
© Joscha F. Westerkamp (Archiv)
Es gibt in Dortmund mehr Wohnungslose als bisher bekannt war
Studie
In Dortmund leben deutlich mehr Menschen auf der Straße, als bisher von der Statistik erfasst worden sind. Das sind schlechte Nachrichten mit Ansage. Aber genau das war das Ziel.
Es sind bemerkenswerte Zahlen, die NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann im April 2022 vorgestellt hat. Laut einer Studie der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung in Bremen (GISS) im Auftrag des Ministeriums gibt es rund 30 Prozent mehr Menschen ohne Wohnung, als bisher statistisch erfasst sind.
Diese „verdeckte Wohnungslosigkeit“ hat in Dortmund, das eine von sechs Modellkommunen war, eine große Dimension. Die gezielte Befragung an Begegnungsorten der Szene hat 899 Menschen in Dortmund ermittelt, die auf der Straße oder in Behelfsunterkünften leben. 503 davon sind ohne Unterkunft, 396 leben in verdeckter Wohnungslosigkeit.
Bestehende Hilfsangebote erreichen „erheblichen Teil“ der Menschen nicht
Die Autoren der Studie heben die Bedeutung der bestehenden Hilfsangebote hervor. Und folgern zugleich: „Dennoch erreichen sie offensichtlich einen erheblichen Anteil der Menschen nicht, und so sollten verstärkte Anstrengungen unternommen werden, das Beratungsangebot in dieser Hinsicht zu stärken und weiter zu qualifizieren.“
„Die Studie ist ein wichtiger Schritt“, sagt deshalb Bastian Pütter von der Wohnungsloseninitiative Bodo. Bisher sei die Statistik bei der Erfassung eines relevanten Teils von Straßenobdachlosigkeit „blind“ gewesen.
Bisher waren nur Menschen erfasst, die kommunal, ordnungsrechtlich oder über freie Träger der Wohnungshilfe untergebracht oder den Fachberatungsstellen als wohnungslos bekannt sind.
„Bei den Überlebenshilfen wie Suppenküchen, Kleiderkammern, Duschen oder aufsuchenden Versorgungsangeboten haben wir zu einer großen Zahl obdachloser Menschen Kontakt, die nicht in der bisherigen Statistik erfasst werden“, sagt Pütter.
Für das Diakonische Werk Dortmund und Lünen sagt Sprecher Tim Cocu: „Die Ergebnisse der GISS-Studie bestätigen in etwa die Zahlen, welche die Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Menschen der Diakonie in Dortmund im Jahresverlauf über seine Klienten erhebt.“ Die Arbeit der Wohnungslosenhilfe der Diakonie passe sich an die wechselnden Bedürfnisse der Menschen an.
Mit welchen Zahlen wird künftig gearbeitet?
Mit welchen Zahlen operiert die Dortmunder Stadtverwaltung künftig? Stadtsprecherin Katrin Pinetzki sagt auf Anfrage dieser Redaktion: „Bisher ging man immer von 400 bis 500 wohnungslosen Menschen aus.“
Mit Blick auf die Befragung ergänzt Pinetzki: „Davon ausgehend, dass man bewusst die in Notschlafstellen übernachtenden Personen nicht mit einbezogen hat, müsste man diese Gruppe, circa 120 Personen, noch hinzuaddieren und kommt damit auf über 600 Personen.“
Letztlich werde es bei der Ermittlung der Anzahl wohnungsloser Personen immer Unschärfen geben, so die Stadtsprecherin.
„Entscheidende Befunde der Arbeit auf der Straße“ bestätigt
Die Studie bestätigt für Bastian Pütter von Bodo „entscheidende Befunde unserer Arbeit auf der Straße“. So zeigten die Ergebnisse etwa, dass ein großer Teil der Menschen alle Möglichkeiten ausschöpft, bevor die Übernachtung in städtischen Notunterkünften erwogen wird.
„Tatsächlich stehen die Angebote vielen Menschen nicht offen oder werden von den Berechtigten als unter anderem ,nicht sicher´ eingestuft“, sagt Pütter.

Die sogenannte „aufsuchende Wohnungslosenhilfe“ soll nach Empfehlung von Wissenschaftlern einen höheren Stellenwert bekommen. © Stephan Schütze (Archiv)
Die gesundheitliche Situation gerade der Menschen ohne jede Unterkunft sei alarmierend. Das bestätigt auch die GISS-Studie. Zwölf Prozent der Betroffenen haben keine Krankenversicherung. Bei ausländischen Wohnungslosen ist es rund die Hälfte.
Der Anteil der wohnungslosen Menschen mit ausländischem Pass liegt in Dortmund demnach bei bis zu 45 Prozent. Zu einem erheblichen Teil handelt es sich um EU-Bürger aus Ost- und Mitteleuropa, die durch scheiternde Arbeitsmigration in Obdachlosigkeit geraten.
Was folgt aus den Studienergebnissen?
Konkrete Folgen der Studie werden laut Stadtsprecherin Katrin Pinetzki nun im Netzwerk Wohnungslosenhilfe diskutiert, dem zahlreiche Organisationen angehören.
„Insbesondere wird es auch darum gehen, wie mehr Menschen an die Beratungssysteme der Wohnungslosenhilfe angebunden werden können“, sagt Pinetzki. Ein Ergebnis der Studie sei, dass mehr aufsuchende Sozialarbeit als nötig angesehen wird.
Die Stadt Dortmund werde deshalb zwei weitere Fachkräfte in die aufsuchende Beratungsarbeit der obdachlosen Menschen integrieren.
Im Hilfsangebot der Diakonie ist das Projekt „Aufsuchende Sozialarbeit“ fest verankert. Per Lastenfahrrad sucht eine Sozialarbeiterin Schlaf- und Aufenthaltsorte von Wohnungslosen gezielt auf.
Landesregierung kündigt mehr finanzielle Unterstützung an
Die noch amtierende Landesregierung hat mehr finanziellen Einsatz für die Wohnungslosenhilfe angekündigt, unter anderem für Hitzeschutz und Schließfächer.
Eine Landesinitiative mit sogenannten „Kümmerer“-Projekten soll bis 2027 fortgesetzt werden. Dortmund ist eine von 22 teilnehmenden Städten.
Das Diakonische Werk in Dortmund bündelt derzeit die Arbeit für wohnungslose Menschen in der Stollenstraße im Wichernhaus, wo zum Jahresende ein neues Wohnungslosenzentrum öffnen soll.
Diakonie-Geschäftsführerin Uta Schütte-Haermeyer sagt: „Das Wohnungslosenzentrum soll ein Wohnzimmer für die Menschen sein, die unsere Hilfe suchen. Neben einem modernen und würdevollen Aufenthalt gibt es leichte Zugänge zu Beratung und damit zu Sozialleistungen, medizinischer Versorgung und der Krankenversicherung.“
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
