Nach Groß-Razzia: Wie steht es um die Clan-Kriminalität in Dortmund?

© Verena Schafflick (Archivbild)

Nach Groß-Razzia: Wie steht es um die Clan-Kriminalität in Dortmund?

rnOrganisierte Kriminalität

Die jüngste Razzien-Serie zeigt: Auch während der Corona-Krise sind kriminelle Clans in Dortmund aktiv. Doch wie umtriebig sind sie wirklich? Der Versuch einer Antwort.

Dortmund

, 15.08.2020, 09:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Die Nachricht ging in der allgemeinen Corona-Aufregung ein wenig unter: Am 2. April, gerade als der Höhepunkt der ersten Pandemie-Welle über Dortmund hinweg zog, verurteilte das Landgericht Dortmund einen 32-jährigen Mann zu achteinhalb Jahren Haft.

Der verurteilte Syrer war vor seiner Verhaftung Kopf einer Bande gewesen, die rund um den Nordmarkt einen „schwunghaften Kokainhandel“ betrieben hatte, wie es die Polizei bezeichnet. Seit mindestens 2018 versuchte sie, das Drogengeschäft im Herzen der Nordstadt unter ihre Kontrolle zu bringen.

Dabei ging die Bande nicht zimperlich vor: Die Polizei berichtet von gewaltsamen Auseinandersetzungen wegen Revierkämpfen oder bei der Eintreibung von Schulden. Als die Polizei im Rahmen ihrer Ermittlungen Wohnungen von Bandenmitgliedern durch Spezialeinheiten stürmen ließ, fand sie zahlreiche Schlag-, Hieb- und Stichwaffen.

Den Aufstieg der Bande erst möglich gemacht hatte die Zerschlagung eines libanesischen Clans durch die Polizei, für den der Syrer seit 2014 als einfacher Drogendealer gearbeitet hatte.

Wann immer die Polizei Strukturen zerschlägt, rücken andere nach

Die Verurteilung des Banden-Bosses erzählt gleich mehrere Geschichten: Dass es einen lebhaften Drogenhandel in der Nordstadt gibt, der von gewalttätigen Banden und kriminellen Clans dominiert wird; dass es dem Staat immer wieder gelingt, Löcher in diese kriminellen Strukturen zu reißen; und dass nach solchen Erfolgen andere Akteure auf den Plan treten, die das entstandene Machtvakuum wieder füllen.

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Um diese Schleife eines Tages zu durchbrechen, nahm einen Tag vor dem Urteil am Landgericht Dortmund in Essen eine neue Anti-Clan-Allianz ihre Arbeit auf.

In der „Sicherheitskooperation Ruhr“ (Siko) arbeiten seit dem 1. April die Ruhrgebietsstädte Dortmund, Duisburg und Essen mit der Landes- und Bundespolizei, dem Zoll und den Finanzämtern enger als zuvor zusammen.

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Diese „behördenübergreifende, zentrale Schaltstelle zur Bekämpfung der Clankriminalität“, wie Dortmunds Ordnungsdezernent Norbert Dahmen die Siko nennt, soll dafür sorgen, dass die Clans und die sie umgebenden kriminellen Strukturen nachhaltig zurückgedrängt werden.

Großrazzia mit fünf durchsuchten Wohnungen in Dortmund

Dass es diese Strukturen nach wie vor gibt, wurde erst diesen Mittwoch wieder deutlich: Da ließ die Polizei gleich fünf Wohnungen in Dortmund durchsuchen. Die Aktion war Teil einer Großrazzia, bei der 19 Objekte in acht Städten zeitgleich durchsucht wurden.

Im Zentrum der Ermittlungen steht laut Polizei ein 36-jähriger Hagener, der im großen Stil Luxusfahrzeuge auf Pump gekauft und dann weiterveräußert haben soll - jedoch ohne die Kredite zu bezahlen. Insgesamt summieren die Ermittler den Schaden auf 1,1 Millionen Euro. Der Hauptverdächtige soll Verbindungen ins Clan-Milieu haben, hieß es allgemein in der Pressemitteilung.

Was das konkret bedeutet, ergaben Recherchen unserer Redaktion: In einem der durchsuchten Gebäude - ein Haus am Phoenix-See - wohnt ein führendes Mitglied eines Dortmunder Clans. Dieser zeigt sich in sozialen Medien gerne selbst mit Luxusautos und soll laut Bild-Zeitung ein langjähriger Freund des Hauptverdächtigen sein.

