall Russlands auf die Ukraine und den daraus resultierenden Verwerfungen auf dem internationalen Energie-Markt. Der Krieg stellt den Stromproduzenten an der Lippe zwar vor logistische Riesenherausforderungen, macht ihn aber gleichzeitig zu etwas, das für Steinkohlekraftwerke gar nicht mehr vorgesehen war: vorerst unentbehrlich.
Trianel Lünen sorgt 2021 für Rekordzahlen bundesweit
1,19 Millionen Haushalte und damit umgerechnet fast das halbe Ruhrgebiet hat Trianel Lünen 2021 mit Strom beliefert. Das sind fast 150.000 Haushalte mehr als 2019, wie Stefan Paul, der Geschäftsführer des Trianel-Kraftwerks, sagt. Nur eines der 38 Steinkohlekraftwerke, die 2021 am Netz waren, war noch ausgelasteter als Trianel. Die Jahresauslastung des Lüner Kraftwerks 2021 lag bei 65 Prozent - sieben Prozentpunkte höher als 2019. Im laufenden Jahr 2022 liegt sie bereits bei 67 Prozent, wie die täglich aktualisierten Energy-Charts des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE zeigen.
„Ganz offensichtlich werden wir gebraucht“, sagt Stefan Paul im Februar - zu einem Zeitpunkt, als die Welt noch nicht ahnte, dass Russland tatsächlich seinen friedlichen Nachbarn Ukraine überfallen würde. Inzwischen bestätigt das auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. „Kurzfristig kann es sein, dass wir vorsichtshalber, um vorbereitet zu sein für das Schlimmste, Kohlekraftwerke in der Reserve halten müssen, vielleicht sogar laufen lassen“, sagt der Grünen-Politiker im Deutschlandfunk.
Habeck signalisiert Wende von der Energie-Wende
Erste Priorität sei die Versorgungssicherheit. Um die zu gewährleisten und gleichzeitig die Abhängigkeit vom russischen Gas zu verringern - zurzeit kommen 55 Prozent des in Deutschland abgesetzten Gases aus Russland -, sieht die Bundesregierung diese Wende in der Energiewende für nötig an. Auch wenn NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst am Montag noch sagte, dass er das Kohle-Aus 2030 nach wie vor für möglich hält, mehren sich gerade die Zweifel daran.

Am Stummhafen in Lünen: Binnenschiffe bringen Übersee-Kohle aus Rotterdam. © Günther Goldstein
Das Internationale Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR) mit Sitz in Münster sieht das genauso. Es glaubt, dass Deutschland Kohle aus Russland leicht ersetzen könne. „Wie der Verein der Kohleimporteure e.V. mitteilt, können die Steinkohlemengen innerhalb weniger Monate vollständig durch andere Länder ersetzt werden.“
Woher soll jetzt die Kohle kommen?
Als Alternative könne Kohle aus den USA, Kolumbien und Südafrika importiert werden, aber auch aus Australien, Mosambik und Indonesien.“ So leicht, wie sich das anhört, ist die Sache nicht. Das weiß Stefan Paul aus der Erfahrung der vergangenen Monate, als Kohle international so gefragt war wie selten zuvor. Und so teuer.
Laut Rotterdamer API2-Index hatte es 2021 eine Versechsfachung der Kohle-Preise gegeben: von 40 auf 240 US-Dollar pro Tonne. Kräftig an dieser Preisschraube gedreht hatte ein Land: die Volksrepublik China. Ihr Energiehunger ließ sie den Weltmarkt nahezu leerkaufen - auch in Russland. Damit ist inzwischen aber Schluss - nicht aus politischen, sondern aus ganz praktischen Gründen. Die chinesischen Abnehmer können russische Kohle nicht mehr bezahlen als Folge der Wirtschaftssanktionen des Westens. Die Verträge laufen zumeist auf Dollar-Basis. Und zahlreiche russische Banken sind vom Zahlungsinformationssystem Swift ausgeschlossen worden. So können chinesische Abnehmer nicht mehr zahlen. Kohle, die seit 2015 nicht mehr in Deutschland gefördert wird, wird damit auf dem internationalen Markt noch begehrter werden. Und noch knapper.
Keine Kohle da: Bergkamen-Heil musste 2021 vom Netz
Ende September 2021 hatte die Steag als Betreiberin des Kohlekraftwerks Bergkamen-Heil die Reißleine ziehen müssen: keine Kohle, kein Strom. Insgesamt stand das 40 Jahre alte Steinkohlekraftwerk in Lünens Nachbarschaft, das spätestens im Oktober 2022 ganz stillgelegt werden wird, allein im September viermal für jeweils bis zu sechs Tage still, wie Bloomberg berichtet.

