Rudolf Mintrop, langjähriger Geschäftsführer des Klinikums Dortmund, muss sich vor dem Landgericht Oldenburg wegen Beihilfe zur Tötung in drei Fällen verantworten.

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Experte: Hat Ex-Klinik-Chef Mintrop Verdacht ignoriert und Nils H. weiter morden lassen?

rnInterview zum Prozess

Rudolf Mintrop, Ex-Chef des Klinikums Dortmund, hätte einschreiten können, als Niels Högel Patienten tötete. Davon zeigt sich Karl Beine, Experte für Klinikmorde, im Interview überzeugt.

Dortmund

, 28.02.2022, 05:00 Uhr

Er ist einer der führenden Experten in Deutschland, wenn es um Tötungen in Krankenhäusern und Heimen geht: Prof. Dr. Karl H. Beine forscht seit mehr als 30 Jahren zu diesem Thema. Er hat daher nicht nur den Prozess um den Massenmörder Niels Högel, der für 87 Morde in Oldenburg und Delmenhorst verurteilt worden ist, beobachtet, sondern ist auch jetzt im Prozess gegen Rudolf Mintrop, den langjährigen Chef des Klinikums Dortmund, und sechs weitere Angeklagte dabei, die sich wegen der Taten von Niels Högel wegen der Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen vor dem Landgericht Oldenburg verantworten müssen.

1997 wurde der Humanmediziner Karl Beine auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2019 lehrte. Von 1999 bis 2019 war er Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am St. Marien-Hospital in Hamm.

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Im Interview mit unserem Haus bewertet Beine die Rolle Mintrops, der im Klinikum Oldenburg Geschäftsführer war, als Niels Högel dort mordete, die Bedeutung dieses Prozesses und die Konsequenzen für die Kliniklandschaft in Deutschland.

Die Verteidiger von Rudolf Mintrop und der anderen Angeklagten haben im Prozess immer von einem Rückschau-Fehler gesprochen. Man könne die Lage von 2001, in der sich Rudolf Mintrop befand, nicht mit dem Wissen von heute um das, was Niels Högel danach angerichtet hat, betrachten. Sehen Sie das genauso?

Ja, das ist ein Rückschau-Fehler und niemand ist vor Rückschau-Fehlern gefeit, nicht mal Verteidiger. Es geht darum, dass die Verteidigung einen Rückschau-Fehler der ganz besonderen Art begeht.

Inwiefern?

Die Notwendigkeit zum Eingreifen der Angeklagten von 2000 bis 2004 wird von der Verteidigung bestritten. Getreu dem Motto: Ja, wenn unser Mandant gewusst hätte, was da passiert, dann hätte er natürlich was gemacht. Darum geht es aber nicht. Im Jahr 2000, 2001 konnte niemand wissen, was sich hinter der Stirn von Niels Högel abspielte und wozu er fähig war. Das konnten die Kollegen nicht wissen, das konnten die Vorgesetzten nicht wissen. Aber eines wussten sie, nämlich, dass er sich verdächtig verhält. Das ist deutlich geworden in dem letzten Högel-Prozess, dass sie das wussten. Und sie haben nicht interveniert.

Alles das, was dann gekommen ist, konnte nur passieren, weil niemand Högel gestoppt hat, als Auffälligkeiten von den jetzt Angeklagten erkannt wurden. Nur so konnte er zu einem Serienmörder werden. Das ist deren Verantwortung. Sie müssen sich dafür jetzt rechtfertigen, dass sie nicht eingegriffen haben, obwohl sie gravierende Verdachtsmomente gesehen haben.

Können Sie das noch mal ein wenig erläutern, warum es ein Rückschaufehler der besonderen Art ist?

Die Verteidiger fabrizieren einen Rückschaukurzschluss. Selbstverständlich hätten diese integren und unbescholtenen Menschen, die da jetzt auf der Anklagebank sitzen, sofort Alarm geschlagen, wenn sie gewusst hätten, dass Högel mordet. Aber vielleicht haben sie seine Taten entscheidend begünstigt – und das muss geklärt werden. Denn was sie wussten, war, dass ein gefährlicher Pfleger in ihren Reihen arbeitet. Den haben Sie mit einem wahrheitswidrigen Zeugnis weggelobt. Anschließend hat Högel noch 56 Menschen ermordet.

Nun argumentierte die Verteidigung im Prozess auch, dass es im Jahr 2001 noch überhaupt keine kriminalistischen Erfahrungen mit Morden solcher Art gegeben habe. Man habe sich so etwas in einem Krankenhaus, in dem sich alle Menschen der Rettung von Menschen verpflichtet fühlen, schlicht nicht vorstellen können.