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Das Netz der kriminellen Clans im Ruhrgebiet, das die Behörden zerschneiden wollen, ist engmaschig und voller sich gegenseitig stützender Fäden. Gewebt wird es von einer Vielzahl von Clans.

Ihren Ursprung haben diese in großen Familienverbünden, die seit den 1970er-Jahren aus dem Libanon nach Deutschland kamen. Heute tragen die Clans Namen wie Al Zein, Miri, Omeirat und Remmo, um nur einige bekanntere zu nennen, wobei es mehrere Schreibweisen gibt. Ebenso kompliziert und undurchsichtig sind die Familienverhältnisse innerhalb der Clans. Manche Mitglieder nennen sich sogar zwar nach dem Clan, haben aber eigentlich einen ganz anderen Namen.

LKA zählte NRW-weit über 14.000 Clan-Straftaten in drei Jahren

Das NRW-Landeskriminalamt (LKA) hat 2019 einen „Lagebericht Clankriminalität“ veröffentlicht. Es war ein Versuch, die unübersichtliche Lage rund um die Clans etwas zu ordnen.

Über drei Jahre - von 2016 bis 2018 - hatte das LKA versucht, aus allen in NRW begangenen Straftaten jene herauszufiltern, die von Clans beziehungsweise ihren Mitgliedern begangen worden waren. Am Ende kam es auf mehr als 14.000 Straftaten, die die Ermittler rund 6500 Verdächtigen aus 104 Clans zuordneten.

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Dieses „Clan-Ranking“ führte Essen an, mit knapp 2500 Straftaten und etwa 1100 Verdächtigen. Dortmund lag auf dem 6. Platz, mit ziemlich genau 700 Straftaten und knapp 250 mutmaßlichen Clan-Mitgliedern, darunter 9 Intensivtätern mit mehr als 5 Straftaten pro Jahr.

Auch wenn diese Zahlen sehr konkret und genau erscheinen, sind sie doch nur Annäherungen an die Realität. Die Dunkelziffer bei den Straftaten dürfte ziemlich hoch sein. Viele Opfer verzichten aus Angst vor Vergeltung und vor Repressalien auf Anzeigen, außerdem regeln Clans Streitigkeiten gerne in Eigenregie.

Polizei: Dortmund hat „atypische Strukturen“

Die Dortmunder Polizei hält sich deshalb zurück, wenn sie nach der aktuellen Zahl der Clan-Mitglieder in Dortmund gefragt wird. „Zahlen von Mitgliedern oder Tatverdächtigen schwanken“, heißt es auf Anfrage unserer Redaktion „Wir können daher dazu keine fixe Zahl nennen.“

Die Strukturen der Clankriminalität seien in Dortmund im Vergleich zu anderen Städten „atypisch“, schreibt die Polizei weiter: „Wir konzentrieren unsere Ermittlungen nicht allein auf einen immer wieder öffentlich genannten Familiennamen, sondern auf verschiedene Gruppen.“

Früher oder später taucht der Name „Miri“ auf

Den Familiennamen, auf den die Polizei anspielt, ist der des Miri-Clans. Wann immer Konflikte aus der Dortmunder Clan-Szene in den vergangenen Jahren öffentlich ausgetragen wurden, fiel meistens irgendwann der Name „Miri“.

Etwa 2017, beim vom Boulevard so genannten „Rapper-Krieg von Dortmund“. Zwei Dortmunder Gangster-Rapper - Miami Yacine und 18 Karat - hatten damals „Beef“, wie man schlagzeilenträchtigen Streit in der Hip-Hop-Szene nennt.

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Das „Gangster“ in ihrer Beschreibung kommt nicht von ungefähr: Beide Rapper rühmen sich mit ihrem „Rücken“, schlagkräftigen Unterstützern, die ihnen den Rücken freihalten. Als „Rücken“ von 18 Karat gelten die Dortmunder Miris.

Der „Beef“ zwischen ihm und Miami Yacine eskalierte, als Yacine am helllichten Tag an der Stadtkrone-Ost von bewaffneten Vermummten überfallen und mit Totschlägern und Reizgas verletzt wurde. Einen Tag später wurde auf die „Bar Cardi“ in der Stahlwerkstraße in der Nordstadt geschossen - eine beliebte Anlaufstelle des Clans, in der auch 18 Karat ein- und ausging.

