Das harte Nachtleben als Händler auf dem Markt
Perspektivwechsel-Serie
In unserer Serie „Perspektivwechsel“ erzählen wir Geschichten und lenken den Fokus auf vermeintliche Nebenrollen. In unserer dritten Geschichte sind wir auf dem Schwerter Marktplatz – und blicken durch die Augen von Familie Ullrich, die dort Obst- und Gemüse verkauft. Die harte Arbeit vor der Marktöffnung wird meist übersehen.

um 7:30 Uhr ist der Stand komplett. Jetzt geht es an die Feinarbeit.
Mittwochmorgen, 6 Uhr. Noch ist es dunkel. Doch der Schwerter Marktplatz ist bereits voller Leben. Heute ist Markttag. Auch Brigitte und Peter Ullrich bauen ihren Obst- und Gemüsestand bereits auf. Der Hänger des Händlers steht genau vor der St.-Viktor-Kirche. Noch ist er prall gefüllt. Das soll sich schnell ändern.
Unzählige Böcke und Holzplatten kommen zum Vorschein. Nach und nach entsteht ein großer Marktstand. Innerhalb weniger Minuten hat sich das Team auf einer Fläche von rund 50 Quadratmetern ausgebreitet. Der Hauptstand gleicht einem großen L. Direkt davor wird ein weiterer Tisch aufgebaut. Wenn das Grundgerüst steht, kommen grüne Decken zum Einsatz, die die hölzernen Auflagebretter schnell unter sich verschwinden lassen. Dann folgt das bunte Tetris-Spiel des Ausladens. „Das hat hier alles ein ganz bestimmtes System. Denn natürlich wollen wir auch, dass der Stand schön aussieht“, erklärt Brigitte Ullrich.
Mehr als 200 Sorten Obst und Gemüse im Sortiment
Seit 1962 steht Familie Ullrich auf dem Schwerter Wochenmarkt, immer mittwochs und samstags. Angefangen haben sie mit nur einem Produkt. „Mein Vater hat nur Kartoffeln verkauft, davon aber teilweise 70 Zentner an einem Tag, alles mit der Hand abgewogen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“
Perspektivwechsel: Besuch auf dem Schwerter Markt
Ullrich nahm Zwiebeln in das Sortiment auf. Dann kamen Äpfel und Birnen hinzu. Später Gurken und Salate. 2017 gehören über 200 Sorten Obst und Gemüse zum Sortiment des Händlers. Die müssen nun alle ihren Platz finden. Der Aufbau hat etwas Malerisches. Mit jeder neuen Kiste aus dem Hänger kommt eine neue Farbe auf die Stand-Leinwand. Das helle Grün von Kohlrabis und Spitzkohl wird vom saftigen Leuchten des Romanesco umrandet.
Der Aufbau dauert rund eineinhalb Stunden
Möhren und Radieschen sorgen für rote Farbtupfer. Satte Kräuter heben weitere Grüntöne auf die Leinwand. Einen Tisch weiter leuchten die Köpfe des Spargels in zartem Violett. „Die haben schon Licht bekommen. Das ist dann keine erste Wahl mehr. Deswegen ist dieser Spargel auch günstiger als der ganz weiße“, sagt Ullrich. Neben den Stangen ruhen tiefrote Erdbeeren, dicht gefolgt von orangefarbenen Pampelmusen, sonnengelben Zitronen und braunem Ingwer. Alle haben eines gemeinsam: eine weite Reise. „Das ist thailändischer Ingwer. Die Zitronen kommen aus der Nähe von Neapel und die Erdbeeren aus Spanien. Die gibt es momentan noch nicht bei uns. Wer jetzt schon Erdbeeren aus Deutschland verkauft, der lügt“, weiß der erfahrene Markthändler.