Das ist nachweislich falsch. Wir haben Tötungsserien in Kliniken vor Niels Högel gehabt. Ich erinnere an die Gütersloher Tötungsserie 1990, ich erinnere an die Wuppertaler Tötungsserie, die 1989 abgeurteilt wurde. Die Medien waren voll davon. Im August 2004 – Niels Högel arbeitete in Delmenhorst, wurde in Sonthofen Stefan L. verhaftet unter dem dringenden Tatverdacht, in der Klinik in Sonthofen Menschen getötet zu haben. Högel wurde erst ein knappes Jahr später enttarnt. Dann hinzugehen und zu behaupten, dass so etwas unvorstellbar sei, es fällt mir schwer, das nachzuvollziehen.

Bei Rudolf Mintrop reden wir über das Jahr 2001. Die Angeklagten haben am ersten Verhandlungstag immer wieder behauptet, dass es keine handfesten Signale gegeben habe, allenfalls vage Verdächtigungen, Gerüchte über Högel, der halt immer da war, wenn es Reanimationen gab, der einen großen Aktionismus an den Tag legte. Also alles wenig greifbar. Gab es wirklich keine Signale, die einen hätten alarmieren müssen?

Wissen Sie: Ein Beobachter wie ich, der sich Jahrzehnte lang wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt, darf nicht den Fehler machen, das Ende des Prozesses vorwegzunehmen. Das, was sehr erfreulich und was sehr gut ist, ist, dass dieser Prozess überhaupt geführt wird – wenn auch viel zu spät. Dass die jetzt angeklagten Leute erklären müssen, was sie wann warum getan haben, und was sie wann warum nicht getan haben. Und Sie haben gesehen, dass es eine Fülle von Sachverständigen und von Zeugen gibt. Von Gutachtern, die geladen werden im Laufe des Prozesses, um genau diese Fragen zu beantworten.

Nun sind die teilweise im Högel-Prozess schon „berührt“ worden in Anführungszeichen, aber der Fokus des Prozesses gegen Niels Högel bestand darin, Herrn Högel seine Schuld nachzuweisen oder aber ihn zu exkulpieren. Der Fokus in diesem Prozess ist ein anderer. Hier geht es darum, ob diejenigen, die Verantwortung trugen, hätten intervenieren müssen, um zu verhindern, dass dieser Pfleger ungestört „weiterarbeiten“ kann. Aber der Prozess wird zeigen, ob sie hätten wissen können oder sogar müssen, dass Patienten geschädigt wurden.

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In der Anklage wird unter anderem mit dem Hygieneskandal argumentiert, der sich vorher in Oldenburg ereignet hatte und bei dem zwei Menschen durch ein verunreinigtes Kontrastmittel starben. Nach diesem Skandal habe sich das Klinikum keinen neuerlichen Skandal leisten können und daher lieber nicht die Ermittlungsbehörden eingeschaltet. Die Verteidigung bestreitet, dass dieses Argument glaubhaft ist.

Klassischer Rückschau-Fehler. Natürlich weiß ich heute, dass Herr Högel nachweislich 87 Menschen ermordet hat. Damals hätte ich nur wissen können: Der schädigt Patienten in ungewissem Ausmaß.

Man wusste es nicht genau, ob es so ist, aber es gab Hinweise, es gab Indizien und es gab Verdacht. Und ich muss als Chefarzt oder als Geschäftsführer in einer Situation auf völlig unsicherem Terrain vage Eindrücke, die ich habe, bewerten und die muss ich zur Grundlage einer verantwortlichen Entscheidung machen.

Viele Kolleginnen und Kollegen haben im Laufe ihres Berufslebens Menschen erlebt, die sich plötzlich oder auch schleichend verändert haben und angefangen haben, Patienten zu gefährden oder sogar zu schädigen. Dann gilt es, solche Menschen offen anzusprechen. Und genau das ist wahrscheinlich völlig unzureichend passiert. Natürlich ist es so, dass es im Wissen um die Massenmorde von Niels H., jeder, der noch bei Sinnen ist, interveniert hätte, weil der Schaden durch das Vertuschen, durch das Schweigen so riesig viel größer ist als der Schaden gewesen wäre, der vielleicht durch frühzeitiges Einschreiten damals entstanden wäre. Aber: Die Klinik in Oldenburg hatte ja nicht nur den Hygieneskandal, sondern auch das berühmte Oldenburger Baby im Rucksack.


