Das Handy klingelte, als Carsten Dombert gerade eine Gassirunde mit dem Familienhund drehte. Es war gegen 19 Uhr am 8. August 2022. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Kriminalpolizistin aus Recklinghausen. Mordkommission. Sie berichtete kurz von einem Polizeieinsatz.
Dortmunder Nordstadt, zwölf Beamte, am Ende ist ein 16-Jähriger tot. Getroffen von fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole. „Irgendwas ist da merkwürdig“, habe die Beamtin gesagt, erinnert sich Dombert fast zweieinhalb Jahre später. Es ist ein Gefühl, dass auch den Oberstaatsanwalt nicht loslassen wird. Zwölf Beamte, ein Jugendlicher. Hätte man das nicht anders lösen können?
Um diese entscheidende Frage geht es im Prozess gegen fünf am Einsatz beteiligte Polizeibeamte, der am Donnerstag (12.12.) am Dortmunder Landgericht sein Ende gefunden hat. Dass sie dort sitzen, liegt daran, dass Dombert sie angeklagt hat, wegen Totschlags, gefährlicher Körperverletzung und der Anstiftung dazu. Das Urteil fällt am 12. Dezember 2024: Alle Angeklagten werden freigesprochen.
58 Mordkommissionen in einer Karriere
Wir treffen Carsten Dombert in einem Besprechungsraum der Staatsanwaltschaft Dortmund. Das Urteil steht da erst noch aus. Hinter dem 61-Jährigen reihen sich in Regalen die dicken Bände des Bundesgesetzblatts auf. Vor ihm auf dem Tisch steht eine Tasse. Falls er den Kaffee darin immer in dieser Stärke trinkt, darf die innere Ruhe, die der Oberstaatsanwalt nicht nur hier, sondern auch im Gericht ausstrahlt, durchaus verwundern.
Aber vielleicht bringt auch Kaffee nicht ins Wanken, was 58 Mordkommissionen in über 30 Jahren bei der Staatsanwaltschaft nicht geschafft haben. „Ich kann da sehr gut trennen und nehme die Fälle nicht unbedingt mit ins Private“, sagt Dombert.
Er sieht das nicht als emotionale Kälte an, eher als gebotene Professionalität – und vielleicht auch als eine gute Portion Selbstfürsorge. „Wenn ich an jedes der 58. Tötungsdelikte emotional herangehen würde, dann wäre ich irgendwann ein geistiges Wrack“, glaubt der 61-Jährige, der seit elf Jahren als Oberstaatsanwalt anklagt. Bevor er in den Bereich der Kapitalverbrechen wechselte, ermittelte er lange im Bereich der organisierten Kriminalität.
Aber das, mit dem nicht nach Hause nehmen, sei „beim Mouhamed-Prozess sicherlich schwieriger“ gewesen. „Mir war relativ schnell klar, dass das ein Verfahren sein wird, das sehr im Fokus stehen wird“, sagt Dombert.
Bereits am Tag nach dem Einsatz stand das Telefon in Domberts Büro nicht still. Journalisten stellten Fragen zum Einsatz. Der Staatsanwalt weiß: Die Konstellation hat Sprengkraft. Auf der einen Seite das Opfer, der 16-jährige Mouhamed Dramé, ein schwarzer Geflüchteter aus dem Senegal.
Der größte Polizeiprozess seit dem zweiten Weltkrieg
Auf der anderen Seite zwölf am Einsatz beteiligte Polizeibeamte. Fünf davon wird er später anklagen. Es sind so viele, wie bei keinem anderen Polizistenprozess in Nachkriegsdeutschland.
Polizei und Staatsanwalt starten gerade ihre Ermittlungsarbeit, da beginnt der Kampf um die Deutungshoheit. Für die Rechten sei schnell klar gewesen, der Flüchtling sei selbst schuld, wenn er mit einem Messer auf die Polizei zulaufe. Für Linke hingegen habe schnell fest gestanden, dass die Polizei den Jugendlichen aus rassistischen Motiven erschossen habe.
In seinem Plädoyer schiebt der Staatsanwalt dem Rassismusvorwurf einen deutlichen Riegel vor. Man habe bei keinem der Angeklagten auch nur das kleinste Anzeichen für eine solche Haltung finden können.

„Ohne jemals vor Ort gewesen zu sein oder Kenntnis von der Aktenlage zu haben, wusste jeder, wie es abgelaufen sein musste“, sagte der Oberstaatsanwalt in seinem Plädoyer am 2. Dezember. Er hebt die politische Dimension des Falls als Besonderheit hervor. Es gab Demonstrationen, Mahnwachen, Podiumsdiskussionen, zig Nachrichten in Kommentarspalten und Twitter-Posts.
