
© Joscha F. Westerkamp
Felix (21) schläft lieber in der Fußgängerzone als in der städtischen Unterkunft
„Weckdienst“ für Obdachlose
Seit dem Herbst hat die Stadt Dortmund einen „Weckdienst“ für Obdachlose. Eine Woche lang war unser Autor im Morgengrauen in der City unterwegs. Vier Männer sprechen über ihre Nächte auf der Straße.
Zwei Nächte in der Notunterkunft – das habe ihm gereicht. Lieber schlafe er auf der Straße, sagt Felix. Er ist 21 Jahre alt, obdachlos; mit seinem Schlafsack liegt er am Westenhellweg, mitten in Dortmunds City.
Seit einigen Monaten wird er dort geweckt, morgens ab 6 Uhr. Nicht jeden Tag, nicht immer zur gleichen Uhrzeit – aber immer mal wieder, immer viel zu früh für seinen Geschmack und immer vom Ordnungsamt.

Häufig liegt Felix mit seinem Schlafsack an einer Bankfiliale am Westenhellweg. Er habe den Chef mal gesprochen: „Der hat nichts dagegen, dass ich hier bin.“ © Joscha F. Westerkamp
„Weckdienst“ nennt die Stadt Dortmund diesen Einsatz, mit dem sie das illegale Lagern und Campieren unterbinden will. Mitarbeiter des Kommunalen Ordnungsdienstes kommen dann an zentrale Stellen der Stadt, um die Menschen zu wecken.
Besonders für Innenstadt-Händler haben Obdachlose direkt vor der Eingangstür immer wieder zu Ärger geführt. Nachtlager bis mitten in den Tag, hinterlassener Müll, teilweise Kot, Drogen und Spritzen direkt vor dem Schaufenster. Über den Weckdienst freuen sich die Ladenbesitzer deshalb sehr.

Tobias Heitkamp ist Vorsitzender des Dortmunder Cityrings. Er findet: Hinterlassene Teile eines Nachtlagers – auch vor leerstehenden Geschäften wie hier – stören das Shopping-Erlebnis der Kunden. © Schaper
„Das Problem ist echt groß“, sagt Cityring-Vorsitzender Tobias Heitmann. „Gerade die kleinen Einzelhändler gehen mit Herzblut in ihre Geschäfte, da sind solche Hinterlassenschaften überhaupt nicht schön.“ Er kenne reichlich Kunden, die zum Shoppen gar nicht mehr in die Stadt kämen, weil so viele Obdachlose vor den Schaufenstern lägen, einen anbettelten oder Reste ihres Nachtlagers hinterließen.
Die Sicht der Obdachlosen
Auf der anderen Seite sind die Obdachlosen, die vom Ordnungsamt verscheucht werden. „Wenn die kommen, wollen die, dass alles so schnell wie möglich geht“, sagt Felix. „Die ruckeln einen wach, so lange, bis man mit all seinen Sachen weg ist.“

