„Da waren ja abends alle Kneipen voll“ Die Geschichte des Kneipensterbens in Castrop-Rauxel

Strandcafé, Schlüter und Co.: Die Geschichte des Kneipensterbens
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In den 50er Jahren war in den Castrop-Rauxeler Kneipen noch alles anders: Im Haus Oestreich auf Schwerin, das schon 1900 eröffnet wurde, ist es rappelvoll. „Die Leute standen Schulter an Schulter“, erinnert sich Friedhelm Zdunek, Enkel des Kneipengründers Carl Oestreich, an den Tag, als Helmut Rahn Deutschland 1954 zum ersten WM-Titel schoss und sich Schwerin zum Schauen in der Gaststätte traf. Viele werden den kleinen Fernseher wohl gar nicht gesehen haben. Es kamen Kumpels, Milchbauern, Kleinhändler. Das war die Regel, nicht die Ausnahme. Zdunek sagt deshalb: „Das hier war das eigentliche Zentrum von Schwerin.“

Die Geschichte des Haus Oestreich auf Schwerin ist lang, um genau zu sein, 124 Jahre.
Die Geschichte des Haus Oestreich auf Schwerin ist lang, um genau zu sein, 124 Jahre. © Archiv

Das Haus Oe ist damals eine von 17 Kneipen allein auf Schwerin; seit 2012 der Kronen-Treff schloss, ist es die einzige im Stadtteil. Heute kommt die ganze Europastadt kaum auf 17 Kneipen. Geht es jetzt um Kneipen, dann oft mit dem Zusatz Sterben – und das schon seit Jahren.

Nur noch drei Altstadtkneipen

Bereits 2019 berichteten wir unter dem Titel „Kneipensterben: Die Kneipenszene in Castrop schrumpft immer weiter“, dass es nur noch sechs klassische Kneipen in der Castroper Altstadt gibt: den Treffpunkt an der Lönsstraße, die Kulisse an der Münsterstraße, Zum Bus an der Straße im Ort, das Treppchen am Lambertusplatz sowie die Klapsmühle und die Marktschänke, beide an der Mühlenstraße. Fünf Jahre später sind von diesen sechs wiederum nur noch drei geblieben, die Kulisse, der Treffpunkt und die gerade frisch auf die andere Straßenseite gezogene Marktschänke. Das Kneipensterben in Castrop geht also weiter. Aus dem Treppchen wurde die Punta Cana, die aber nach nur einem Jahr und einem Brand wieder schloss. Seitdem stehen die kleinen Räumlichkeiten offensichtlich leer. Auch die Klapsmühle ist zu, nachdem aus ihr für nur einen Monat die Bauernstube und dann der 11er wurde. Immer wieder wechselnde Namen und Betreiber, das zieht sich durch viele Kneipenstandorte in Castrop.

Die Gaststätte Zum Treppchen am Lambertusplatz in der Castroper Altstadt in den sechziger Jahren. Aktuell gibt es hier keine Kneipe mehr.
Die Gaststätte Zum Treppchen am Lambertusplatz in der Castroper Altstadt in den sechziger Jahren. Aktuell gibt es hier keine Kneipe mehr. © Archiv

Zuletzt machte wohl auch die Kneipe Zum Bus zu. Im Fenster der Kneipe, die wie die Nachtschicht am Bahnhof von Athanasis Topalli betrieben wird, hing vergangenen Sommer ein Zettel, dass sie „vorübergehend geschlossen sei“ und: „Wir bedanken uns für die schöne Zeit, die wir mit euch erleben durften.“ Das klang schon sehr nach Abschied, zumal die Kneipe seitdem dicht ist.

Viele Stadtteile ganz ohne Kneipe

Doch nicht nur in der Altstadt haben in den vergangenen Jahren viele Kneipen schließen müssen. Alle Stadtteile sind betroffen. In Ickern entstanden die ersten Gaststätten, laut Recherchen von Mario Pallasch aus dem Ickerner Stadtteilverein, schon 1870, als dort damals der Bergbau begann. Manche von ihnen, so Pallasch, überdauerten lange Zeit, wurden echte Tradition, manche Kneipen verschwanden jedoch auch schon damals schnell wieder vom Markt. Viele der ehemaligen Kneipen erkenne man noch heute ganz leicht: Denn typisch für die Gaststätten-Konstruktion war lange Zeit der Eingang an der Hausecke, die dafür abgeschrägt war, um hier eine breite Eingangstür einbauen zu können. In der Hochzeit gab es in Castrop-Rauxels größtem Stadtteil ganze 32 Kneipen – die Ickerner Schachtmarken erzählen von ihnen. Heute gibt es im Stadtteil nur noch zwei Kneipen, das Haus Uebersohn und Die Zwei, die gerade ihren dritten Geburtstag feierte.