Rund eineinhalb Stunden dauert der gesamte Aufbau. Um 7.20 Uhr fehlen nur noch wenige Kisten, um den bunten Obst- und Gemüse-Rembrandt zu komplettieren. Während die aufgehenden Sonnenstrahlen die letzten Spuren der Nacht vertreiben, wird auch die letzte Lücke der Auslagefläche geschlossen. Dann stehen noch Feinarbeiten an. Ullrich kontrolliert jeden einzelnen Salat, entfernt welke Blätter, löst die äußerste Schicht eines Knoblauchs, kürzt Lauchzwiebeln um ein paar Millimeter und legt alles wieder an seinen Platz. „Ich kontrolliere so gut wie alles an meinem Stand noch einmal. Ich möchte ja, dass die Leute bereit sind, für Qualität zu zahlen. Dann muss ich auch Qualität liefern“, sagt der 66-Jährige.
Familie Ulrich brachte den Kunden die Ware nach Hause
Wenn der Markthändler von seinem Geschäft erzählt, verfällt er schnell in Nostalgie. Ullrich erinnert sich noch genau an seine ersten Markttage. Mit fünf Jahren hat er seinen Vater das erste Mal zu einem Großeinkauf in Bremerhaven begleitet. Damals hatte die Familie, die 1952 vom schlesischen Weißwasser ins Ruhrgebiet gekommen war, noch einen Marktstand in Dortmund. „Zu dieser Zeit haben wir Bananen noch in Stauden gekauft. Da kroch nicht selten auch mal eine Schlange oder auch eine Vogelspinne raus“, erinnert sich Ullrich.
Mit ihrem Einstieg in das Familiengeschäft waren Peter und Brigitte Ullrich nicht nur auf Märkten unterwegs. Von 1970 bis 2002 brachten sie ihren Kunden die Ware direkt nach Hause. „Das waren schöne Zeiten. Frau Schädel hat mich immer schon mit einem Glas Mineralwasser erwartet. Bei Frau Weber gab es Kaffee und Kuchen, manchmal auch Frühlingssuppe. Da ist man schnell auch mal ein Stündchen geblieben“, erzählt Ullrich und lacht.
"Es macht mir einfach noch zu viel Spaß"
Dann kam der Schlaganfall seiner Frau. Der Transport hatte sich erledigt. Ullrich konzentrierte sich auf den Marktstand – immer auf der Suche nach Besonderheiten, die er mit vor die St.-Viktor-Kirche bringen konnte. Heute verkauft er süße Mangos, französischen Knoblauch oder auch mal Aloe-Vera- Blätter. „Die Esskultur hat sich gewandelt. Wer kocht denn noch klassische Eintöpfe? Heute muss man andere Produkte anbieten“, weiß der Experte.
Mittlerweile ist es 9 Uhr. Das Marktgeschäft ist in vollem Gange. Fast jeder Kunde wird mit Namen begrüßt. Neue bunte Gemälde werden in kleine Tüten verpackt und den Kunden übergeben. Das Ehepaar wirkt zufrieden. Im Gespräch mit den Kunden ist es in seinem Element. Es ist das Persönliche, das ihnen so gut an ihrem Job gefällt – und das sie, auch wenn der Umsatz mal besser war, noch lange nicht missen möchte. „Ich könnte mit Sicherheit schon in Rente gehen. Aber es macht mir einfach noch zu viel Spaß“, sagt Ullrich.
Einkaufen im Dortmunder Großmarkt
Perspektivwechsel: Auf dem Großmarkt
Wieder geht eine bunte Tüte über den Tisch. Bis 13 Uhr wird vor St. Viktor noch weitergewogen, mit dem Block gerechnet und viel geplaudert. Dann beginnt langsam der Abbau. Um 15 Uhr ist das Meiste verstaut. Doch die Ullrichs müssen noch einmal los. Die Kräuter sind fast restlos weggegangen. Die brauchen sie auch für den nächsten Tag. Dann ist Markt in Holzwickede. „Da sind wir eigentlich immer freitags, aber wegen Ostern wird der vorgezogen“, erklärt Brigitte Ullrich. Gegen 19 Uhr sind die beiden zu Hause. Doch lange können sie sich nicht ausruhen. Brigitte Ullrich muss am Donnerstag noch einmal zum Großmarkt in Dortmund – und das bedeutet früh aufstehen, sehr früh.