…das Baby mit einem Down-Syndrom, das eine Spätabtreibung überlebt hatte und neun Stunden lang in ein Handtuch gewickelt liegen gelassen wurde, bevor jemand bemerkte, dass es lebte…

…der Junge hat, glaube ich, 19 oder 20 Jahre gelebt. Er hat die Spätabtreibung überlebt. Das ist in Oldenburg so passiert. Und dass die Erfahrungen, die ich mache als Klinikdirektor mit solchen aufgedeckten Skandalen, eine Rolle spielen bei meinen Entscheidungen, das ist nicht lebensfremd, das ist nicht wirklichkeitsfremd.

Ich muss selbstverständlich als Führungskraft bemüht sein, Schaden von meinem Haus abzuwenden, gar keine Frage. Aber ich bin unbedingt der Sicherheit meiner Patienten verpflichtet. Das gilt für alle Mitarbeiter im Krankenhaus – für Ärzte, Pfleger und selbst für Geschäftsführer. Für den Nachweis der moralischen Integrität der Angeklagten wird jetzt ja sogar im Verfahren der Eid des Hippokrates bemüht. Das geschieht, um zu zeigen, dass zwischen den Angeklagten und den Morden von Niels Högel ein Unterschied besteht wie zwischen Himmel und Hölle. Ich habe persönlich wenig Zweifel an der Integrität der angeklagten Personen. Aber ich habe erhebliche Zweifel daran, dass sie nicht tragische und folgenreiche Fehler gemacht haben. Das kann jedem von uns passieren.

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Die Verteidigung argumentiert, im Verlauf der weiteren Ereignisse, selbst 2004 und 2005, hätten die Ermittlungsbehörden, um es vorsichtig zu sagen, sehr, sehr langsam gearbeitet. Da sind massive Fehler gemacht worden. Högel ist jahrelang noch auf freien Fuß geblieben, selbst nach seiner ersten Verurteilung wegen Mordes. Es hat kein vorläufiges Berufsverbot gegeben. Wenn schon die Ermittlungsbehörden, Polizei und Staatsanwaltschaft jahrelang keinen hinreichenden Grund sehen, um ganz schnell Alarm zu schlagen und Högel aus dem Verkehr zu ziehen, wieso hätten Jahre vorher das schon Mintrop und Co. tun sollen oder können?

Wir reden hier über ein umfassendes Systemversagen. Es geht nicht nur um falsch bewertete, ernsthafte Frühwarnzeichen im Verhalten von Niels Högel, sondern es geht auch um das Versagen der Justiz. Da gab es eine Mischung aus Ignoranz und Inkompetenz bei der damaligen Oldenburger Staatsanwaltschaft über lange, lange Zeiträume. Dem Grunde nach ist es dem hartnäckigen, unermüdlichen Engagement einer hinterbliebenen Tochter, deren Mutter ein Opfer von Niels Högel war, zu verdanken, dass diese monströsen Verbrechen aufgedeckt wurden. Die hat die damalige Staatsanwaltschaft zum Jagen getragen. Das hat sie getan und hat dafür persönlich einen hohen Preis bezahlt. Es war für sie eine immense psychische Belastung. Sie hat das getan, nicht locker gelassen. Diese Frau hat ein Bundesverdienstkreuz verdient.

Der Fehler des einen legitimiert nicht den Fehler des anderen. Nur weil dort Fehler passieren, dürfen sie bei mir nach Möglichkeit ja nicht ebenfalls passieren. Ja, es gab erhebliche Fehler. Wenn Sie so wollen, reden wir hier über ein Organversagen.

Die Verteidiger haben am ersten Prozesstag schweres Geschütz dagegen aufgefahren, dass es überhaupt zu einem Prozess gekommen ist. Sie sprachen von absurdem Staatstheater. Das Ganze sei widerlich, absurd. Der Prozess sei grundsätzlich falsch. Sehen Sie das auch so?

Ich sehe, dass dieser Prozess grundsätzlich richtig und wünschenswert ist. Er kommt nur viel zu spät. Dieser Prozess ist ein gutes Signal für die deutschen Krankenhäuser. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass jeder, aber auch wirklich jeder sich im Zweifel strafrechtlich dafür verantworten muss, was er tut und was er nicht tut. Und es kann und darf keinen Zweifel daran geben, dass Priorität eins in deutschen Krankenhäusern nicht Erlöse sind, sondern die Patientensicherheit. Dass dieses verhandelt wird, empfinde ich als sehr wohltuend, sehr vertrauensbildend für mich als Patienten.


Können Sie den Prozess einordnen in bisherige Ermittlungen in anderen Fällen gegen Vorgesetzte in Krankenhäusern?