Auch in Ickern gab es lange eine Gaststätte Zum Treppchen. Heute befindet sich in dem Gebäude eine Zahnarztpraxis, doch mit einer Schachtmarke erinnert der Stadtteilverein an seine Geschichte.
Auch in Ickern gab es lange eine Gaststätte Zum Treppchen. Heute befindet sich in dem Gebäude eine Zahnarztpraxis, doch mit einer Schachtmarke erinnert der Stadtteilverein an seine Geschichte. © (Archiv) Schroeter/Mein Ickern

In Obercastrop gibt es gerade nur das Brauhaus Rüttershoff. 2013 wurde dort die Bahía de Cochinos geschlossen. Fünf Jahre lang gab es in dieser entschieden linken Kneipe, deren spanischer Name auf die Schweinebucht auf Kuba referenzierte, viele Konzerte und Lesungen. Die letzte Kneipe in Pöppinghausen, Fenken-Köster, schloss schon Ende der 90er. Merklinde ist seit der Schließung der Traditionsgaststätten Hoffmann und Altdeutsche Bierstuben ebenso eine komplett kneipenfreie Zone.

Schwere Nachfolgersuche

Das blieb Frohlinde zwar erspart, doch auch hier machten viele Kneipen zu. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gab es noch fünf Gasthäuser. Inzwischen ist nur noch das Haus Ratte geblieben, das die ehemaligen Betreiber Elfi und Peter Ratte seit 2015 verpachten: „Einen Pächter zu finden, ist heutzutage immer sehr schwer“, sagte Peter Ratte schon damals. Er hatte Glück und fand Michael Henke, der seitdem die Geschicke leitet. Auch im Dingener Haus Rüther, der einzigen Kneipe im Dorf, fand die Eigentümerin Maria Rüther-Hüsken 2019 erst nach monatelanger Suche einen Nachfolger. Die Familie Yesilyurt übernahm Kneipe, Kegelbahn und Saal.

In Dorf Rauxel war viele Jahre lang die Molle eine Institution. Ende der 70er Jahre wurde sie von Wolfgang Peters eröffnet. „Mit der Molle entstand dann eine richtige Szenekneipe“, sagt Karl-Heinz Strömer, der häufig Gast war. Nach Wolfgang Peters ist sie von Thomas Montag bis 2003 weitergeführt worden. Dann war Schluss. Heute gibt es auch hier keine Kneipe mehr.

An guten Tagen, wie hier beim fünften Geburtstag, war in der „Schweinebucht“ viel los. 2013 wurde  die Bahía de Cochinos geschlossen.
An guten Tagen, wie hier beim fünften Geburtstag, war in der „Schweinebucht“ viel los. 2013 wurde die Bahía de Cochinos geschlossen. © Christian Püls

Das Wegbrechen vieler Kneipen hatte natürlich auch schwere Folgen für die Castrop-Rauxeler Vereine. Wolfgang Fröhling, zweimaliger König und Ex-Kaiser der Rauxeler Schützen, sagte mit Blick auf die Mitgliederzahlen der Schützen: „Mit den Zechenschließungen und dem Kneipensterben begann in den 80er-Jahren der Niedergang.“ Und fügte hinzu: „Wir hatten früher zwölf Kneipen in Rauxel. Da wurde beim Bier immer mal auch ein Mitgliedsantrag unterschrieben. Die Kneipen sind heute weg – und damit auch die Anlaufpunkte.“ Inzwischen gibt es in Rauxel nur noch die Nachtschicht und das Gleis 4 am Bahnhof, um das es gerade großen Ärger gibt.

Weitere Castrop-Rauxeler Kneipen gingen über die Jahre verloren: Das Rauxeler Stübchen, der Alte Markt, der Holz Krug, das Clou 2, der Vatikan, die Hells Kitchen, das Ambrosius oder der Heuwagen und noch viele andere. Aber nicht nur in den 50ern, sondern auch später gab es in Castrop-Rauxel natürlich ebenso volle Kneipen. Auch, wenn es da schon deutlich weniger Lokale gab.

