Heinz Hiller sitzt am Esstisch im Wohnzimmer seines Hauses. Vor dem Fenster dreht der Rasenroboter seine Runden. Der Bodelschwingher schaut nach draußen. „Die Fahnen hängen noch nicht wieder“, sagt er fast entschuldigend. Es ist Donnerstag (13.6.) – der Vortag der Eröffnung der Euro 2024.
Wenn nicht – wie kürzlich – Wind und Regen ihre volle Kraft entfaltet haben, weht oben am gewiss sieben Meter hohen Masten eine BVB-Fahne. Und bei Welt- und Europameisterschaften zusätzlich die deutsche Flagge. Am Montag (8.7.) ist Heinz Hiller 90 Jahre alt geworden – und er weiß, „wie es um die Nationalmannschaft steht“. Die zum Geburtstag erhoffte Teilnahme am Halbfinale und Finale der EM indes erfüllt sich nicht.
Er hat mitgefiebert bei den Vorrundenspielen, beim Achtel- und Viertelfinale. Im heimischen Wohnzimmersessel. Für die Heimspiele von Borussia Dortmund hat der Senior auch mit 90 noch eine Dauerkarte für den Signal-Iduna-Park.
Karten für die WM 2006
Beim „Sommermärchen“ 2006 hatte Heinz Hiller für einige Spiele Eintrittskarten ergattert – „von einem Kumpel, der sie in Amerika gekauft hatte“. Die anderen Spiele der Weltmeisterschaft erlebte er auf dem Hansaplatz in der Dortmunder City. „Das war so schön“, schwärmt er heute. „Ich war jeden Tag in der Stadt, habe mir meinen Strohhut aufgesetzt und vor der Kneipe ‚Zum Sauren‘ auf der Terrasse ein Pils getrunken. Da hatte ich Blick auf die Großbildleinwand.“
Als wir 18 Jahre später, am Vortag der Euro 2024, in seinem Wohnzimmer sitzen, trägt der Bodelschwingher das 54er-WM-Trikot. Nicht das Original, sondern aus einer Retro-Kollektion, aber auch schon ein paar Jahrzehnte alt.
Auf dem Esstisch liegt das Programmheft des WM-Finales vom 4. Juli 1954 in Bern. Ein Faksimile. Das Original hat Heinz Hiller dem Deutschen Fußballmuseum als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Besucher können es dort in der Ausstellungsabteilung zum „Wunder von Bern“ sehen.

Sommer 1954: Heinz Hiller arbeitet als junger Geselle im Elektrogroßhandel Natorp. Bei der Fußball-WM in der Schweiz spielen 16 Mannschaften in vier Vorrundengruppen. Trotz eines 3:8 gegen Ungarn zieht die Nationalmannschaft nach einem 7:2 im Entscheidungsspiel gegen die Türkei ins Viertelfinale ein. Heinz Hiller ist wie die halbe junge Bundesrepublik im Fußballfieber. Nach Siegen gegen Jugoslawien und Österreich steht die Mannschaft im Finale.
In der Halle des Bodelschwingher Reitervereins an der Deininghauser Straße steht während der acht live übertragenen Partien ein kleiner Fernseher. Dort will Heinz Hiller mit seinen Freunden auch das Finale schauen. „Bei Radio Restel in Oestrich hätte man auch noch gucken können“, erzählt er. Die einzigen Möglichkeiten: Privat hatte zu der Zeit noch niemand einen Fernseher.
Sein Chef jedoch hat eine Eintrittskarte für das Finale in Bern. „Heinz, willst du dahin fahren, hat er mich an einem Morgen gefragt“, erzählt Hiller sieben Jahrzehnte später. „Ich muss wohl ganz gut gewesen sein.“ Bis heute, wisse er jedoch nicht, „warum, wieso, weshalb“ der Chef nicht selbst in die Schweiz fahren konnte.
Am 3. Juli 1954, um 23.30 Uhr, sitzt Heinz Hiller im Bus des Reiseunternehmens Paul Rosenkranz. Mit an Bord vielleicht 40 Fußballbegeisterte „alle aus dem Ruhrpott“. Die Fahrt kostet 89 D-Mark – eingeschlossen eine Übernachtung auf der Rückfahrt.

