Ein Mensch stirbt in Scharnhost durch eine Kugel aus einer Polizeiwaffe. Das bringt in Dortmund eine Debatte zurück. Der Tod von Mouhamed Dramé in der Nordstadt hatte 2022 das Thema Schusswaffengebrauch durch Polizisten bundesweit neu ins Gespräch gebracht. Mit jedem neuen Fall und erst recht nach zwei Toten innerhalb kurzer Zeit kocht es wieder hoch.
Vieles ist Emotion, gefühlte Wahrheit. Manches ist Spekulation. Das gilt auch für den Tod von Nejib B. (70) in Scharnhorst. Der genaue Ablauf des Einsatzes vom 14.3. wird weiter untersucht.
B. hatte zu dem Zeitpunkt, zu dem er erschossen wurde, ein Messer in der Hand. Die Staatsanwaltschaft geht bisher davon aus, dass die Polizeibeamten durch B.s Bewegung und Verhalten einen Angriff hätten erwarten dürfen. Gegen den 24-jährigen Polizisten, der den Schuss abfeuerte, läuft ein Verfahren wegen Totschlags. Ob es zu einer Anklage kommt, steht noch nicht fest.
22 Tote im Jahr 2024
Die Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/Cilip listet in einer Online-Datenbank alle polizeilichen Todesschüsse in Deutschland seit 1976 auf. Die Zeitschrift betreibt nach eigener Beschreibung „kritische Analysen zur Politik und Praxis Innerer Sicherheit in Deutschland und Europa“.
Die Zahlen sind speziell für die Zeit nach dem Tod von Mouhamed Dramé auffällig. 2024 verloren 22 Menschen durch Polizeischüsse ihr Leben, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr und so viele wie seit vier Jahrzehnten nicht mehr.
In den ersten drei Monaten des Jahres 2025 kam es laut der Datenbank bisher bereits zu sieben Todesfällen durch Schusswaffengebrauch von Polizeibeamten in Deutschland.

Für Dortmund stellen sich spezielle Fragen. Gibt es Hinweise darauf, dass hier - wie es in Kreisen benachbarter Polizeibehörden hinter vorgehaltener Hand formuliert wird - schneller die Waffe als Einsatzmittel gewählt wird als in anderen Städten?
Tödliche Schüsse in Dortmund
Für Dortmund sind in der Datenbank 6 Todesfälle seit 1976 aufgelistet, drei davon in den vergangenen drei Jahren: Der aktuelle Fall in Scharnhorst, einer aus dem Jahr 2024, als ein Obdachloser Polizisten angriff, sowie der Fall Dramé.
Für die Zeit davor sind tödliche Schüsse bei einer Geiselnahme in einer Bank 1977 aufgeführt, des Weiteren zwei Schüsse auf einen Kiosk-Räuber 2006 und ein Schusswechsel 2016 bei einem SEK-Einsatz in der Wohnung eines wegen Kindesmissbrauchs und Zuhälterei gesuchten Mannes.
Vergleich mit anderen Städten
Der Vergleich mit anderen Städten ähnlicher Größe zeigt, dass Dortmund zumindest nicht aus der Reihe fällt. Düsseldorf kommt auf 7 Fälle, Essen auf 5, Münster auf 2. Berlin (32), Hamburg (28) und München (26) führen die Liste erwartungsgemäß an. In zwölf Städten gibt es mehr tödliche Polizeischüsse als in Dortmund.
Eine weitere Annäherung auf die Frage nach speziellen Bedingungen in Dortmund ermöglicht der Blick auf die Gesamtzahl der von Polizisten in NRW abgegebenen Schüssen und der Dortmunder Anteil daran.
Wie das NRW-Innenministerium auf Anfrage dieser Redaktion mitteilt, gab es im Jahr 2024 insgesamt 13-mal einen Schusswaffengebrauch unmittelbar gegen Personen, einmal auf eine Person in einem Fahrzeug. Auffällig ist die Zahl der Getöteten: 7 Menschen verloren ihr Leben - das ist der höchste Wert der vergangenen zehn Jahre.
