Überraschung im Mintrop-Prozess: Zweifel an einem Högel-Mord aufgetaucht

© dpa/Menne, Collage: Ruhland

Überraschung im Mintrop-Prozess: Zweifel an einem Högel-Mord aufgetaucht

rnBeihilfe zur Tötung?

Hat der Serienmörder Niels Högel wirklich alle Morde begangen, für die sich Rudolf Mintrop, Ex-Chef des Klinikums Dortmund, wegen Beihilfe verantworten muss? Es gibt massive Zweifel.

Dortmund; Oldenburg

, 09.03.2022, 14:16 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es ist Mittwoch (9. März) um exakt 11.01 Uhr, als im Prozess gegen Rudolf Mintrop die Rechtsanwältin Dr. Anne Wehnert für einen Paukenschlag sorgt.

Möglicherweise ist dies der Moment, in dem man später sagen wird: Jetzt kippt der Prozess um Rudolf Mintrop, Ex-Chef des Klinikums Dortmund, und die sechs Angeklagten, die sich wegen Beihilfe zur Tötung durch Unterlassung verantworten müssen.

Immer geht es um die Morde des Ex-Krankenpflegers Niels Högel, den zu 87 Morden an Patienten verurteilten Serienmörder. Im aktuellen Verfahren soll geklärt werden, ob die Angeklagten acht Morde hätten verhindern können, wenn sie vorher eingeschritten wären. Drei dieser Morde ereigneten sich im November 2001 in Oldenburg, als Mintrop Geschäftsführer des dortigen Klinikums war.

Am 5. Verhandlungstag wird es plötzlich spannend

Der 5. Verhandlungstag in diesem Prozess ist schon mehr als eine Stunde alt, da ergreift Anne Wehnert das Wort. Sie verteidigt Dr. D., der Chefarzt der Anästhesie in Oldenburg war, als Niels Högel dort mordete. Es geht gerade um den mutmaßlich ersten der drei Oldenburger Morde. Opfer war Hermann K..

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Der damals 72 Jahre alte Mann wurde am 13. November 2001 ins Klinikum Oldenburg eingeliefert, wo er wenige Tage später am 17. November um 14.15 Uhr starb. Der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann stellt Högel zahlreiche Fragen. Die Quintessenz all dessen, was Högel antwortet, ist kurz: Er kann sich gerade noch an den Namen erinnern, an mehr nicht.

Seine Erinnerung bessert sich erst, als der Richter ihm vorhält, was er in der polizeilichen Vernehmung zum Todesfall Hermann K. gesagt hat. Seinerzeit – das war im Juni 2016 – hatte Högel zuvor monatelang auf einem von der Polizei zur Verfügung gestellten Laptop alle Patientenakten, Laborergebnisse, Ergebnisse von Exhumierungen und andere Daten von Verdachtsfällen studieren und sich dazu Notizen machen können.

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Auch mit diesen, durch den Richter aufgefrischten Erinnerungen berichtet Högel nur wenige Details. Er wisse, dass der Patient mit einem Hubschrauber aus der Klinik in Lingen nach Oldenburg verlegt worden sei. Direkt nach der Aufnahme habe er ihm ein bestimmtes Medikament, das nicht verordnet worden war, durch einen „peripheren Zugang“ verabreicht. An die konkrete Vorgehensweise könne er sich nicht erinnern.

Aber – Högel sagt das in diesem Prozess immer wieder so lapidar, als rede er vom wöchentlichen Kegelabend – er glaube er sei vorgegangen „wie immer“.

Auf jeden Fall, so Högel, habe er am Patienten „manipuliert“, bevor Hermann K. in den OP-Saal geschoben und dort operiert worden sei. Högel sagt stets „manipuliert“, die Worte „töten“ oder „morden“ kommen ihm nicht über die Lippen.

Der Moment, als Sprachlosigkeit im Saal herrscht

Als Högel geendet hat, kommt der Moment der Anne Wehnert. Die Rechtsanwältin hat die genauen Daten recherchiert. Hermann K., der mit dem Hubschrauber kam, wird an jenem 13. November 2001 um 9.51 Uhr im Klinikum Oldenburg aufgenommen. Um 10.10 Uhr wird er in den Operationssaal eingeschleust. Es hätte also für einen Mord eine maximale Zeitspanne von 19 Minuten gegeben.

Die Bemerkung von Anne Wehnert, dass das in dieser Situation ein höchst eng bemessener Spielraum gewesen sei, quittiert Högel mit der Bemerkung, dass er diese Daten nicht glaube. So etwas dauere länger.

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Die Rechtsanwältin Dr. Wehnert nimmt das zur Kenntnis und lässt dann die eigentliche Katze aus dem Sack: „Was ist“, fragt sie Niels Högel, „wenn ich Ihnen sage, dass Sie an diesem Morgen gar keinen Dienst hatten? Ihr Spätdienst begann erst um 12.43 Uhr.“

Die Schlussfolgerung dieser Recherche der Anwältin ist klar: War Högel am Morgen des 13. November nicht im Dienst, kann er ihn an diesem Morgen nicht ermordet haben. Wenn er ihn nicht ermordet hat, kann in diesem Fall niemand wegen Beihilfe verurteilt werden. Auch nicht Rudolf Mintrop.

Zudem wäre die Glaubwürdigkeit des Niels Högel auch in den anderen beiden Fällen massiv erschüttert, wobei das mit Högels Glaubwürdigkeit so eine Sache ist. Im Prozess von 2019 bescheinigte ihm ein Gutachter, ein notorischer Lügner zu sein. Im neuen Prozess wird derselbe Gutachter Högels Glaubwürdigkeit erneut bewerten.

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Das dürfte ein hartes Stück Arbeit werden, denn Högel korrigiert sich immer wieder, wenn ihm etwas aus einer früheren Aussage vorgehalten ist. Es ist schwer zu erkennen, ob seine Angaben von vor einigen Jahren gelogen waren oder ob sie es jetzt sind.

Die sonst so fragewilligen anderen 17 Anwälte schweigen jedenfalls, als die Anwältin ihr Recherche vorgetragen hat. Auch Niels Högel wirkt völlig perplex. Man kann in diesem Moment die Überraschung und Sprachlosigkeit in der zur Landgerichts-Nebenstelle umgebauten Oldenburger Weser-Ems-Halle förmlich mit Händen greifen.

Högel und seine wiedergefundene Sprache

Kurz darauf gibt es eine Pause. Niels Högel nutzt die Unterbrechung, um sich zu fangen. Als es weitergeht, erklärt er, dass er ja oft Doppelschichten gemacht habe und Rufbereitschaft übernommen habe.

Möglichweise sei das auch am 13. November 2001 so gewesen. Diese Dienste seien über ein separates System abgerechnet worden. Ob das stimmt? Glaubhaft wirkt es nicht, möglich ist es gleichwohl. Aus einem früheren Prozess weiß ein Prozessbeobachter zu berichten, dass die offiziellen Dienstpläne im Klinikum Oldenburg nicht immer der realen Wirklichkeit auf den Stationen entsprach.

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