Montags im Strandcafé

Das Strandcafé – oft einfach „Die Bar“ genannt – war Institution und Geheimtipp, etwas versteckt an der Kleinen Lönsstraße. Doch am Montagabend oft brechend voll. Und es kamen vor allem junge Menschen. „Corny hatte die Idee mit dem Montagabend“, sagt der damalige Betreiber Thomas Kühn. Corny ist der legendäre Wirt Alfred Hilpert. Er stieg hier vom Gast zum Kellner und später zum Geschäftsführer auf und stand anschließend Jahrzehnte lang im Haus Oe hinter der Theke. Denn 1997 war im Strandcafé Schluss. „Ich habe die Kneipe nicht verloren, weil sie schlecht lief, sondern weil sie richtig gut lief“, sagte Corny später. Der größte Erfolg im Strandcafé: 1982 spielte hier die Band Geier Sturzflug, die kurz vorher mit dem Hit „Bruttosozialprodukt“ an die Spitze der Charts stürmte. „Wir dachten, der Laden bricht auseinander“, erinnerte sich Kühn. Aufs Strandcafé folgte die Provinz, die 1997 eröffnete. Herbert Commandeur wollte die Kneipe über einen Zeitraum von zehn Jahren führen, doch eine Job-Offerte sorgte dafür, dass er die Provinz bereits 2005 wieder schloss. Inzwischen stehen dort Reihenhäuser.

Geier Sturzflug wurden über Nacht berühmt, der Auftritt im Strandcafe war aber bereits vor der Hitsingle "Bruttosozialprodukt" ausgemacht. So drohte der Laden an der Kleinen Lönststraße zu bersten.
Geier Sturzflug wurden über Nacht berühmt, der Auftritt im Strandcafé war aber bereits vor der Hitsingle "Bruttosozialprodukt" ausgemacht. So drohte der Laden an der Kleinen Lönsstraße zu bersten. © Tom Kühn

Ebenso Kult wie das Strandcafé war das Schlüters. Wo heute an der Holzstraße Wohnungen stehen, war rund 100 Jahre lang eine Kneipe. Auch hier wieder: viele Namen, viele Pächter. Doch so erfolgreich wie das Schlüters war sonst niemand. „Da war für jeden etwas dabei“, sagt Jenny Kretschmann, letzte Pächterin der Traditionskneipe, „für Alt und Jung, ob 16 oder 80. Da hat am Tresen der Zahnarzt neben dem Arbeitslosen gesessen.“ Legendär waren die Partys zu Karneval, Halloween oder St. Patricks Day. Marcus Liedschulte, der damals dort gearbeitet hat, erinnert sich: „In der Küche haben wir zusätzlich vegane und vegetarische Sachen angeboten; heute wäre das wohl der Renner.“ Doch 2003 rollten die Abrissbagger an. Unter dem Namen SIX, Schlüters im Exil, siedelten sich Jenny Kretschmann und Marcus Liedschulte anschließend nochmal an der Wartburgstraße 18 an. Doch auch hier rollten vier Jahre später die Bagger.

Zechen zu, Kneipen tot

Die Gründe für das Kneipensterben sind vielfältig. Den ersten großen Rückgang gab es schon mit der Schließung der Zechen. Zuvor funktionierte auch das Haus Oe im Schichttakt: „Morgens-, Mittags- und Nachtschicht. Der Schichtwechsel war eine feste Größe“, erinnert sich Friedhelm Zdunek im Gespräch mit der Redaktion 2018. Pünktlich zum Feierabend standen für die Kumpels volle Schnapspinnchen auf den Tischen, sodass sie sich nur hinzusetzen brauchten und direkt trinken konnten. Die Kneipen waren voll, nicht nur das Haus Oe. 1967 schloss die Zeche Graf Schwerin. Damit wurde nicht nur das Ende des Bergbaus in Castrop-Rauxel eingeläutet.

Alfred “Corny” Hilpert war Wirt in zwei der größten Kneipen in Castrop-Rauxel: Zunächst im Strandcafé und später lange im Haus Oe auf Schwerin.
Alfred “Corny” Hilpert war Wirt in zwei der größten Kneipen in Castrop-Rauxel: Zunächst im Strandcafé und später lange im Haus Oe auf Schwerin. © Christian Püls

„Im Vergleich zu früher, als es noch die Rentner oder die Püttleute in die Kneipe gezogen hat, ist das nicht mehr zu vergleichen. Die sterben alle weg“, sagte uns Reinhard Becker, der viele Jahre im Treffpunkt und der Marktschänke hinter der Theke stand: „Die Markttage waren früher Kneipentage.“ Denn die wohl einfachste Antwort darauf, weshalb immer mehr Kneipen schließen, ist, dass immer weniger Menschen in die Kneipen gehen. „Früher war die Kneipe der Platz der Kommunikation. Heutzutage gehen die Kids in den Supermarkt und kaufen sich den Schnaps für 20 Prozent meines Preises. Da kann ich einfach nicht mithalten“, sagte Corny Hilpert.