In der Warte des Trianel-Kraftwerks Lünen. Die Mitarbeiter reagieren sofort, wenn für die Netzstabilität neue Anforderungen kommen. © Günther Goldstein
Damit nicht auch in Lünen das Brennmaterial ausgeht, hat Stefan Paul vorgesorgt. Seit Anfang des Jahres sind zusätzliche Schiffe geordert, die über Rotterdam Kohle bringen sollen. „Wir haben außerdem Außenlager geschaffen in Moers und Dortmund“ - neben dem Kohlesilo auf dem Lüner Betriebsgelände. Noch ist genug Vorrat da. Allerdings werden auch 45.000 Tonnen pro Woche verfeuert, wenn das Kraftwerk weiter unter Volllast läuft wie bisher.
Auch Trianel schaut mit größter Bestürzung auf die Ereignisse in der Ukraine. „Unser Mitgefühl gilt den Leidtragenden dieses Krieges. Die Auswirkungen sind in jeglicher Hinsicht noch nicht absehbar“, so Paul. Als Teil der Energiewirtschaft beobachte Trianel die Entwicklungen sehr genau. „Eine abschließende Bewertung der aktuellen Dynamik kann noch nicht getroffen werden. Man kann aber jetzt schon erkennen, dass die Energiemärkte für Brennstoffe und Strom sehr angespannt und nervös sind“, heißt es bei dem Gemeinschaftsunternehmen von Stadtwerken, kommunalen und regionalen Versorgungsunternehmen
Ausbau von Photovoltaik und Windkraft hinkt hinterher
Für die Klimaaktivistin Luisa Neubauer wäre das eine schlimme Vorstellung: „Die Antwort auf diesen Krieg muss auch der radikale Ausstieg aus Kohle und Gas und der radikale Einstieg in die erneuerbaren Energieträger sein“, sagt sie. Viel Unterstützung bekommt sie dafür aber zurzeit nicht - nicht nur angesichts des Krieges.

Der Ausgangsgenerator des Trianel-Kraftwerks in Lünen. © Günther Goldstein
Die Lüner Kraftwerker haben einen genauen Blick auf die Leistung der erneuerbaren Energien - von Berufs wegen. Konventionelle Kraftwerke müssen dann liefern, wenn Flaute und Dunkelheit herrschen, damit das Netz stabil bleibt. Das war 2021 oft der Fall, denn der Zubau von Windkraft und Photovoltaik hinkt bundesweit hinterher. In der Summe lag die Stromproduktion der erneuerbaren Energiequellen Solar, Wind, Wasser und Biomasse im Jahr 2021 sechs Prozent unter dem Niveau des Vorjahres, wie das Fraunhofer-Institut mitteilt. Die wenn auch schwächelnde Windenergie war 2021 die stärkste Energiequelle, gefolgt von Braunkohle, Kernenergie, Gas, Solar, Steinkohle, Biomasse und Wasserkraft.
Ein internationaler Spitzenplatz bei den Strompreisen?
Ein Vier-Personen-Haushalt verbraucht laut Stromspiegel-Statistik pro Jahr durchschnittlich 4000 Kilowattstunden Strom. Das Trianel-Kraftwerk in Lünen benötigt für eine Kilowattstunde (kWh) Strom 318 Gramm hochenergetische Steinkohle. Dabei entstehen bei der Verbrennung 717 Gramm CO2 je kWh. Für die nötigen CO2- Zertifikate bezahlt das Kraftwerk zurzeit 8,4 Cent pro kWh. Laut Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) haben die Kunden in Deutschland im Januar 2022 durchschnittlich 36,19 Cent pro Kilowattstunde für Haushaltsstrom bezahlt: ein internationaler Spitzenpreis, wie zuletzt oft zu lesen war. Das Recherchezentrum Correktiv aus Essen relativiert diesen Eindruck aber.
„Unter Berücksichtigung der vergleichsweisen hohen Kaufkraft lagen die Strompreise in Deutschland im weltweiten Vergleich auf Platz 15“, zitiert Correktiv einen Sprecher des Vergleichsportals Verivox. Insgesamt verglich Verivox 133 Länder.
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