Druck von verschiedenen Seiten
Druck habe es von verschiedenen Seiten gegeben, sagt der Oberstaatsanwalt. Nachgegeben habe er diesem nie. „Das wäre auch fatal. Wenn ich mich nach gesellschaftlichen Strömungen richten würde, wären meine Entscheidungen nicht an Gesetz und Recht orientiert, sondern nach politischer Couleur. Das geht nicht. Dann könnten wir den Laden gleich dichtmachen“, sagt Dombert energisch.
„Wir können es nicht jedem recht machen und darum müssen wir nach Recht und Gesetz handeln und nach unserem besten Wissen und Gewissen. Und das haben meine Kollegin Frau Yazir und ich getan.“
Es ist nicht nur ein Mantra, das Dombert herunterbetet. Die Professionalität des Oberstaatsanwalts zweifelten die am Prozess beteiligten Anwälte in Gesprächen nie an – weder die der angeklagten Beamten noch der Nebenklage.
Doch auch wenn Dombert sagt, er habe nie Druck verspürt. Die politische Dimension des Prozesses macht ihm seine Arbeit zumindest nicht gerade leichter.
Der Innenminister äußert sich
Auch NRW-Innenminister Herbert Reul äußerte sich kurz nach dem 8. August 2022 öffentlich zu dem Einsatz. Gegenüber dem WDR stellte er einen Ablauf dar, der so nicht von den Ermittlungsergebnissen gedeckt war. Der Oberstaatsanwalt hörte das Statement damals im Radio. Reul sagte: „Und derjenige ist immer aufgeregter, ich sag‘ mal angespannter, aggressiver auf die Polizisten zugerannt. Und in dieser Situation ging es um die Frage: Sticht der zu, oder schießt die Polizei?“
Reul zeichnete in dieser Aussage ein Bild von Mouhamed Dramé als Angreifer. Es ist eine Darstellung, die sich für Dombert damals so nicht darstellte und die er auch nach 31 Verhandlungstagen nicht sieht.
Er habe die Äußerung Reuls zur Kenntnis genommen, wie die anderen Dinge auch, die über den Fall geschrieben worden seien. „Ich lasse mich davon nicht ablenken. Ich bewerte ausschließlich nach den Akten“, sagt Dombert. „Mir war in dem Moment aber bewusst, dass ich deutlich machen muss, wer Presseauskünfte über die Ermittlungsergebnisse gibt.“
Das war er als Oberstaatsanwalt. Ausschließlich. Nicht die Polizisten der Mordkommission, nicht die Polizeipräsidenten aus Dortmund und Recklinghausen. „Ich habe ausrichten lassen, dass ich genau prüfen werde, ob es sich um den Verrat von Dienstgeheimnissen handelt, wenn jemand anderes etwas preisgibt.“

Dombert spricht ein Machtwort
In Recklinghausen habe er aber einen Oberregierungsrat gebeten, das unmissverständlich an all die Stellen weiterzuleiten, die es angeht. Für diese Deutlichkeit habe er auch Erstaunen geerntet. An das Innenministerium habe er diese Botschaft nie direkt gerichtet, sagt Dombert. „Aber letztlich hat es funktioniert. Dann war Ruhe.“
Er nehme Herrn Reul die Aussage nicht übel. „Er scheint falsch informiert worden zu sein. Wozu ein Politiker sich äußert, steht ihm frei. Aber wenn es um das Mitteilen von Ermittlungsergebnissen geht, ist das eine andere Geschichte.“ Auch Reul äußert später Zweifel an der Rechtmäßigkeit.
Dombert ist überzeugt: „Die Gesellschaft hat ein Anrecht darauf, zu erfahren, was sich zugetragen hat.“ Deshalb habe er im Ermittlungsverfahren Interviews gegeben. Er habe Transparenz schaffen wollen, über die „objektiven Ermittlungsergebnisse“, um Spekulationen vorzubeugen.
Einen Tag nach dem Einsatz verschaffte sich Dombert selbst einen Eindruck am Tatort, dem Innenhof der Jugendeinrichtung, die den Jugendlichen aufgenommen hatte. Der Staatsanwalt sah die Schlagmarken, die die Projektile hinterlassen haben.