In völliger Dunkelheit rollt der weiße Transporter wieder los. Die Digitaluhr springt gerade auf 2.05 Uhr um. Die Stadt schläft. Die grellen Scheinwerfer finden nur wenige Begleiter zu dieser Stunde. Fünf Minuten später hat Brigitte Ullrich den Dortmunder Großmarkt am Heiliger Weg erreicht und steigt aus ihrem Wagen. „An diese Uhrzeit gewöhne ich mich nie. Wenn der Wecker rappelt, könnte ich ihn immer noch vor die Wand schmeißen.“
95 Prozent der Ware wird auch verkauft
Ab drei Uhr dürfen die Händler am Großmarkt Waren kaufen. Bevor es soweit ist, geht Brigitte Ullrich ihre Erkundungsrunde. Erdbeeren, Spargel, Feldsalat und Tomaten stehen auf ihrem Zettel. Die Kalkulation ist entscheidend. Steht ein Feiertag an, wie wird das Wetter, welche Saisonware läuft gerade gut? „95 Prozent der Waren, die wir einkaufen, werden wir auch wieder los“, sagt die Markthändlerin.
Die 65-Jährige geht von Halle zu Halle und verschafft sich einen Überblick über das Angebot. Kisten werden verschoben, prüfende Handtests folgen auf Preisnachfragen. Auch beim Spargel schaut sie genau hin. „Der Spargel darf nicht zu viel Farbe haben. Außerdem darf er nicht zu dünn sein, sonst kann man ja nur Suppenspargel daraus machen“, erklärt Ullrich.
Einkaufen und Preisvergleich bei verschiedenen Händlern
Beim dritten Händler wird sie fündig. Fünf Kisten à fünf Kilo stapelt sie in einer Ecke. Erdbeeren, Möhren und Tomaten gesellen sich zu ihnen. Dann geht es zum nächsten Händler. „Ich hab natürlich meine Liste, aber wenn ich etwas Schönes sehe und der Preis stimmt, kann auch noch etwas dazukommen“, sagt die Markthändlerin.
An diesem Tag sind das Clementinen. Die gestapelten Kartons überragen die kleine Markthändlerin um ein Vielfaches. Bis zu 25 Kartons stehen hier an vielen Stellen auf großen Holzpaletten übereinander. Hubwagen anderer Händler poltern über den harten Steinboden der großen Hallen. Über kleine Lautsprecher ist türkische Musik zu vernehmen, die immer wieder von lauten Rufen der Großhändler übertönt wird.
Die Markt-Vorbereitungen laufen mitten in der Nacht
In vielen Hallen ist Ullrich ganz allein bei ihrer Suche. „Das war früher anders. Vor 15 Jahren war es hier brechend voll. Und der Verkauf war so gut, dass man nicht mal in die Kisten gucken durfte. Irgendwer hat die eh gekauft“, erinnert sie sich. Immer mehr Supermärkte haben das verändert. Der Markthändler gehöre zu einer aussterbenden Spezies. „Dabei sind wir ein Kulturerbe“, sagt Peter Ullrich, der hofft, dass diese Tradition nie gänzlich vergeht.
Brigitte Ullrich ist fertig. Spinat, Ananas, Basilikum und Petersilie warten nun zusätzlich darauf, von ihr verladen zu werden. Mittlerweile ist es 3.15 Uhr. Ullrich darf nun mit dem Wagen vorfahren. Sie bezahlt bei den einzelnen Händler, lädt alles auf und macht sich wenig später mit ihrem Mann auf den Weg nach Holzwickede. Der Markt wartet – und mit ihm der Aufbau eines neuen bunten Gemäldes voller Obst und Gemüse.
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