
In einem Klappalbum hat Heinrich Schnitzler (84) die Fotoschätze aufbewahrt, die er als Mitarbeiter bei den XX. Olympischen Spielen 1972 in München mit seiner Minolta aufgenommen hat. © Reinhard Schmitz
Olympia 1972: Wie Heinrich Schnitzler sich auf die Pressetribüne schlich
Platzanweiser in München
Von Schwimmer-Legende Mark Spitz bis Kanu-Idol Detlef Lewe: Hautnah erlebte Heinrich Schnitzler die Sport-Stars der Olympischen Spiele 1972. Als Platzanweiser war er in München überall dabei.
„Ach Sepp, du?“, fuhr es Heinrich Schnitzler heraus. Völlig unerwartet stand der legendäre Fußball-Nationaltrainer Sepp Herberger in der Aufzugtür, als die Kabine im fünften Stock des Olympischen Zentrums in München stoppte. Der Macher des „Wunders von Bern“ lächelte nur: „Joa, da bin i.“ Ganz umgänglich war er auf der weiteren Fahrt nach unten, wo schon eine Fotografenmeute lauerte. Auch der Schwerter - so erzählt er weiter - drückte schnell auf den Auslöser seiner Minolta. Aus der Sicht von heute würde er nur eins anders machen: Danebenstellen, den Weltmeister-Trainer in den Arm nehmen und ein Selfie aufnehmen, wie es ihm später mit BVB-Fußballlehrer Jürgen Klopp gelang.
Ein ganzes Fotoalbum voller genialer Schnappschüsse
Die Begegnung mit Sepp Herberger ist nur einer der genialen Schnappschüsse, die Heinrich Schnitzler aus ganz privaten Perspektiven von den XX. Olympischen Spielen 1972 in München mitgebracht hat. Dokus in der Zeitung und im Fernsehen, die derzeit an das sportliche Großereignis vor genau 50 Jahren erinnern, lassen ihn immer wieder mit Freude durch das Doppel-Klappalbum blättern, dessen Plastikhüllen seine Schätze im 9-mal-13-Format hüten. Auch den einlaminierten Mitarbeiter-Ausweis zum Anklipsen am Jackett, der ihm damals alle Türen im olympischen Dorf öffnete, hat der 84-Jährige sorgfältig aufbewahrt.

Die Verleihung der Bronzemedaille an die Schwerter Sportlegende Detlef Lewe (r.) erlebte Heinrich Schnitzler bei der Olympiade in München hautnah mit. © Heinrich Schnitzler
Die Souvenirs bringen die Erinnerungen an die Wochen im Zeichen der berühmten fünf Ringe nur so ins Sprudeln. In der Zeitung war damals eine Anzeige erschienen: „Suchen Mitarbeiter der Olympischen Spiele“, berichtet Heinrich Schnitzler. Der Sportbegeisterte, der in Schwerte unter anderem Fußball spielte, war elektrisiert: „Ich habe eine Bewerbung eingeschickt, mit Passbild, Zeugnis-Abschriften und polizeilichem Führungszeugnis.“ Dass er sich bei seinem damaligen Arbeitgeber, dem Hoesch-Werk, extra Urlaub nehmen musste, störte nicht, als er sich in den Zug nach Bayern setzte.
Der orange Dienstanzug wurde später zum Karnevalskostüm
Eine Woche vor der Eröffnung des Sport-Spektakels am 26. August musste der damals 34-Jährige in München antreten, um seine Einweisungen zu erhalten. Sieben Dollar pro Tag gab es für den Job als Kontrolleur und Platzanweiser im Kanu- und Ruderbereich - und orangefarbenen Anzug, den er behalten durfte: „Den habe ich nachher noch mal beim Karneval angehabt.“
Heinrich Schnitzler bei der Olympiade in München
Geschlafen wurde auf Feldbetten in einer Schule im Stadtteil Schleißheim nahe der Ruder-Regattastrecke, wo in der Mensa das Frühstück gereicht wurde. Fürstlich war das reichhaltige Mittagessen in der Kantine des BMW-Werks. So etwas hatten die Helfer noch nicht geboten bekommen.