Es ist ein in Deutschland das erste Mal, dass sich Vorgesetzte strafrechtlich rechtfertigen müssen, angeklagt werden. Das hat es in Deutschland so noch nicht gegeben, obwohl es ähnliche Verhaltensweisen – nicht was die Dimension angeht, das ist einzigartig – auch andernorts gegeben hat. Auch dort sind Vorgesetzte aufgefallen durch fehlerhafte Einschätzungen, Untätigkeit und hartnäckiges Wegschauen.


Warum passiert das ausgerechnet jetzt bei diesem Fall?

Ich denke, es passiert in diesem Fall, weil inzwischen die Öffentlichkeit und die Justiz zur Kenntnis genommen haben, dass Tötungsserien – nicht was die Dimension, aber sehr wohl, was die Mechanismen angeht – tatsächlich vorkommen. Darüber hinaus spielt die Dimension des Verfahrens sicherlich eine Rolle und die krassen Vertuschungsversuche, die im Laufe des Högel-Verfahrens zutage getreten sind. Ich erinnere mich an die zahlreichen ehemaligen Kollegen von Niels H. aus Oldenburg, die sich mit sehr ähnlichen Formulierungen an kaum etwas erinnerten. Ich nenne als Stichwort mal die Liste, die beauftragt und geführt worden ist, um festzustellen, welche Kollegen anwesend gewesen sind bei Todes- und Reanimationsfällen im Klinikum in Oldenburg. Ich erinnere daran, dass es diese angeblich unerklärlichen Kalium-Verbräuche gegeben hat, diese berühmte Kalium-Konferenz, von der nicht so ganz klar ist, ob sie je stattgefunden hat.

Es gibt ja kein Protokoll…

…ja, es gibt kein Protokoll und es gibt sehr unterschiedliche Versionen über diese Konferenz. Es gibt diese berühmte Episode von der Rauchertreppe, auf der Niels Högel mit einem Arzt gesessen hat. Wo ihm dieser Arzt dann angeblich eine Spritze aus der Tasche gezogen und mit dem Inhalt seine Brille beträufelt haben soll, um festzustellen, ob darin eine bestimmte Substanz enthalten war oder nicht. Der Arzt soll dann gesagt haben: Die Diskussion möchte ich eigentlich hier nicht führen. So gibt es mehrere Zeugenaussagen, die belegen, dass es Hinweise auf verdächtiges Verhalten gegeben hat und dass über diese Verdächtigungen auch gesprochen wurde.

Hat dieser Prozess jetzt schon Folgen für die Krankenhäuser in Deutschland, dass dort die Verantwortlichen sensibler geworden sind?

Es ist zu früh, um das zu beurteilen, aber ich kann Ihnen drei ermutigende Beispiele nennen. Es gibt in München ein Krankenhaus, das sehr rasch die Ermittlungsbehörden informiert hat. Das Ergebnis ist, dass ein pflegerischer Mitarbeiter in Untersuchungshaft sitzt. Er ist dringend verdächtig, Patienten getötet oder es versucht zu haben. Analog haben die Verantwortlichen in Bremen gehandelt. Auch dort haben sie zeitnah die Ermittlungsbehörden eingeschaltet und auch dieser Pfleger hat bis vor kurzer Zeit in Untersuchungshaft gesessen.

In Essen ist im November 2021 ein Arzt verurteilt worden zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe wegen Totschlags. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, aber das Klinikum Essen hat unmittelbar und direkt reagiert und es stehen weitere Fälle zur Verhandlung an. Im Wesentlichen ist es dem Mut und der Courage eines Pflegers zu verdanken. Er ist zu seiner Pflegedienstleitung gegangen und die hat nicht den Deckel draufgemacht, sondern hat das weitergegeben. Die Klinikleitung hat eine Konferenz veranstaltet und die Polizei informiert.

Von daher warten wir mal ab. Ich würde mir wünschen, dass, wenn Verdachtsmomente auftreten, verantwortlich entschieden wird und diese verantwortliche Entscheidung transparent ist, weil: Irren ist menschlich. Jeder macht Fehler. Aber dass Fehler nicht mehr Fehler genannt werden, das darf nicht sein. Dass Sie von den Verteidigern am ersten Verhandlungstag – bis auf eine Ausnahme – kein Wort gehört haben zu dem Leiden der Opfer, zu dem Leiden der Hinterbliebenen, das muss Ihnen auch ein Signal sein, worüber wir hier reden.

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Es hat am ersten Prozesstag 2 Stunden und 36 Minuten gedauert, bis der erste Mensch in der Verhandlung, eine Verteidigerin, ein Wort zu den Opfern gefunden hat. Das hat mich schon irritiert.