Zahlen relativ gleichbleibend
Der Langzeitvergleich zeigt: Ab 2017 steigen die Fälle von 14 auf 26 deutlich an - und bleiben seitdem auf diesem Niveau. Es gibt einzelne Ausreißer nach unten, etwa 2019 und 2024.
Ein Sprecher der Polizei Dortmund teilt am Freitag (21.3.) auf Anfrage dieser Redaktion zu den lokalen Zahlen mit: „Der Einsatz der Schusswaffe befindet sich seit dem Jahr 2020 immer in einem niedrigen zweistelligen Bereich.“
2024 gab es zwei Schusswaffengebräuche gegen Menschen. – einer davon war der an der Reinoldikirche, der für einen Mann (51) tödlich endete. In einem weiteren Fall im Juli 2024 drohte ein Polizist in Hörde einen Schuss an, feuerte ihn aber schließlich nicht ab.
2023 kam es zu drei Schussabgaben auf Personen, für 2022 sind zwei Fälle verzeichnet. 2021 gab es zwei Vorkommnisse dieser Art, 2020 keins.
Zur Tötung von Tieren wurde die Waffe in den einzelnen Jahren zwischen 13- und 26-mal eingesetzt.
In der davorliegenden Zeit sind nur vereinzelt Einsätze der Dienstwaffe gegen Menschen in Dortmund öffentlich geworden, etwa ein gezielter Beinschuss gegen einen aggressiven Mann 2017 in Lütgendortmund.
Der Schusswaffengebrauch bewegt sich nach Recherchen dieser Redaktion in einer ähnlichen Dimension wie in Polizeibehörden von vergleichbarer Größe, zum Beispiel Düsseldorf.
Gefahr von Messerangriffen
Ein Sprecher des NRW-Innenministeriums sagt zur Einordnung der Statistik: „Gewaltsame, manchmal sogar lebensbedrohliche Angriffe, zum Beispiel mit einer Schusswaffe oder einem Messer, stellen Polizistinnen und Polizisten vor sehr große Herausforderungen. Ein einzelner Messerstich kann unter bestimmten Umständen zu schweren Verletzungen oder gar zum Tod führen.“
Der Gebrauch der Dienstwaffe sei deshalb „immer das letzte zur Verfügung stehende geeignete Mittel, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben abzuwenden und Teil eines äußerst schwierigen, hochdynamischen und komplexen Polizeieinsatzes“.
Der Ministeriumssprecher: „Polizistinnen und Polizisten in NRW gehen verantwortungsvoll mit ihrer Schusswaffe um. Dazu tragen die gute Vorbereitung und ein regelmäßiges Training bei.“
Die große Mehrzahl der Dienstwaffengebräuche richtet sich gegen gefährliche, kranke oder verletzte Tiere. 2182 kam das im vergangenen Jahr in NRW vor.
Das Innenministerium weist darauf hin, dass es kein „Ranking“ der einzelnen Polizeibehörden vornehme.

Statistisch liegt Dortmund also insgesamt im Rahmen. Es fällt dennoch die Häufung der tödlichen Schüsse der zurückliegenden drei Jahre auf. Dies gab es so ähnlich sonst noch in Städten wie Mannheim und Nürnberg.
Rafael Behr ist Professor für Polizeiwissenschaften am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg. „Es dürfte Zufall sein, dass es in manchen Orten häufiger passiert. Ich sehe eher Unterschiede zwischen Metropolregionen und ländlichen Regionen“, sagt er. In großstädtisch geprägten Gebieten sei die Konfrontation mit extremen Straftaten und unberechenbaren Personen in psychischen Ausnahmezuständen häufiger.
Rafael Behr sagt: „Natürlich geht einem einiges durch den Kopf. Aber es ist noch zu früh, um von einer kontinuierlichen Entwicklung zu sprechen.“ Er verdeutlicht: „Die absoluten Zahlen sind 10 und 22. Das ist noch kein Grund, von einer strukturellen Problematik oder Tendenz zu sprechen, die die gesamte Polizei betreffen.“
Unterschiedliche Einschätzungen
Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum kommt zu einer etwas abweichenden Einschätzung. Tödlicher Schusswaffengebrauch von Polizisten und Polizistinnen steht nach seiner Beobachtung auffällig häufig am Ende von Einsätzen, bei denen zuvor ein Messer im Spiel war. Feltes war für einige Zeit auch über die Nebenklage am Polizisten-Prozess in Dortmund beteiligt.
Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagt er: „Ist ein Messer im Spiel, läuten bei den Polizisten ohnehin alle Alarmglocken. Spektakuläre Messerangriffe der jüngeren Zeit – sei es Mannheim oder Aschaffenburg – haben die Polizisten aber auf besondere Weise zusätzlich sensibilisiert.“
Das könne dazu führen, dass man früher zur Schusswaffe greife. „Und über allem schwebt eine insgesamt brutaler werdende Gesellschaft, die auf eine Polizei trifft, die glaubt, dagegen besonders robust auftreten zu müssen“, so Feltes.
Was bewirken die Freisprüche?
Feltes‘ Hamburger Kollege Rafael Behr spricht sich „im Moment“ gegen eine „Dramatisierung“ aus. Aber er ist auch weit davon entfernt, die Entwicklung zu verharmlosen. „Wir müssen vorsichtig gucken: Was ist die Rechtfertigungslogik, wie wird kommuniziert, wie wird trainiert?“
Er macht auch durch die Freisprüche für die im Fall Mouhamed Dramé angeklagten Polizistinnen und Polizisten im Dezember 2024 eine Entwicklung aus, die ihm Anlass zur „Sorge“ biete.
„Milde Urteile oder Freisprüche sprechen sich in der Polizei herum und das kann als Normalisierungsdiskurs wahrgenommen werden“, sagt Behr. Empirisch sei das nur schwierig zu überprüfen. Aber die Gefahr, dass die Toleranzgrenze für den Schusswaffeneinsatz sinke, sei gegeben.

Was der Polizeiwissenschaftler vermisst, ist die ernsthafte Bemühung darum, „nicht-letale“, also nicht Schmerz auslösende oder tödliche Einsatzmittel zu finden. „Mich wundert, dass da keine Energie hineinfließt“, sagt Rafael Behr.
Für Polizisten wachse die Zahl der Konfrontationen mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen tendenziell. Aber die Methoden, damit umzugehen, entwickeln sich nur langsam weiter.
Nach dem Fall Dramé hatte das Innenministerium Änderungen im Ausbildungsplan für Polizistinnen und Polizisten angekündigt. Es war zuletzt jedoch deutlich geworden, dass es tatsächlich nur wenige Theorie-Stunden mehr sind, die den Umgang mit solchen Situationen betreffen. Die grundsätzliche Einsatztaktik habe sich nicht geändert, sagen Polizeibeamte selbst.
„Zeit und Abstand wahren“
Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes sieht einen anderen Weg als zielführender an. „Was vonnöten ist, damit solche Einsätze nicht eskalieren, ist, Zeit zu gewinnen und Abstand zu wahren.“
Das sei nicht immer möglich, räumt er gegenüber der dpa ein. „Ist eine gewisse Distanz unterschritten, ist die Situation unumkehrbar. Dann muss der Beamte von der Schusswaffe Gebrauch machen, um sich oder die Kollegen zu schützen.“ Auch ein Schuss in die Beine oder gar auf die messerführende Hand sei nicht realistisch.
Während die Ermittlungen im Scharnhorster Fall weitergehen, tut sich auch im Gerichtsverfahren zum Fall Dramé etwas. Mittlerweile liegt das im Dezember gefällte Urteil des Landgerichts Dortmund schriftlich vor. Damit kann die von der Staatsanwaltschaft und Nebenklage angekündigte Revision gegen das gesamte Urteil beziehungsweise Teile davon auf den Weg gehen.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 19. März 2025. Wir haben den Text am 21. März 2025 um aktuelle Zahlen der Polizei Dortmund zu Schussabgaben in den Jahren 2020-2025 ergänzt, die erst zu einem späteren Zeitpunkt vorlagen.