Nicht einmal einen Schlafsack hat dieser obdachlose Mann, der am frühen Morgen in der Dortmunder Innenstadt schläft. Aus Sicht der Händler sind Menschen wie er ein Problem: Häufig hinterlassen sie Müll, betteln um Geld, stören das Shopping-Erlebnis der Kunden. © Joscha F. Westerkamp
Und Felix ist da nur einer von vielen Betroffenen. Ein anderer ist Michael (54). „Widerlich“ findet er den Weckdienst. „Die kommen hier um 7 Uhr, machen einen völlig unfreundlich wach und sofort muss man den Platz räumen. Man hat kaum Zeit, seine Sachen zu packen. Dazu bekommt man immer für den ganzen Tag einen Platzverweis. Den kann man oft gar nicht umsetzen. Man bleibt dann in der Stadt und hofft, dass man nicht erwischt wird.“
Obdachlos oder wohnungslos?
- „Wohnungslos“ ist per Definition jeder, der in keiner eigenen Wohnung wohnt. „Obdachlos“ sind diejenigen unter ihnen, die im öffentlichen Raum übernachten.
- Laut Sozialwissenschaftler Dierk Borstel handelt es sich dabei aber um rein theoretische Begriffe. In einer Nacht schlafe man bei Bekannten oder in der Notunterkunft und sei „wohnungslos“. In der nächsten nicht – dann sei man wieder „obdachlos“.
Die Stadt Dortmund erklärt zum Platzverweis auf Anfrage: Mit der meist ganztägigen Maßnahme solle verhindert werden, dass Betroffene nach kurzem Verlassen erneut Lager in der Innenstadt aufschlagen. Dass weitere Kontrollen durchgeführt werden müssen. Doch sie betont: „Auf Verwarn- oder Bußgelder verzichtet die Stadt Dortmund.“
Michael hat das anders erlebt. „Man kriegt richtig oft Knöllchen“, sagt er. „Aber wie sollen wir das zahlen? Am Ende sitzen wir das im Knast ab.“ Tatsächlich hat die Stadt Dortmund erst vor Kurzem einen Antrag auf Anordnung von Erzwingungshaft gegen einen Wohnungslosen gestellt, weil er über 7000 Euro an Bußgeldern nicht zahlen konnte. Vor Gericht wurde der Antrag allerdings abgelehnt.
Auch Issa (37) sollte schon mehrfach Bußgelder zahlen. Vor anderthalb Jahren wurde er aus der Justizvollzugsanstalt entlassen – warum er dort war, verrät er nicht –, seitdem lebt er auf der Straße. „Die vom Ordnungsamt sind voller Vorurteile und versuchen alles, um einem ein Ticket aufzudrücken“, sagt er.
„Wenn man schlecht geschlafen hat und geweckt wird, muss man erst mal hochfahren, wie ein alter Rechner. Die löchern einen aber direkt mit Fragen – so lange, bis sie was gefunden haben, für das man zahlen muss.“
Und, klar, der mit dem Wecken ausgesprochene Platzverweis kommt auch nicht gerade gut an bei den Verwiesenen. Einen Grund, warum der Platzverweis besonders dramatisch ist, zeigt Benni (36): Wenn er am Tag genügend Geld erbettelt, schläft er über Nacht im Hostel – wenn nicht, auf der Straße. „Mit Platzverweis kann man dann nichts machen den ganzen Tag“, sagt er: „Das Geld fürs Hostel kriegst du nie zusammen. Dann muss man wieder hierhin.“
Notunterkünfte als Alternative
Hostel als einzige Alternative zur Straße? Die Stadt Dortmund sieht das anders, verweist als Alternative immer wieder auf Notunterkünfte. „Die Stadt stellt sicher, dass jeder Mensch ein Übernachtungsangebot erhält“, heißt es. „Die Angebote der Stadt garantieren, dass Menschen nicht ohne Hilfe bleiben.“
Und in der Theorie mag das durchaus stimmen. Dortmund hat eine Männerübernachtungsstelle (70 Schlafplätze), eine Frauenübernachtungsstelle (50 Schlafplätze), das „Sleep-in Stellwerk“ für Jugendliche (10 Schlafplätze) sowie verschiedenste andere, teilweise kostenpflichtige Übernachtungsplätze.
Nach Angaben der Stadt könnten darüber hinaus jederzeit weitere Schlafplätze bereitgestellt werden, wenn diese benötigt würden – etwa in Flüchtlingsunterkünften.
Doch viele Wohnungslose wollen schlicht nicht in die Schlafstellen. Thomas Bohne, Leiter der Zentralen Beratungsstelle für wohnungslose Menschen der Diakonie, sagt: „Ich gehe schon davon aus, dass die Kapazitäten tatsächlich da sind. Es will nur nicht jeder. Dann statten wir die Leute mit Schlafsäcken aus.“