Mich hat das nicht irritiert. Ich hatte nichts Anderes erwartet als dies und habe es der Verteidigerin hoch angerechnet, dass sie die Größe hat – obwohl sie eine Angeschuldigte verteidigt – zu sagen, dass es richtig ist, dass das geklärt wird. Das hat was zu tun mit Integrität und Größe, so etwas in einer solchen Situation zu sagen. Auf der anderen Seite steht die ausschließliche Fokussierung auf eine Mandantenverteidigung, die nur die maximale Verteidigung des Mandanten im Blick hat, ohne den Kontext auch nur näherungsweise umfassend zu betrachten. Dann werden Ausschnitte aus dem Kontext herausgeschnitten, um sie zu beleuchten und zwar grell, zu grell zum Vorteil des eigenen Mandanten.


Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Ja, zum Beispiel, wenn ich sage, dass das Ganze ja unvorstellbar war und dabei ignoriere, dass zu dem Zeitpunkt schon Tötungsserien in Deutschland bekannt waren – von international rede ich überhaupt nicht – dann ist das einfach schlicht falsch. Das kann man relativ leicht nachweisen. Die Sache mit dem Rückschaukurzschluss, den sie selbst begehen, das ist schon eine besondere Sache. Ein Beispiel. Herr Mintrop konnte noch im November 2018 bei sich keine Fehler erkennen. Mit dem Wissen von damals sehe er nicht, wie er sich anders habe verhalten können. Er habe nichts gewusst von den Mordtaten, die er hätte zurückhalten können. Von den Mordtaten wusste aber 2001 oder 2002 niemand – außer Högel selbst. Hier bestätigt sich die alte Weisheit: Die Kritiker der Elche sind meistens selbst welche.

Niels Högel ist ja ein abgeurteilter Massenmörder. Er ist rechtskräftig zu insgesamt 87 Morden verurteilt worden. Was mich irritiert, ist die Tatsache, dass jetzt in diesem neuen Verfahren noch mal in jedem einzelnen Fall neu geklärt werden muss, ob Niels Högel die Morde tatsächlich begangen hat, deretwegen jetzt Rudolf Mintrop und andere angeklagt sind. Ist das nachvollziehbar?

Ja, für mich ist das völlig nachvollziehbar. In dem Prozess gegen Niels Högel ging es um Niels Högel und dessen Täterschaft. Aber die Ermittlungen haben jetzt den Fokus auf Beihilfe zu sieben Mordfällen, die jetzt angeklagt sind. Um jemanden wegen der Beihilfe zu einer Straftat anzuklagen und freizusprechen oder zu verurteilen, ist es unerlässlich, die Beweise zu führen für die Taten, die Gegenstand dieser Beihilfeverfahren sind. Das ist zwar mit einem enormen Aufwand verbunden, aber das ist der Rechtsstaat seinen Bürgern und besonders seinen Patienten schuldig.


Macht es dann Sinn, dass dieselben Richter, die die Schuld von Niels Högel schon mehrfach festgestellt haben, jetzt erneut sitzen und erneut über Taten entscheiden sollen, in denen sie bereits ein Urteil gesprochen haben?

Die Zuständigkeit dieser Kammer ist ja durch höhere Instanzen geprüft worden. Die Befangenheitsanträge der Verteidigung, die ja gestellt worden sind, haben nicht gegriffen, obwohl da der geballte juristische Sachverstand am Werk war. Allein Herr Mintrop hat ja vier Anwälte – wenn ich richtig gezählt habe. Ich kenne die Abwägungen des Oberlandesgerichts nicht, die dazu geführt haben, die Befangenheitsanträge abzulehnen. Aber mein Vertrauen in den Rechtsstaat, in die Justiz, ist dann groß, wenn zeitnah etwas geprüft worden ist in einem transparenten Verfahren. Und Sie können sich darauf verlassen, dass das Verfahren von den Verteidigern geprüft worden ist, weil die Angeklagten sind nach meinem Eindruck ja nicht schlecht verteidigt, quantitativ und qualitativ auf hohem Niveau. Dann nehme ich das jetzt mal so für mich hin, unkommentiert und unbewertet.

Ich habe aber Verständnis, dass man von außen betrachtet auf diese Idee kommen kann. Aber man kann auch auf die Idee kommen, dass die Detailkenntnis groß ist und Kenntnisse aus den vorherigen Prozessen auch ein Vorteil sein kann.

Wagen Sie eine Prognose, wie der Prozess ausgeht?

Ich wage keine Prognose. Ich bin in erster Linie zufrieden, dass dieses Verfahren stattfindet.

Das heißt, auch wenn dieser Prozess mit einem Freispruch endet, sind Sie zufrieden, weil das Verfahren eine wichtige Signalwirkung hätte?

