
© Stephan Rape
Zwischen Hightech und Zuwanderung: Oldenkott‘s Natz erinnert sich an 1902
120 Jahre Heimatverein
Heute vor 120 Jahren gründet sich der Heimatverein Ahaus – um in einer wilden Zeit Altbewährtes zu bewahren. Wir haben mit einem gesprochen, der dabei war – so gut wie.
Es ist der 22. Januar 1902. Eine Reihe von Ahausern um Emil Brockmann heben den Heimatverein Ahaus aus der Taufe. Mit dabei ist auch Jakob Bernhard Oldenkott, besser bekannt als Oldenkott‘s Natz. Der damals 49-Jährige hat bis heute überlebt – zumindest als Figur: Andreas Kosmann verkörpert ihn für Führungen des Heimatvereins.

Oldenkott's Natz wirft einen Blick auf das Ahaus von 1900. Damals zur Jahrhundertwende, kurz bevor der Heimatverein Ahaus gegründet wurde, platzte die Stadt förmlich aus allen Nähten. Binnen 20 Jahren hatte sich die Bevölkerung verdoppelt. © Stephan Rape
Mit ihm haben wir über die Gründungsjahre des Vereins gesprochen. „Das war eine unglaublich progressive Zeit damals“, sagt Oldenkott‘s Natz und rückt den schwarzen Zylinder und die ordentlich gebundene Krawatte zurecht. Als Tabakindustrieller im Kaiserreich gilt es schließlich den Stand zu wahren.
Eisenbahn bringt vor der Jahrhundertwende das Geld in die Stadt
Um die Jahrhundertwende rauchen auch in Ahaus seit einiger Zeit die ersten Fabrikschlote, die Bevölkerung hat sich binnen weniger Jahre mehr als verdoppelt. „Man muss sich ja vorstellen, dass vor der Eisenbahn die vermögenden Leute in Ahaus vielleicht eine Kuh und ein Schwein hatten“, sagt Oldenkott‘s Natz.

Oldenkott's Natz blättert in den Schriften des Vereins für Geschichtsforschung und Altertumskunde des Kreises Ahaus. Aus ihm ging der Heimatverein Ahaus hervor. Um Forschung zu betreiben, Bräuche und Gewohnheiten zu erhalten und über die Geschichte der Stadt zu schreiben. © Stephan Rape
Dann wurde das Örtchen an die Eisenbahnlinie Dortmund-Enschede angeschlossen. 1875 sei das gewesen. Und damit ging es steil bergauf: „Mit der Bahn kam das Geld in den Ort. Und die Menschen aus aller Welt. Naja, zumindest aus dem Ruhrgebiet, dem Rheinland und den Niederlanden“, sagt Oldenkott‘s Natz schmunzelnd.
Die ersten Telegrafenleitungen, die Gasversorgung, die Elektrifizierung schließen sich an. „Echte Hightech. Was soll danach noch kommen“, sagt der Zigarrenfabrikant.
Neu-Ahauser wurden offen aufgenommen
Die Menschen arbeiten in der Jutefabrik, in der Schuhfabrik Dues, in der Zündholzfabrik. „Und natürlich auch in meiner bescheidenen Zigarrenfabrik im Ahauer Schloss“, ergänzt der Industrielle nicht ganz ohne Stolz. Jedenfalls seien die Neu-Ahauser offen aufgenommen worden.

„Aus alter Zeit", in den regelmäßig erscheinenden Zeitschriften des Vereins für Geschichtsforschung und Altertumskunde wurden neben der Geschichte der Stadt auch Volkslieder, Gedichte oder aktuelle Ereignisse aufgegriffen. © Stephan Rape
Und doch gab es bei den Alteingesessenen das Bedürfnis, Altbewährtes zu bewahren. Gleichzeitig waren die Menschen auf der Suche nach Gemeinschaftsgefühl. „Und die Altertumsforschung war gerade schwer in Mode“, sagt Oldenkott‘s Natz.
Schließlich hatte ein Heinrich Schliemann vor Kurzem erst Troja entdeckt und ausgegraben. Und das Bürgerliche Gesetzbuch hatte Vereine und Versammlungen überhaupt erst möglich gemacht.
65 Mitglieder gründen den Heimatverein
Aus dem Kreisverein für Geschichts- und Altertumsforschung entstand so der Heimatverein Ahaus. „Weil die Leute etwas gemeinsam tun wollten“, sagt Oldenkott‘s Natz. „Aus Liebe zur Heimat, zum Erhalt Althergebrachtem, aus Bodenständigkeit, Zusammengehörigkeit und für die Annäherung der Bürgerschaft“, wie er dann aus der ersten Satzung zitiert.