Rauchverbot, Corona und Sky

Eine weitere Entwicklung, nach der viele das große Kneipensterben ausriefen, ist das Rauchverbot in Kneipen, das 2013 in Kraft trat. Karl-Heinz van Loon, Inhaber der Marktschänke, erinnert sich daran, wie der Zigarettenqualm von einem Tag auf den anderen aus den Lokalen verschwand. Hat das Kneipensterben der letzten Jahre seiner Meinung nach mit dem Rauchverbot zu tun? „Auf jeden Fall“, sagt er. Nicht nur Restaurants, auch Kneipen hätten für viel Geld Raucherräume eingerichtet. Zwei oder drei Jahre lang seien außerdem deutlich weniger Gäste gekommen. Beides habe für Umsatzeinbußen gesorgt, die nicht alle verkraftet hätten. „Das war der erste Sargnagel für viele Kneipen“, sagt auch Reinhard Becker

Gut zehn Jahre nach dem Rauchverbot setzte die Corona-Pandemie die Gastronomie unter Druck. Die Kneipen mussten zwangsläufig für lange Zeit ihre Türen schließen oder durften nur unter so strengen Aufgaben öffnen, dass kaum was dabei heraussprang. Die Coronahilfe des Staates konnte nicht allen ausreichend helfen. „Ich hoffe nicht, dass jetzt das Kneipensterben beginnt“, sagte Karl-Heinz van Loon von der Marktschänke damals. Zahlen von IT-NRW zeigen, dass die Castrop-Rauxeler Kneipen es etwas besser durch die Pandemie schafften als die Restaurants. Aus 31 Kneipen (und „Getränke-Ausschenkern“) 2019 wurden 2021 28. Drei Kneipen überlebten die Coronazeit also nicht. Beinahe dazu gehört hätte auch das Haus Ratte in Frohlinde. Im Interview kurz vor der Schließung sagte Wirt Michael Henke damals: „Vier Wochen kann ich vielleicht überleben.“ Anschließend wurde eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Viele Frohlinder spendeten und es kamen 3295 Euro zusammen. Das Haus Ratte gibt es noch heute.

Jürgen und Erika Jacke betrieben 35 Jahre lang die Rathausschänke an der Ringstraße.
Jürgen und Erika Jacke betrieben 35 Jahre lang die Rathausschänke an der Ringstraße. © (Archiv) Orwat

Ein weiteres Problem, das viele Kneipiers seit Jahren in die Verzweiflung treibt, sind die steigenden Preise für die Übertragung von Fußballspielen. Anders als bei der WM 1954 laufen die Spiele inzwischen vermehrt im Pay-TV. Aktuell kämpfen viele Gastronomen mit den hohen Preisen der verschiedenen Anbieter. Michael Hertz, der das Treppchen am Lambertusplatz 2019 für immer schloss, sagte damals: „Sky ist einfach zu teuer geworden.“ Ins gleiche Horn stieß Jürgen Jacke, der 35 Jahre lang die Rathausschänke bewirtschaftete, bis er sie 2009 schließen musste. Ein Jahr später starb er. Im letzten Interview mit den Ruhr Nachrichten blickte er nochmal zurück: „Vor 25 Jahren haben sie in Dreierreihen vor dem Tresen gestanden und 10 bis 20 Bier an einem Abend getrunken. Heute muss man froh sein, wenn sie zwei trinken.“

Auch deshalb entschließen sich immer weniger Menschen dazu, eine eigene Gastronomie zu eröffnen. „Früher haben die Kneipiers gut gelebt“, erinnert sich Reinhard Becker. „Da waren ja abends alle Kneipen voll. Und da gab es ja noch viel mehr. Da waren allein vom Rochus bis zum Markt bestimmt acht Kneipen.“ Diese Zeiten sind vorbei. Wohl für immer.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 22. April 2025.

Wird Fußball zu teuer für die Kneipen in Castrop-Rauxel?: „Zahlen jeden Monat rund 1000 Euro“