„Merkwürdiges Gefühl dort zu stehen“
„Es ist ein merkwürdiges Gefühl, dort zu stehen, wo ein Mensch so angeschossen worden ist, dass er kurz darauf stirbt“, sagt Dombert. „Bedrückend“, findet er als Beschreibung für das Gefühl, das er empfunden habe. Der jüngste seiner drei Söhne sei zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt gewesen. Etwas jünger als Mouhamed, als dieser starb. „Hat man selbst ein Kind in diesem Alter, stimmt einen das schon etwas nachdenklicher“, sagt der Vater. Es bleibt die Frage: Hätte man das nicht anders lösen können?
Carsten Dombert beantwortet diese Frage für sich mit Ja. Der Oberstaatsanwalt äußerte schon früh Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einsatzes. Im Februar 2023 klagte er die Beamten an. Im Besprechungsraum der Staatsanwaltschaft sitzend, sagt er mit ruhiger Stimme: „Es blieb nichts anderes übrig, als Anklage zu erheben.“
Denn was sich objektiv zugetragen hatte, sei klar gewesen. Über Mitschnitte von Funk und Notruf und durch Zeugenaussagen lässt sich das Bild rekonstruieren. Die Ermittler werten Chatprotokolle der Beamten aus, Sachverständige werden gehört.
„Ein junger Mann saß in suizidaler Absicht an einer Kirchenmauer, mit einem Messer am Bauch. Die Polizeibeamten kamen. Es war eine statische, ruhige Lage und plötzlich erfolgte die Anweisung ,Einpfeffern‘. Eine Minute und achtunddreißig Sekunden, nachdem man den jungen Mann angesprochen hatte. Das Pfefferspray wurde eingesetzt. In der Situation sprang Mouhamed Dramé auf, lief aus diesem Mauervorsprung heraus, in die einzige Richtung, die für ihn offen war und dann wurde geschossen“, schildert Dombert kurz die Sachlage. „Das ist, was sich zugetragen hat. Das lässt viele Interpretationen offen.“
„Hätten sie sich vielleicht ersparen können“
Mouhamed könne man nach seiner Motivation nicht mehr fragen, denn er lebe nicht mehr. Aber die angeklagten Beamten hätten sich vor der Hauptverhandlung äußern können. „Ich habe sämtliche Beamte einen Monat nach der Tat zur staatsanwaltschaftlichen Beschuldigtenvernehmung eingeladen“, sagt Dombert. Alle hätten durch ihre Anwälte verkünden lassen, dass sie schweigen werden. „Es ist ihr gutes Recht, dass sie sich nicht geäußert haben“, sagt der Oberstaatsanwalt, aber so habe er nach der Aktenlage entschieden, die ihm vorlag.
Dombert macht aber auch klar: Der größte Polizisten-Prozess in diesem Land, er hätte so nicht stattfinden müssen. „Wenn die Beamten sich schon früher eingelassen hätten, wie sie sich später eingelassen haben, dann hätten sie sich viel ersparen können.“ Denn durch die Aussagen sei für ihn klar geworden, dass die Beamten in der Situation einem Irrtum unterlagen. Sie bildeten sich eine Notwehrlage ein, die so nicht existiert habe.

Denn Mouhamed habe nicht angreifen wollen, dafür gibt es laut Dombert objektiv keine Anhaltspunkte. Er habe keinen Groll gegen Polizeibeamte gehegt. Am Tag vor seinem Tod hatte er in der Wache Nord Hilfe gesucht, die am nächsten Tag die Polizeibeamten zu ihm schickte. „Selbst als er mit Pfeffer vollgesprüht wird, benimmt er sich nicht wie ein Berserker, sondern dreht sich nach rechts weg. Fatalerweise hält er das Messer in der Hand“, sagt Dombert: „Aus dem Gesamtkontext muss man doch schließen, dass das nicht mit Angriffswillen war. Und damit war es auch keine Notwehrhandlung der Beamten.“
Aber er hält das Messer in der Hand und damit bleibe eine gewisse Unsicherheit. Die Beamten hätten nachvollziehbar dargestellt, dass sie glaubten, sich oder ihre Kollegen verteidigen zu müssen. Juristisch hätten sie also einem „Erlaubnistatbestandsirrtum“ unterlegen, begründet Dombert seine Entscheidung. Hätten die Beamten ihre Wahrnehmung schon früher mit ihm geteilt, dann hätte wohl nur der Einsatzleiter vor Gericht gesessen, sagt der Oberstaatsanwalt. „Ich kann ja nicht sagen: Ja, es war ein Erlaubnistatbestandsirrtum, ist mir aber egal. Ich klag’s trotzdem an, das geht nicht.“
Einsatzleiter setzte Kette in Gang
Der Einsatzleiter Thorsten H. habe die tragische Kette nach Auffassung der Staatsanwaltschaft mit seiner Anweisung erst in Gang gesetzt. „Da ist stumpf die erste Planung umgesetzt worden, ohne dass man, konkret noch einmal nachgeschaut hat: Was trägt sich denn da zu?“, formulierte Dombert in seinem Plädoyer.