Den Reisepreis hätte ich als junger Geselle gar nicht bezahlen können, sagt Heinz Hiller. Allenfalls vielleicht die Eintrittskarte. Der Stehplatz beim Finale im Berner Wankdorf-Stadion kostet 7,50 D-Mark. „Ein unbeschreibliches Glück, dass ich das erleben durfte“, sagt Heinz Hiller.
Es waren andere Zeiten – Trikots, Schals, Fahnen noch nicht üblich. Die Gruppe reist in Zivil. Und trotz der unerwarteten Erfolge in der Vorrunde und den Ausscheidungsspielen herrscht keinesfalls Euphorie. „So richtig Hoffnung, dass wir gewinnen, hatten wir nach dem 3:8 in der Vorrunde nicht“, erzählt der Bodelschwingher. „Wir wollten die deutsche Mannschaft trösten.“
Bern am Mittag des 4. Juli. „Wir kamen vielleicht ein, zwei Stunden vor dem Anpfiff an.“ Für einen Schweizer Franken kauft Hiller eben jenes Programmheft, das heute im Fußballmuseum liegt. Kein Hochglanz, aber mit allen Ergebnissen der vorangegangenen Partien. Stockflecken zeugen von den Regengüssen am Finaltag.
Striemen auf dem Rücken
Um 17 Uhr pfeift William Ling aus England das Spiel an. Schnell geht Ungarn durch Puskás (6. Minute) und Czibor (8.) in Führung. Dunkle Wolken hängen über dem Oberland.
Tage später fragt Hillers Mutter, wo die Striemen auf seinem Rücken her kommen. „Da erinnerte ich mich an eine Frau, die mir vor Aufregung mit ihrem Regenschirm immer auf den Rücken geschlagen hat“, erzählt Hiller und lacht. „Während des Spiels habe ich es nicht gemerkt.“
Dicht drängen sich die Zuschauer auf der Stehplatztribüne. Der junge Deutsche bleibt optimistisch: „Ich hab gedacht, bis zur Halbzeit müssen wir das 0:2 aufholen.“ Schon zwei Minuten nach Czibors Tor verkürzt Max Morlock auf 1:2. Weitere acht Minuten später gleicht Helmut Rahn aus.

Ein Spiel auf des Messers Schneide im prasselnden Regen von Bern. Die Entscheidung in der 84. Minute: Hans Schäfer und József Bozsik liefern sich auf der linken deutschen Angriffsseite ein packendes Duell. Bozsik verliert den Ball, Schäfer flankt, die Ungarn wehren ab. Helmut Rahn schießt das 3:2.
„Es war ein unbeschreiblicher Jubel“, erzählt Heinz Hiller. Sechs Minuten später ist die deutsche Mannschaft Weltmeister. Die Reisegruppe aus dem Ruhrgebiet feiert abends im Hotel. „Viel Geld hatten wir alle nicht“, erzählt Hiller. „Wir haben nicht viel getrunken und sind nicht ausgetickt, wie einige es heute tun.“
Für ihn ist der Finalsieg schon früh ein Lebensereignis – wenige Tage, bevor er 20 Jahre alt wird. Bis 1959 bleibt Heinz Hiller bei Natorp. Dann macht er sich mit einem Elektrogroßhandel selbstständig. Viel Zeit bleibt da nicht. „Auch samstags habe ich gearbeitet“, berichtet er.
Erst 1974 kauft er sich eine BVB-Dauerkarte. 50 Jahre ist er mittlerweile Stammgast im Westfalenstadion, heutzutage in Begleitung von Kumpel Gerd sowie Sohn und Enkelkindern – „ein Familientreffen beim BVB“. Großformatige Fotos in Küche und Arbeitszimmer zeigen den Urenkel im schwarz-gelben Trikot.

Es ist die Leidenschaft für den Fußball: 1998 ist Hiller bei der WM in Frankreich, verfolgt die Spiele der deutschen Mannschaft in Paris, Lens und Montpellier. Den BVB begleitet er auf dessen Reisen durch Europa: Auxerre, Manchester, Rom. „Als wir in Rom waren, ist der Petersdom voller gelber Schals schon ein Ereignis.“
Die Begeisterung besteht nicht nur für den Fußball. „Auch bei den Olympischen Spielen 1972 wurden schon Karten verlost“, erzählt Hiller. Er schickt Bewerbungen auch im Namen seiner Familienmitglieder. „Die 90-jährige Oma hat dann Karten bekommen“, erzählt er und lacht. „Und ich bin mit einem Kumpel für eine Woche nach München gefahren.“
Die Lebensträume erfüllt sich der Bodelschwingher in den 80er Jahren. 1984 besteigt er den Kilimandscharo, zwei Jahre später durchquert er die Sahara. „Du hast immer kalte Füße“, erklärt seine Frau, als er eine Hundeschlittenfahrt durch Alaska plant.
Am 8. Juli ist Heinz Hiller 90 Jahre alt geworden. „Ich fühl mich gut“, sagt er. „Manche Tage komme ich nicht zum Zeitungslesen, weil ich so viel zu tun habe.“ Aus seinem Arbeitszimmer macht er noch die Verwaltung für 48 Großgaragen, die seine Firma gebaut hat. „Aber nächstes Jahr ist Schluss.“
Er freue sich auf den Geburtstag und die Feiern mit der Familie, den Freunden und Bekannten und natürlich mit seinem Stammtisch, den Bodelschwingher „Gartenzwergen“.
Um den Geburtstag herum die Euro: „Gegen Schottland gewinnen wir 2:0“, tippte Heinz Hiller am Vortag des Spiels. Es kam noch besser. „Dann steigt die Stimmung und es wird ein zweites Sommermärchen.“ Damit behielt er weitgehend recht – trotz der Niederlange in diesem nervenaufreibenden Viertelfinale gegen Spanien.
„The Times“ singt Loblied auf Dortmund: Britische Zeitung gibt Tipps, was es zu unternehmen gibt
Falscher BVB-Mythos: Das erste Tor im Westfalenstadion schoss nicht der S04 – sondern eine Frau