Streit zwischen Miris und Bandidos-Rockern

Ein Jahr später gerieten die Miris erneut in die Schlagzeilen, diesmal ging es um einen Streit mit den Rockern der Bandidos. Zwei Rocker hatten ein führendes Mitglied des Clans niedergestochen und schwer verletzt, nachdem dieser auf offener Straße mit dem Dortmunder Bandidos-Chef aneinander geraten war.

Kurze Zeit später wurde das Bandidos-Vereinsheim in Eving beschossen. Die Nachwehen des Vorfalls beschäftigten die Polizei auch noch ein knappes Jahr später.

Miri-Führungsperson wohnt in durchsuchtem Haus

Einer der beiden Bandidos, die den Miri-Anführer niedergestochen haben sollen, wurde im Juli 2019 bei der Arbeit in einem Salon - er ist hauptberuflich Frisör - an der Hansastraße ins Bein geschossen. Die Polizei ging damals davon aus, dass auch hinter diesem Angriff Clan-Mitglieder steckten. Aufgeklärt ist er bis heute nicht.

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Auch bei der jüngsten Razzien-Serie taucht der Name Miri auf: In dem durchsuchten Haus am Phoenix-See wohnt Recherchen unserer Redaktion zufolge ein führendes Mitglied des Miri-Clans.

Insgesamt 244 Jahre Haft für führende Clan-Mitglieder

Trotzdem ist es seit den Schüssen mitten in Dortmunds City ruhiger um die kriminellen Clans in Dortmund geworden. Was auch an dem Druck liegen könnte, den die Polizei auf die Clans ausübt. Es gebe eine „hohe dreistellige Zahl“ von Schwerpunkteinsätzen pro Jahr gegen kriminelle Strukturen, zu denen auch die Clans gehören, schreibt die Polizei auf Anfrage.

Zwischen 2016 und 2018 seien 60 führende Köpfe der Szene angeklagt und zu insgesamt 244 Jahren Haft verurteilt worden, listet die Polizei ihre Erfolge auf. „In den Jahren zuvor ermittelte die Dortmunder Polizei gegen 115 Drahtzieher, die zu insgesamt 502 Jahren Haftstrafe verurteilt worden sind und teilweise auch heute noch einsitzen.“

Aktuelle Zahlen zu Clankriminalität gibt es erst kommende Woche

Diese Zahlen lesen sich gut, haben aber einen Schönheitsfehler: Sie sind mindestens zwei Jahre alt. Zu den aktuellen Ermittlungen gegen kriminelle Clans schweigt die Polizei Dortmund auch auf erneute Nachfrage. Man wolle dem neuen LKA-Lagebericht nicht vorgreifen - dieser wird am Montag (17.8.) in Düsseldorf von NRW-Innenminister Herbert Reul vorgestellt.

Beim Kampf gegen Clankriminalität geht es jedoch nicht nur um Festnahmen und Haftstrafen, sondern auch um die unterstützenden Strukturen der Clans. Hier hat die Polizei vor allem Shisha-Bars im Visier. Sie gelten den Ermittlern als „Einnahmequellen und Rückzugsorte für Clan-Kriminelle“.

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Ende 2019 veröffentlichte die Polizei interessante Zahlen: Von den damals 48 existierenden Shisha-Bars in Dortmund seien bisher 13 in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund geschlossen worden, gegen 44 Betreiber seien Ordnungsverfügungen erlassen worden.

Insgesamt kassierten Shisha-Betriebe bis Ende 2019 81 Zwangsgelder in Höhe von rund 200.000 Euro. Mehrere Barbetreiber hätten das Shisha-Geschäft in der Folge dieser Repressalien aufgegeben.

Beliebter Clan-Treffpunkt ist heute Lagerraum

Auch die „Bar Cardi“ - der beliebte Treffpunkt für Clanmitglieder in der Stahlwerkstraße, auf den 2017 die Schüsse abgegeben worden waren - existiert nicht mehr. Bei einem Besuch vor Ort sind durch die offenen Fenster zwar noch die Einschusslöcher am Tresen zu erkennen. Doch hier wird schon lange nichts mehr serviert, berichtet ein Anwohner. Inzwischen werde die leerstehende Bar als Lagerraum benutzt.

An den Straßenecken geht das Geschäft der Drogendealer und der hinter ihnen stehenden Clans derweil weiter. Wer durch die Nordstadt fährt, sieht vor manchem Kiosk öfter kleine Menschenansammlungen. „Die stehen da sicher nicht immer alle, um Getränke zu kaufen“, sagt eine Anwohnerin.

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