Ich bin sehr überzeugt davon, dass dieses Verfahren unvoreingenommen geführt wird. Dass gewissenhaft abgewogen wird. Allein die Tatsache, dass bei der leider unvermeidbaren zeugenschaftlichen Vernehmung von Niels Högel der Gutachter dasitzen wird und die aktuelle Glaubhaftigkeit von Niels Högel anschließend bewerten wird, ist für mich ein Indiz dafür, dass das gewissenhaft und umfassend gemacht wird, weil: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, aber: Wer notorisch lügt, der sagt auch nicht immer die Unwahrheit, der sagt aber auch nicht immer die Wahrheit. Man weiß es nicht so genau und so ist es eben. Es muss gewissenhaft in einem geordneten, fairen, offenen Verfahren abgewogen werden. Ich habe keinen Zweifel daran, dass das passiert.

Hätten Sie Angst, sich selbst in ein deutsches Krankenhaus zu legen?

Nein ich hätte keine Angst. Ich weiß sehr genau, dass näherungsweise 100 Prozent der Leute, die da arbeiten, mit einer hohen sozialen Motivation und einem hohen moralischen Anspruch dort arbeiten. Aber ich weiß eben auch eins sehr genau, dass viele Kolleginnen und Kollegen seit Jahrzehnten am Rande ihrer Belastung arbeiten und nicht gehört werden. Es ist ein politischer und gesellschaftlicher Skandal, wie wenig die Pflege in diesem Land geachtet wird. Wie sie gezwungen wird, moralische Verletzungen hinzunehmen, jeden Tag, weil: Sie können nicht so arbeiten, wie sie es gelernt haben. Und sie können nicht so arbeiten, wie sie arbeiten wollen. Daran werden sie gehindert von denen, die nie mit Patienten gearbeitet haben. Von denen, die die Pilatus-Nummer machen, wenn irgendwas passiert, und sagen: ,Das konnten wir nicht verhindern. Das sind Einzelfälle‘. Auch das konnten Sie vielfach am ersten Prozesstag hören.


Einzelfälle, da muss ich natürlich auf Ihre große Studie aus dem Jahr 2018 zu sprechen kommen, die Sie unter dem Titel „Tatort Krankenhaus“ veröffentlicht haben. Darin sprechen Sie auch von einer hohen Dunkelziffer. Wie hoch ist die?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Dunkelziffern heißen so, weil sie im Dunkeln sind. Aber eines wissen wir sehr genau: Wir wissen nicht, wie groß die Dunkelziffer ist und es kann nicht sein, dass noch während des Högel-Prozesses sich Herr Baum, der Repräsentant der Deutschen Krankenhausgesellschaft, vor eine Fernsehkamera stellt und sagt: ,So etwas kann nicht wieder passieren‘. Er irrt ganz offensichtlich.

Es sind danach noch mehrere Fälle bekannt geworden. Und ich will mich darauf verlassen, dass in der Grauzone, in der Entscheidungen notwendig sind über Tod und Leben, verantwortlich und moralisch integer entschieden wird. Und dass die Verantwortlichen früher die Ermittlungsprofis beauftragen, nämlich Polizisten und Staatsanwälte, wenn sie einen begründeten Verdacht haben. Und dass nicht andere Erwägungen Priorität bekommen, sondern die Patentensicherheit. Das erwarte ich von diesem Prozess.

Vor dem Landgericht Oldenburg muss sich Rudolf Mintrop, Ex-Geschäfstführer des Klinikums Dortmund, zusammen mit sechs weiteren Angeklagten, wegen der Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen im Zusammenhang mit den Taten des Massenmörders Niels Högel verantworten. Prof. Karl Beine, Experte für Tötungen in Kliniken, verfolgt den Prozess. Wir sprachen mit ihm.

Vor dem Landgericht Oldenburg muss sich Rudolf Mintrop, Ex-Geschäfstführer des Klinikums Dortmund, zusammen mit sechs weiteren Angeklagten, wegen der Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen im Zusammenhang mit den Taten des Massenmörders Niels Högel verantworten. Prof. Karl Beine, Experte für Tötungen in Kliniken, verfolgt den Prozess. Wir sprachen mit ihm. © picture alliance/dpa/dpa Pool

In Ihrer Studie haben sie ja mehrere tausend Ärzte und Pflegekräfte befragt. Mehrere hundert haben gesagt: Ja, wir haben so etwas in der Richtung schon gemacht…

Nicht in der Richtung. Das war eine Studie, die sich bezog auf die Praxis der Sterbehilfe in deutschen Kliniken. Und die aktive Sterbehilfe war definiert als eine Intervention, die durchgeführt wurde mit dem Ziel, das Leben sofort zu beenden. Da haben eine ganze Reihe von Ärzten und Pflegern gesagt, dass sie das schon einmal getan hätten.