Nur in einem dünnen Schlafsack liegt dieser Mann direkt vor dem Haupteingang eines großen Bekleidungsgeschäfts. © Joscha F. Westerkamp
Woran das liegt? Das hat verschiedene Gründe. Felix, der nach zwei Nächten in der Notunterkunft seinen Schlafsack auch lieber wieder auf dem Westenhellweg ausbreitet, sagt: „In der Unterkunft ist es einfach ekelig. Da stehen mehrere Betten auf kleinstem Raum. Die Leute stinken, vor allem die Füße, das ist nicht auszuhalten. Und in den Duschen kriegt man Pilze."
Dazu ist Hygiene nicht das einzige Problem. „Viele Unterkünfte sind meist belegt“, sagt Michael. „Und das an der Unionstraße zum Beispiel kostet 7,80 Euro pro Nacht, das kann ich kaum bezahlen.“
Die Stadt Dortmund widerspricht all dem, betont, Hygiene- und Reinigungsmaßnahmen hätten einen „hohen Stellwert“, täglich reinige eine Fachfirma das gesamte Gebäude, bei Bedarf auch mehrfach.
Die Kapazitäten der Schlafplätze seien ausreichend; die Benutzungsgebühren vom Rat nach den Vorgaben der Abgabenordnung beschlossen. Sie ließen sich mit den Sozialleistungen, die die meisten Betroffenen erhielten, ohne Mehrkosten zahlen.
Bürokratie gegen Lebensrealität
Dr. Dierk Borstel, Professor für Praxisorientierte Politikwissenschaft an der FH Dortmund, forscht schon länger zu Wohnungslosigkeit in Dortmund. Er sagt: „Es entspricht definitiv nicht der Realität, dass jeder Wohnungslose untergebracht werden kann, der darum bittet.“
Vieles scheitere schlicht an der Bürokratie. „Da treffen zwei Systeme aufeinander, die nicht zueinander passen. Bei Obdachlosen geht es um Überleben, in jeder Nacht. Da ist: ‚Kommen Sie doch bitte in drei Wochen wieder‘ keine Perspektive. Das ist, wie wenn ich Ihnen sage: ‚Kommen Sie doch in 40 Jahren.‘“

Professor Dierk Borstel von der FH Dortmund lehrt vor allem Studierende der Sozialen Arbeit und hat zur Obdachlosigkeit in Dortmund geforscht. © picture alliance / dpa
Es brauche jemanden, der zwischen beiden Systemen vermittele – zum Beispiel einen Sozialarbeiter. Ein Punkt, an dem die Stadt Dortmund tatsächlich arbeitet. „Die Stadt möchte ihre Anstrengungen in diesem Bereich noch weiter verstärken und ausbauen“, teilt sie auf Anfrage mit. Stellenausschreibungen – etwa für zwei Stellen im Sozialamt – würden in Kürze veröffentlicht.
Doch am Weckdienst ändert das nichts mehr. Zu dem hat Dierk Borstel eine klare Meinung: „Verdrängung hat noch nie funktioniert. So schiebt man die Obdachlosen nur von einem Laden zum nächsten.“
Man müsse stattdessen mehr daran setzen, die Menschen zurück in Wohnungen zu bringen. Günstigere und schneller beziehbare Wohnplätze anbieten. „Aber die Wohnung allein ist es nicht. Es braucht Begleitung. Die Leute haben teilweise verlernt, zu wohnen.“
Kennenlernen statt Vertreibung
Dass eigene Wohnungen das Ziel sein müssen, weiß auch Thomas Bohne von der Diakonie. Seine Sicht auf den Weckdienst ist dennoch eine andere. Er sagt: „Von Seiten der Stadt ist es auch Zweck, die Leute kennenzulernen. Zu verstehen, warum sie die Angebote nicht annehmen. Ich erlebe es so, dass es nicht nur um reine Vertreibung geht.“
Was er sagt, scheint sich aber wenig mit dem zu decken, was die Betroffenen wahrnehmen. Felix etwa. Er wisse zwar, sagt er, wo er unterkommen könne – vom Weckdienst darauf angesprochen worden sei aber noch nie. „Das muss ja ganz schnell gehen. Und die vom Ordnungsamt sind immer unfreundlich.“