Das ist, was er Thorsten H. vorwirft. „Ohne seine Anweisung wäre das alles nicht passiert. Das muss man deutlich sagen. Der Verlauf wäre ein anderer gewesen. Ich vermag nicht zu sagen, welcher.“ Aber es sei auch nicht seine Aufgabe, zu bewerten, was gewesen wäre. Seine Aufgabe sei, zu bewerten, was war und das in eine rechtliche Forderung zu gießen.
Am Ende landet er in Absprache mit seiner Kollegin Gülkiz Yazir bei einer Forderung von zehn Monaten auf Bewährung für Thorsten H. Im Grunde ist es eine Rechnung, was muss man dem Angeklagten vorwerfen, was kann man ihm zugutehalten? Man habe auch im Hinterkopf gehabt, dass der Dienstgruppenleiter kurz vor der Pensionierung steht. Bei einer Strafe von zwölf oder mehr Monaten verliert er automatisch seine Pensionsansprüche. „Das wäre für ihn fatal. In seinem Alter findet er auch keinen neuen Job mehr“, sagt Dombert. Letztlich kommt die Forderung nicht zum Tragen: Das Gericht spricht in seinem Urteil auch Thorsten H. frei.
„Für Herrn S. ging es ja um sehr, sehr viel“
Hier im Besprechungsraum der Staatsanwaltschaft, aber auch im Gericht, vermittelt Carsten Dombert den Eindruck, über den Dingen zu stehen. Nicht in einer arroganten Art, sondern eher so, dass er von außen das Geschehen betrachtet, während er doch gleichzeitig mittendrin ist.
Dombert ist sich dessen bewusst, dass die Beamten seinetwegen auf der Anklagebank sitzen. Aber grundlegend dafür seien ihre Handlungen und Entscheidungen in diesem Einsatz vom 8. August, die der Oberstaatsanwalt nicht zu verantworten hat. Er macht deutlich, seine persönlichen Empfindungen würden in diesem Fall überhaupt keine Rolle spielen. Gegen keinen der Beamten habe er persönlich etwas.
Dass der Schütze Fabian S. während des Prozesses Interviews gab, um seine Sichtweise darzustellen, bezeichnet Dombert als „ungewöhnlich“. Erlebt habe er das so noch nie. Gleichzeitig verurteile er es nicht. „Er war in einer besonderen Situation, das muss man berücksichtigen. Um und für Herrn S. ging es ja um sehr, sehr viel. Da finde ich es legitim, dass man sämtliche Register zieht.“
Was bleibt für den Staatsanwalt?
Aber was bleibt für Casten Dombert persönlich in diesem Fall? Ein paar Jahre vor der Rente hat Dombert noch als Oberstaatsanwalt. Wie wird er wohl im Ruhestand auf diesem Fall zurückblicken? Dombert überlegt, es werde auf jeden Fall einer seiner drei großen Fälle als Staatsanwalt sein.
Das Medieninteresse sei im Prozess zum Anschlag auf den BVB-Mannschaftsbus noch größer als in diesem Fall gewesen, sagt der 61-Jährige. Medien seien aus aller Welt gekommen. Aber das Interesse sei nicht so konstant gewesen wie im Fall Mouhamed. Auch die gesellschaftspolitische Dimension sei nicht so groß gewesen.
An den Prozess gegen den Dortmunder Handgranaten-Mörder Norman Franz, der weiter gesucht wird, werde er dann zurückdenken, sagt Dombert. „Aber dort war das Medieninteresse Mitte der 90er-Jahre noch ein ganz anderes.“
Aber wenn er all seine Aspekte einbeziehe, rage der Tod von Mouhamed Dramé heraus. 2.500 Seiten, 70 Leitz-Ordner haben die Ermittler zu einem Sachverhalt zusammengetragen, der am Ende nur Minuten dauerte. Dombert überlegt noch einmal kurz: „Wenn ich darauf angesprochen werde, werde ich sagen: Das war sicherlich der prominenteste, schwierigste und größte Fall, den ich je hatte.“