Und es gab eine deutliche geringere Zahl an Ärzten und Pflegern aus diesem Pool, die gesagt haben: Wir haben das schon ein- oder mehrmals getan, ohne dass die Einwilligung des Patienten vorgelegen hätte, ohne dass wir darum gebeten worden wären. Nun kann man bei Gott nicht hingehen und sagen, dass das alles Patientenmörder und Serienmörder sind, aber es kann ein Indiz sein, dass wir an dieser Stelle wachsamer sein müssen, dass wir mehr forschen müssen, dass wir mehr Bedingungen, Kontextfaktoren herausfinden müssen, warum solche Dinge passieren und warum das nicht stattfinden kann in einem geordneten Verfahren.

Das wird nur gehen, indem wir die Berufsgruppen, die solche Entscheidungen zu treffen haben, respektieren, wertschätzen und indem wir klare Standards vorgeben, wie solche Verfahren ablaufen müssen. Die gibt es eigentlich, aber es ist so, dass sie in Zeiten von Personalknappheit – und ich rede jetzt nicht von der Personalknappheit in der Pandemie, das kommt verschärfend noch hinzu – nicht immer beachtet werden können.

Es geht darum, dass wir an dieser Stelle offener mit uns und unseren Fehlern und mit dem Dunkelfeld umgehen müssen und nicht reflexartig zudeckend behaupten, das sind Einzelfälle. Das wissen wir nicht. Das wollen wir hoffen. Ich hoffe das. Ich bin auch überzeugt, dass es kein Massenphänomen ist, sicher nicht. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass es nicht Einzelfälle sind und schon gar nicht Einzelfälle, die sich vollziehen unabhängig von der Verantwortung der unmittelbar beruflich Vorgesetzten oder der Klinik-Verantwortlichen.

Sie sprachen davon, dass das System nicht in Ordnung ist. Wie müsste unser Gesundheitssystem denn aussehen? Wie müssten die Strukturen sein? Wir arbeiten mit DRGs, mit Fallpauschalen. Die Wirtschaftlichkeit eines Krankenhauses richtet sich danach, wie gut es einer Klinik gelingt, mit diesen Fallpauschalen, in der jede Tätigkeit mit einem bestimmten Preisschild versehen ist, zurecht zu kommen. Ein Krankenhaus verliert Geld, wenn ein Patient auch nur einen Tag länger dort liegt als es die Fallpauschale vorsieht. Was also müsste sich ändern?

Die DRGs gehören abgeschafft und die Krankenhäuser müssen mit den finanziellen Mitteln ausgestattet werde, die erforderlich sind, um eine wirtschaftlich sinnvolle und notwendige Patientenbehandlung durchzuführen. Die Fehlanreize, dass gut vergütete Eingriffe häufiger gemacht werden, seit es DRGs gibt, also Herzkatheter-Untersuchungen, Wirbelsäulen-Eingriffe, Langzeitbeatmungen, um nur einige Beispiele zu nennen, gut vergütete Prozeduren, gut messbar, gut darstellbar – diese Fehlanreize müssen verschwinden.

Das Kernproblem der DRGs ist, dass alles das, was nicht gut darstellbar, nicht gut messbar ist, zum Beispiel eine genaue Beobachtung, ein Gespräch, oder zwei Gespräche und qualifiziertes Zuwarten nicht vergütet wird. Es ist ja nicht immer besser, sofort zu operieren, sondern es geht erst einmal um das Beobachten, das genaue Wahrnehmen. Diese Fehlanreize müssen weg.

Wie könnte das ganz praktisch aussehen?

Wir müssen dahin kommen, dass eine Anzahl von Kliniken so ausgestattet wird, dass sie maximal versorgen können, und dass wir um diese Kliniken herum gut erreichbare Krankenhäuser haben, die Primärversorgung leisten. Und wir brauchen eine Vernetzung zwischen diesen Krankenhäusern, die dazu führt, dass derjenige, der in einem ländlichen Gebiet Beratungsbedarf hat, jederzeit zurückgreifen kann auf die Kompetenz des Zentrums. Damit meine ich, dass wir Röntgenbilder austauschen können, dass wir Laborbefunde zeitnah direkt angucken können und beraten können. Und es muss um Erreichbarkeit, um Mobilität gehen.