Eine Frau hat sich einen Schutz gegen Regen und Wind gebaut: Mit einem dünnen Schlafsack liegt sie unter einem Regenschirm und einer Pappe, die sie an ihrem Rollator aufgestellt hat. Mehr Schutz bietet ihr der überdachte Eingangsbereich dieses schon länger leerstehenden Geschäfts. © Joscha F. Westerkamp
Auch die anderen Betroffenen, mit denen wir sprechen, schildern eher einen unfreundlichen, keinen netten, kontaktsuchenden Weckdienst. „Freundlich kennenlernen? Schön wär‘s", sagt Benni. "Die wollen einen nur weghaben. Selbst ‚Weckdienst‘ sagen die doch nur, weil es in der Öffentlichkeit schön klingt. Ich kann mich selber wecken.“
Viele Besuche um 6 Uhr morgens in der City
Wir wollen uns selbst ein Bild machen, vom Weckdienst, von der ganzen Situation am frühen Morgen. Da das Ordnungsamt eine Begleitung durch Medienvertreter ablehnt und keine Auskünfte zu konkreten Einsatzzeiten gibt, entscheiden wir uns für die Variante „Warten und Beobachten“.
Eine Woche lang spazieren wir morgens den Osten- und Westenhellweg rauf und runter. Montag bis Samstag, ab sechs Uhr – solange, bis die meisten Obdachlosen wach sind.
An den Tagen Mitte Januar ist es um die null Grad kalt, zweimal regnet es. Während manche der Obdachlosen sich noch um acht Uhr im Schlafsack wälzen – teils direkt neben einer längst geöffneten Bäckerei –, bitten andere einen schon ab 6.30 Uhr um ein paar Cent.

Auch wenn er direkt vor der Tür des Ladens liegt, bietet dieser keinerlei Schutz, nicht einmal ein abstehendes Dach. Der Mann hat sich komplett in seinen Schlafsack vermummt. © Joscha F. Westerkamp
Doch der Weckdienst kommt die ganze Woche nicht. Auch die Anzahl der Menschen, die in der Einkaufsstraße schlafen, hält sich in Grenzen. Es sind meist die gleichen Personen, nur gut fünf pro Nacht. Das ist äußerst wenig, in Dortmund leben weitaus mehr Obdachlose. Thomas Bohne geht von etwa 400 bis 600 im Stadtgebiet aus, Dierk Borstel hat 2019 bei einer Feldstudie 606 ermittelt.
Das sonstige Treiben in der Einkaufsstraße ist dafür beachtlich. Ab sechs Uhr wischen Menschen die Schaufensterscheiben, andere räumen die Läden ein. Immer wieder kommen Müllwagen, Security-Autos, die Polizei fährt Streife. Doch sie ist nicht zuständig, lässt die Obdachlosen schlafen.
Ein, zwei Schlafsäcke liegen direkt vor den Eingangstüren, die anderen vor leerstehenden Geschäften. Ein Mann schläft nur in einer dicken Jacke, ein anderer hat sogar ein Zelt.

Vergleichsweise gut geschützt übernachtet dieser Mann in einem Zelt unter der Überdachung eines Geschäfts. © Joscha F. Westerkamp
Liegen die Menschen nah genug am Eingangsbereich der Geschäfte, sind sie nicht nur vor Kälte und Nässe, sondern auch vor dem Weckdienst geschützt: Eingriffsbefugnis des Ordnungsamts besteht nur im öffentlichen Raum. Für Privatflächen, etwa Eingangsbereiche, sind die Grundstücksbesitzer oder Ladeninhaber zuständig.
Wie ist der Erfolg des Weckdiensts messbar?
Wie hoch der „Erfolg“ des Weckdiensts bisher ist, lässt sich nur schwer bestimmen. Auch auf wiederholte Nachfrage gibt die Stadt dazu keine konkrete Antwort. Die Anzahl der angetroffenen campierenden Menschen schwanke nach wie vor täglich, heißt es, Platzverweisen kämen die Betroffenen „regelmäßig“ nach. Und das Ordnungsamt erledige den Weckdienst nach wie vor mit „hohem Engagement“.
Cityring-Vorsitzender Tobias Heitmann legt den Erfolg daran aus, wie viele Obdachlose und Hinterlassenschaften bei Ladenöffnung noch in der Einkaufsstraße liegen.
„Vielleicht kann der Weckdienst bewirken, dass die Menschen von alleine gehen und alles sauber hinterlassen. Dann habe ich auch überhaupt nichts gegen sie“, sagt er. Doch dieser Erfolg sei nur mittelmäßig. „Am Anfang hat das geklappt. Mit seltenerem Einsatz des Weckdiensts aber wieder weniger.“ Klar ist auch für Heitmann: „Eine endgültige Lösung ist der Weckdienst nicht.“
Gebürtiger Ostwestfale, jetzt Dortmunder. In der zehnten Klasse mit Journalismus und Fotografie angefangen. Liebt es, mit Sprache zu jonglieren – so sehr, dass er nun schon zwei Bücher übers Jonglieren geschrieben hat.