Im Sommer 2003 war ich das letzte Mal Teil der Ferienfreizeit: Jahr für Jahr fuhren wir mit 60 Kindern ins Sommerlager. Diese Form der Kirche war zentraler Teil meiner Kindheit und Jugend.

© St. Michael Rheine

Die Missbrauchs-Skandale und mein komplett anderer Blick auf die Kirche

rnKolumne

Wie kannst du Mitglied dieser Kirche sein? Die Frage kursiert immer dann, wenn es neue Skandale gibt. Ich ringe mit mir, aber finde doch eine klare Antwort. Sie prägte mich, meine Jugend, mein Leben.

Castrop-Rauxel

, 04.02.2022, 08:55 Uhr / Lesedauer: 2 min

Schon wenn man hört, dass ein Termin ansteht zur Veröffentlichung eines weiteren Gutachtens zum Thema (Kindes-)Missbrauch und den Umgang der Kirche damit, beginne ich innerlich zu schaudern: Das wird nicht gut ausgehen für die Kirche.

Zurecht nicht, denn wie kann man als Vertreter des Glaubens an Gott und Jesu Christi Leben und Sterben so Böses, so Niederträchtiges tun? Und wie kann jemand anders dann diese Vergehen, schlimmste Straftaten, auch noch decken, vertuschen, leugnen, darüber hinwegsehen, auf eigene Weise regeln?

Ich finde die oft nicht ohne Anschuldigung daher kommende Frage: „Wie kannst du noch Mitglied dieser Kirche sein?“ sehr nachvollziehbar. Sehr berechtigt. Jedes Mal, wenn ich sie höre, beschäftige ich mich mit ihr, mal latent, nur halb bewusst, mal in Gesprächen, mal in tiefen Gedanken. Aber ich komme stets zu dem Ergebnis: Meine Kirche ist zwar dieselbe, aber doch eine ganz andere. Mein Ich, mein Leben ist geprägt von dieser einen Kirche.

Im Münsterland bin ich im Schatten eines Kirchturms aufgewachsen. Getauft, in den Kindergarten nebenan gegangen, Messdiener geworden, zur Erstkommunion gekommen. Fast jeden Sommer ab meinem siebten Lebensjahr habe ich zwei Wochen der Ferien in einer der vielen Schützenhallen sauerländischer Dörfer rund um Meschede und Schmallenberg in einem Ferienlager verbracht: erst als Sohn der Kochfrau, dann als Lagerkind, in der Jugend bis ins Studentenleben als Betreuer, Gruppen- und Lagerleiter.

Das war das Betreuer-Team im Jahr 2003: Dass ich mich beim Gruppenleiter-Suchspiel als Mönch verkleidete (ganz hinten) und so durchs sauerländische Dorf Antfeld spazierte, bis mich alle Gruppen gefunden hatten – es muss Zufall sein.

Das war das Betreuer-Team im Jahr 2003: Dass ich mich beim Gruppenleiter-Suchspiel als Mönch verkleidete (ganz hinten) und so durchs sauerländische Dorf Antfeld spazierte, bis mich alle Gruppen gefunden hatten – es muss Zufall sein. © St. Michael Rheine

Gefühlt jedes Wochenende meiner Jugend habe ich im Jugendkeller des Pfarrheims mit Freunden abgehangen, Pizza bestellt, Ligretto, Siedler oder Doppelkopf gespielt, Partys gefeiert, Kinderdiscos veranstaltet, Kegelfußball gezockt, Filme geschaut oder für LAN-Partys bis zum nächsten Morgen unsere dicken Rechner aufgebaut. In der letzten meiner Ferienfreizeiten habe ich meine heutige Frau kennengelernt. Von den sieben Männern meiner Stammtischrunde, die sich bis heute einmal im Monat versammelt, kenne ich sechs aus der Pfarre.

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Das hätte alles auch ohne Kirche funktioniert; bei den Pfadfindern, wenn ich dort gewesen wäre, vielleicht auch im Angler- oder im Fußballverein. Aber es war eben in der Kirche. Irgendwie mit Gottes Beistand. Ich habe Freunde und eine Frau fürs Leben gefunden, bin geprägt von einem offenherzigen, einem nächstenliebenden Gottesbild, das auf Fürsorge, Solidarität und der „Bewahrung der Schöpfung“ fußt.

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Das ist meine Kirche. Dieser Teil ist offen für queere Lebensformen, er steht für unbedingte Mitmenschlichkeit. Wenn Sie sagen, meine Erlebnisse lägen teils Jahrzehnte zurück, entgegne ich Ihnen: Stimmt. Aber diese Kirche gibt es auch heute noch. Ich erlebe sie, wenn ich in Gottesdienste gehe, zum Familienfest in Habinghorst oder beim Weihnachtssingen in der katholischen Kita meiner Kinder. Diese Kirche lebt, wenn Kolpingsfamilien Gemeindefeste veranstalten oder Weihnachtsbäume sammeln.

Deshalb bleibe ich dieser Kirche treu. Aus tiefer Überzeugung, auch wenn es die schlimme andere Seite gibt: die Vertuscher, die Kinderschänder: Die sollen gehen. Und zwar schnell. Raus aus meiner Kirche! Nein, nicht ins Kloster. In den Knast!

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