In Niedersachsen ist doch gerade eine Krankenhausreform in diese Richtung beschlossen worden…

…ja, allerdings nicht die Abschaffung des DRG-Systems. Die finanziell motivierten Fehlanreize werden bleiben. Ich persönlich habe erhebliche Zweifel daran, dass das DRG-System so reformierbar ist, dass wir die Dinge, die in der Medizin eigentlich wichtig sind – menschliche Begegnungen, genaues Beobachten und genauer Austausch, dass die in dieses System integrierbar sind.

Es gab in diesem Land, auch wenn wir das scheinbar manchmal vergessen haben, rund 2000 Jahre lang die Idee, dass das Heilen eine Kunst sein könnte. Das ist vergessen. Die Medizin und auch die Pflege sind zu einer mechanischen Wissenschaft gemacht worden durch einen übermächtigen Markt. Aber genau das ist sie nicht und das wird sie auch nicht werden.

Sie ist eine Erfahrungswissenschaft, in der wir bestimmte Dinge messen und bildlich darstellen können. In der wir aber auch bestimmte Dinge nicht messen können und die sich dem verständlichen Bedürfnis nach Transparenz und Standardisierung entziehen. Aber es gibt eben Dinge, die sich nur zwischen Schwestern, Pflegern und Ärzten. Dann geht es drum: Entweder ich habe das Vertrauen und respektiere deren Arbeit oder ich tu das nicht.


Andere Länder arbeiten ganz anders. Zum Beispiel England mit den Pflegestationen oder Dänemark, da gibt es viel weniger Krankenhäuser. Es gibt Menschen, die sagen, da ist die Versorgung doch viel besser. Und dann gibt es Menschen, die sagen, dass unser Gesundheitssystem unbezahlbar wird, wenn man Ihre Vorstellungen durchsetzt. Was sagen Sie denen?

Denen sage ich, dass das deutsche Gesundheitssystem in der gegenwärtigen Verfassung eines der teuersten dieser Erde ist und diesen Preis nicht wert ist. Es liefert keine Spitzenqualität ab. Im Vergleich zu anderen Ländern – Stichwort Skandinavien – sind die Heilungserfolge, was die Überlebensrate nach Herzinfarkt – um nur ein Beispiel zu nennen – besser und nicht so, wie der Preis es vermuten lassen würde.

Ich sage denen, dass von interessierter Seite her der Eindruck erweckt wird, als sei die Transformation von einzelnen Krankenhäusern – und ich rede nur über die Krankenhausdichte in Ballungszentren, etwa im Ruhrgebiet – in primäre Versorgungszentren, als sei das eine Verschlechterung der Versorgung. Das ist in meinen Augen falsch.

Das dänische Gesundheitswesen zum Beispiel ist nicht vergleichbar mit Deutschland etwa im Hinblick auf die föderalen Strukturen und die Größe des Landes, aber die Grundidee schon: Die primären Versorgungszentren vor Ort sind gut erreichbar. Wenn dann die Digitalisierung der Zentren und die Transportmöglichkeiten zwischen den Primär- und Maximalzentren rund um die Uhr 365 Tage im Jahr gewährleistet sind, dann haben Sie eine qualitative Verbesserung der Versorgung. Und ich möchte mal behaupten: Es wird alles Mögliche, nur eins nicht, nämlich teurer. Aber es wird besser.

Das heißt: Sehr wohnortnah kleine Zentren und bei Bedarf schnell verweisen an die Maximalzentren?

Ja, allerdings nicht nur verweisen, sondern auch die Verantwortung übernehmen für den Transport. Und dass diese Primärzentren nicht verharren in der Komm-Struktur, sondern auch nach Hause gehen, zu den Patienten. Neudeutsch nennt man das Home-Treatment.


Noch ein Wort zu Corona. Hast sich die Gefährdung der Menschen durch die Belastung erhöht?

Jeder von uns weiß, dass dann, wenn ich überbeansprucht und gestresst bin, meine Fehleranfälligkeit größer wird. Ich mache schneller Fehler und ich glaube nicht, dass das vorwerfbar ist. Die Motivation und die Qualität mit der die deutschen Gesundheitsberufe – Krankenpfleger, Ärzte, aber auch Therapeuten – arbeiten, nötigt mir persönlich Ehrfurcht ab, Respekt. Ich bewundere das wirklich, wie die das machen.

Ich glaube, dass in dem Augenblick, in dem tatsächlich Wertschätzung und Respekt passieren, die Anfälligkeit von besonders disponierten Leuten, solche schlimmen Dinge zu tun, eher sinkt als dass sie steigt, denn: Eine Facette von Menschen, die da zu Tätern geworden sind, ist die, dass sie empfinden: ,Ich bin euch egal, dann seid ihr mir auch egal.‘