Oldenkott's Natz mit einem Rieksdaler, einer Kaiser-Wilhelm-Gedächtnismünze. „Man mag sich das heute nicht mehr vorstellen, aber der Anfang des 20. Jahrhunderts war eine unglaublich progressive Zeit", sagt Andreas Kosmann, der für den Heimatverein Ahaus in das Kostüm des Tabakfabrikanten schlüpft. © Stephan Rape
65 Mitglieder treten bei. „Keiner von Rang und Namen hat gefehlt“, erklärt er. Ziele sind einerseits die Forschung in der Vergangenheit, andererseits aber auch der Erhalt alter Traditionen und die Verschönerung der Stadt.
„Man machte es sich heimelig“, sagt Oldenkott. Und die Ahauser konnten sich die „gute alte Zeit“ bewahren.
Bis zum Jahr 1914 sollte der ungebremste Aufschwung in und um Ahaus weiter gehen – um dann jäh durch den Ersten Weltkrieg und die folgende Weltwirtschaftskrise gestoppt zu werden. „Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, sagt Oldenkott‘s Natz.
Fokus für den Heimatverein liegt auf dem Jahr 2027
Zeitsprung: Heute, 120 Jahre nach seiner Gründung, steht Ralf Büscher als erster Vorsitzender an der Spitze des Heimatvereins Ahaus. Leicht missmutig blickt er auf den runden Geburtstag des Vereins: „Natürlich hätten wir diesen Tag gerne gefeiert.“
Doch vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Zahlen wäre das einfach nur unverantwortlich. Vielleicht könne ein Tag der offenen Tür ja im Sommer nachgeholt werden. Der große Fokus liegt ohnehin auf dem Jahr 2027 – und der Feier zum 125-jährigen Bestehen.
„Der Verein ist kerngesund und bunt gemischt“, freut sich der Vorsitzende. Mit über 350 Mitgliedern habe er die höchste Mitgliederzahl seiner Geschichte. Ein Wachstum von 100 Mitgliedern gab es allein in den vergangenen 20 Jahren.
Wandel vom Reise- zum Heimatverein
Für Ralf Büscher ist der Wandel im Verein ein Hauptfaktor für diese positive Entwicklung: „In den 1980er- und 1990er-Jahren waren wir ein Reiseverein“, sagt er. Das sei damals auch richtig gewesen. Die Leute hätten reisen, das aber nicht selbst organisieren wollen. Heute brauche für einen Ausflug oder eine Reise niemand mehr einen Verein.
Das Hauptaugenmerk liegt beim Heimatverein Ahaus daher in der historischen Arbeit. In der (Ahnen-)Forschung und der Geschichte der Stadt Ahaus. Gleichzeitig habe der Verein mit seinen eigenen Räumen im Schloss endlich eine Heimat und feste Anlaufstelle gefunden.
„Das ist in der Bevölkerung angekommen“, sagt Ralf Büscher. Allein die rund 700 bis 800 Besucher bei jedem Tag der offenen Tür würden da ja Bände sprechen.
Hochmotiviertes Team arbeitet im Verein zusammen
Dabei kann der Vorsitzende auf ein hochmotiviertes Team setzen. „Unendlich viel Arbeit passiert ja im Hintergrund“, sagt er. Etwa in den Archiven, bei der Ahnenforschung oder auch der Mitgliederbetreuung.
Natürlich seien die Aushängeschilder wie eben der Oldenkott‘s Natz, die drei Nachtwächter oder die Ausstellungen des Vereins offensichtlicher. Aber das sei eben nur die Spitze des Eisbergs.
Ursprünglich Münsteraner aber seit 2014 Wahl-Ahauser und hier zuhause. Ist gerne auch mal ungewöhnlich unterwegs und liebt den Blick hinter Kulissen oder normalerweise verschlossene Türen. Scheut keinen Konflikt, lässt sich aber mit guten Argumenten auch von einer anderen Meinung überzeugen.
