Einhundert kaputte Wörter. Wörter, die in der Kritik stehen. Wörter, die – wenn es nach Betroffenen oder deren Fürsprecher geht – nicht mehr benutzt werden dürfen. Weil sie andere verletzen könnten. Begriffe wie Anschwärzen und Zigeunersauce. Oder Zwerg und Tagesmutter. Einhundert kaputte Wörter, die der Berliner Autor und Journalist Matthias Heine in seinem gleichnamigen Buch gesammelt hat. „Wenn man ein umstrittenes Wort benutzt, kann das dazu führen, dass das Gegenüber nur noch auf dieses Wort reagiert, anstatt die eigentliche Botschaft zu verstehen. Man muss erklären, warum man dieses Wort benutzt hat und dass man – je nach Begriff – auch kein Rassist ist. Es sind Wörter, die diskriminierend empfunden werden können“, sagt Heine.
Eine solche Kommunikationsstörung löste diesen Winter ein Gastwirt auf dem Bautzener Weihnachtsmarkt aus. Auf seiner Karte bot er „Lumumba“ an. Heißer Kakao mit einem Schuss Rum und Sahnehaube. Die Lokalpolitikerin Annalena Schmidt bezeichnete den Namen in den Sozialen Medien als rassistisch. Das Getränk sei nach Patrice Émery Lumumba benannt, einem schwarzen Politiker, der erschossen wurde. Menschen sprangen Schmidt bei ihrer Forderung zur Seite, das Getränk umzubenennen. Von anderen wurde sie attackiert und bedroht. Sie erhielt anonyme Anrufe. Medien in ganz Deutschland berichteten über den Lumumba-Fall aus Bautzen. Und am Ende ist nicht einmal klar, woher der Name tatsächlich stammt.
Kleine aktivistische Gruppen, große Aufmerksamkeit
„Es gibt eine Inflation solcher Forderungen, und es tauchen fast wöchentlich neue umstrittene Begriffe auf“, sagt Matthias Heine. Oft seien sie Auslöser für eine große mediale Aufmerksamkeit, obwohl sie von kleinen aktivistischen Gruppen stammten. „Diese Gruppen behaupten, im Namen großer Gemeinschaften zu sprechen. Dabei wissen die meisten Menschen nicht einmal von der Existenz solcher Begriffe, bis sie durch Medien darauf aufmerksam gemacht werden. Diese Forderungen können zu großen Diskussionen führen, obwohl viele Betroffene vielleicht gar nicht beleidigt wären.“
„Political Correctness hat früher kaum jemanden gekümmert“, sagt der Aachener Sprachwissenschaftler Professor Thomas Niehr. Heute sei es so, „dass es in diesem politischen Bereich auch extreme Auffassungen gibt. Menschen, die meinen, jeder, der sich nicht politisch korrekt äußert, müsse aus dem Diskurs entfernt werden. Das halte ich für eine problematische Entwicklung.“

Heine sieht den Ausgang dieses Sprachkampfes zwar nicht nur auf der politisch linken Seite, aber vor allem. Ursache sei unter anderem der Zusammenbruch des Ostblocks 1989. „Seitdem hat sich die Linke neu erfunden, da ihr der klassische marxistische Klassenbegriff abhandengekommen war. Anstatt sich auf den Gegensatz von Arbeit und Kapital zu konzentrieren, hat sich die Linke als Internationale der Diskriminierten definiert.“ Der Begriff der Diskriminierung habe seitdem einen enormen Aufschwung genommen. Während die diskutierten Diskriminierungs-Themen früher konkret gemessen werden konnten – beispielsweise durch die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen für gleiche Arbeit oder den Anteil von Frauen im Bundestag – sei diese im Laufe der Zeit immer mehr zu einem subjektiven Gefühl und mithilfe von Begriffen wie Mikroaggression, Traumata und Triggern ausgeweitet worden.
Medienethikerin Professor Claudia Paganini, die unsere Serie als Expertin begleitet, hingegen sieht als Ursprung der Sprachkonflikte „emanzipatorische Bestrebungen von Gruppen, die benachteiligt oder unterdrückt wurden und begonnen haben, sich dagegen zu wehren. Mitglieder der queeren oder schwarzen Community etwa forderten in diesem Zusammenhang auch das Recht ein, nicht durch eine bestimmte Wortwahl beleidigt oder herabgewürdigt zu werden.“
Weiße Elite - ohne Rücksicht auf Verluste
So oder so: Für die Verschärfung des Sprachkampfes sorge auf der anderen Seite eine weiße Elite, die sich bislang das Recht herausgenommen habe, so zu sprechen, wie sie wollte – ohne Rücksicht auf Verluste. „Und wenn das jetzt infrage gestellt wird, fühlt sie sich ihrer Rechte beraubt. Zu diesem Ergebnis kommen soziologische Untersuchungen“, sagt Thomas Niehr.
Die „linke Antidiskriminierungs-Auffassung“ führt laut Heine dazu, dass auch völlig unverdächtige Begriffe plötzlich in Kritik geraten. Wenig Verständnis könne er aufbringen für Forderungen nach der Vermeidung von Wörtern wie „anschwärzen“ oder „schwarzfahren“. Der 2020 vom Berliner Diversity-Landesprogramm herausgegebene Sprachratgeber empfiehlt beispielsweise, „anschwärzen“ durch „melden“ und „denunzieren“ zu ersetzen. Alles andere sei rassistisch. Heine hat recherchiert: „Das Wort wird seit Jahrhunderten gebraucht. Sein Ursprung stammt aus einer Zeit, als man Verleumdete wie beim Teeren und Federn mit schwarzer Farbe oder Flüssigkeiten kenntlich machte. „Es ist übertrieben, bei einem Ausdruck, dessen Entstehung nie rassistisch motiviert war, jetzt Rassismus zu entdecken.“
Thomas Niehr warnt im Allgemeinen davor, die Meinungsfreiheit damit zu verwechseln, „dass man alles öffentlich einfach mal raushauen darf.“ Er denke unter anderem an Beleidigungen, üble Nachrede und Holocaustleugnung.
Ähnlich wie im Lumumba-Fall sorgen Forderungen nach der Nicht-Nutzung von Begriffen in der Bevölkerung für massiven Widerstand. Und auch unsere nicht repräsentative Umfrage mit mehr als 3.300 Leserinnen und Lesern zeigt: Knapp 75 Prozent der Teilnehmer halten Produktnamen wie Negerkuss oder Zigeunersauce nicht für diskriminierend. Bei der Verwendung gebe es für sie keine rassistischen Assoziationen. Immerhin dreizehn Prozent sagen eindeutig: Solche Begriffe sind diskriminierend.