Ganz oben in der olympischen Schwimmhalle gelang es Heinrich Schnitzler, auf die Pressetribüne zu gelangen. Vom Platz des polnischen Reporters, der nicht anwesend war, konnte er auf dem Monitor auch die gleichzeitigen Wettkämpfe in anderen Sportarten verfolgen. © Heinrich Schnitzler
Was aber viel mehr zählte, war das Erlebnis, mittendrin zu sein im olympischen Treiben. Und das begann schon, als der Schwerter seinen kompletten Sold in bar in der zehnten Etage des Olympiazentrum-Hochhauses abgeholt hatte. Gleich auf der Fahrt nach unten wartete die Überraschung mit Sepp Herberger. Später führte er höchstpersönlich Avery Brundage, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, und Willi Daume, den Präsidenten des Organisations-Komitees für München, zu ihrer VIP-Lounge.
Hautnah dabei beim Triumph von Schwimmer-Idol Mark Spitz
Noch eindrucksvoller waren die Begegnungen mit weiteren Sport-Idolen, von denen andere Fans nur träumen konnten. Heinrich Schnitzler war dabei, als die Schwerter Kanu-Legende Detlef Lewe auf das Siegertreppchen stieg, um sich die Bronzemedaille um den Hals hängen zu lassen. Er bejubelte die Hochspringerin Ulrike Meyfarth und Weitspringerin Heide Rosendahl bei ihren Triumphen. Und erlebte den Siegeszug des amerikanischen Schwimmer-Stars Mark Spitz mit, der in München sieben Goldmedaillen auf einen Streich abräumte.
Schon für sich beeindruckend war die Atmosphäre unter dem riesigen Zeltdach des Olympiastadions: „Die 80.000 Plätze waren immer ausverkauft.“

Die Schwimmerlegende Mark Spitz (3.v.l.), der bei der Olympiade im München sieben Mal die Goldmedaille errang, konnte Heinrich Schnitzler von seinem Platz aus fotografieren. © Heinrich Schnitzler
Immer, wenn zwischen 15 und 16 Uhr Schluss war in seinem Wassersport-Bereich, machte sich Heinrich Schnitzler auf Entdeckungsreise zu den anderen Arenen im Olympischen Dorf. Offiziell trug sein Ausweis mit dem rückseitigen Namenszug in feinster Schreibmaschinenschrift zwar nur die Symbole für Ruder- und Kanu-Wettkämpfe, aber man verstand sich mit den Kollegen nach dem Motto: „Wenn du mich bei dir reinlässt, lasse ich dich bei mir rein.“
So konnte der Schwerter nicht nur ins Camp der Sportler schleichen, um Konzerte und Tanzvorführungen des Kulturprogramms mitzuerleben. Auch Detlef Lewe traf er dort erneut, um mit ihm zu plaudern: „Ich kannte ihn über meine Schwester.“
Wie Heinrich Schnitzler sich auf die Pressetribüne schlich
Sein größter Coup gelang Heinrich Schnitzler in der Schwimmhalle: „Ich bin einfach auf die Pressetribüne gegangen.“ Der tschechische Reporter, auf dessen freien Platz er sich zuerst gesetzt hatte, erschien aber doch noch. Im Gegensatz zu seinem polnischen Kollegen, dessen Stuhl die ganze Zeit verwaist blieb.
An seiner Stelle konnte Heinrich Schnitzler dort mit Kopfhörern auf den Ohren von ganz oben das Schwimm-Rennen verfolgen - und auf dem Monitor auch alle anderen Wettbewerbe, die zeitgleich in anderen Sportstätten ausgetragen wurden: „Radrennen, Boxen und noch mehr.“

Sepp Herberger, den legendären Weltmeister-Trainer der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft traf Heinrich Schnitzler zufällig im Aufzug des Olympischen Zentrums in München und folgte ihm vor die Tür. © Heinrich Schnitzler
Die dramatischen Stunden der Olympischen Spiele, das Attentat der palästinensischen Terroristen auf die Mannschaft aus Israel, hat der Schwerter nicht direkt miterlebt. „Wir mussten da einen großen Ring machen um das Olympische Dorf“, erzählt er. Hand in Hand bildeten alle Mitarbeiter eine Menschenkette, um Schaulustige fernzuhalten. „Sonst habe ich nichts mitbekommen“, sagt Heinrich Schnitzler: „Dann ging´s ja weiter nach ein paar Tagen.“
Reinhard Schmitz, in Schwerte geboren, schrieb und fotografierte schon während des Studiums für die Ruhr Nachrichten. Seit 1991 ist er als Redakteur in seiner Heimatstadt im Einsatz und begeistert, dass es dort immer noch Neues zu entdecken gibt.