Victor Ocansey, Polizeihauptkommissar aus Gelsenkirchen, geboren in Ghana, sagte als Betroffener bereits an anderer Stelle in dieser Serie, der Begriff „Neger“ treffe ihn ganz besonders. Weil er für die Entmenschlichung von Schwarzen stehe. „Ich verurteile jedoch niemanden, der mit diesem Begriff aufgewachsen ist und ihn unbedarft benutzt. Wenn ich Ihnen jedoch meine Geschichte erzähle und darauf hinweise, wie erniedrigend und beleidigend der Begriff für mich und andere Menschen ist – und Sie gehen gleichgültig aus der Tür und benutzen ihn weiter: Dann sind Sie in meinen Augen ein Mensch, der sein Herz nicht am rechten Fleck hat.“
Er selbst habe über Jahre Zigeunersauce zum Grillen benutzt, und auch so genannt. „Das war für mich ganz normal. Mittlerweile sage ich aber, das geht nicht. Das ist tatsächlich rassistisch. Und es tut mir nicht weh, den Begriff einfach wegzulassen.“ Der Zentralrat der Sinti und Roma erläutert, die Bezeichnung „Zigeuner“ sei untrennbar verbunden mit einem rassistischen und aggressiven Feindbild, das sich über Jahrhunderte manifestiert habe. Sinti und Roma selbst hätten sich so nie genannt.
Soldatinnen wehrten sich gegen gegenderte Dienstgrade
Auch Matthias Heine hält die Umbenennung von Produkten wie Negerkuss oder Zigeunersauce für gerechtfertigt. Im Gegensatz zu anderen Begriffen. Nicht immer gehe es dabei um tatsächlichen oder befürchteten Rassismus. Es gehe auch um fehlende Gleichberechtigung und Ausgrenzung. Oft entstehe ein gewaltiges Echo, da viele Behörden, Institutionen und Konzerne politische Korrektheit anstreben würden, sagt Heine. Das zeigen unzählige Beispiele.
So wurde bei der Bundeswehr die „Einmannpackung“, im Volksmund als Fresspaket bekannt, im Januar 2022 in „Einpersonenpackung“ umbenannt. Der Versuch, weibliche Dienstgrade wie Frau Majorin oder Feldwebelin einzuführen, scheiterte hingegen an den Soldatinnen selbst. 78 Prozent der Frauen lehnten in einer Blitzumfrage das Vorhaben ab.

Das Münchener Schulreferat schlug unlängst vor, den Ausdruck „Tagesmutter“ in offiziellen Dokumenten zu streichen. Stattdessen solle geschlechtsneutral der Begriff „Kindertagespflegeperson“ verwendet werden.
Matthias Heine weiß von einem britischen Trend, der es mittlerweile auch in deutsche Kitas geschafft habe. Demnach werde den Kindern mancherorts verboten, ein anderes Kind als „besten Freund“ zu bezeichnen. Dabei stützten sich die Einrichtungen auch auf die Einschätzung der amerikanischen Kinderpsychologin Barbara Greenberg: „Ich sehe die ganze Woche über Kinder, die sich schrecklich fühlen, weil sie keinen besten Freund haben und sich daher ausgeschlossen fühlen.“
Persönliche Gefühle dürften nicht zum absoluten Maßstab für politische Entscheidungen werden, findet Heine. „Sonst öffnen wir die Tür für eine Situation, in der jedes einzelne Privatgefühl als absolute Wahrheit betrachtet wird. Eine kleine Gruppe könnte dann vorschreiben, wie 130 Millionen Deutschsprechende zu sprechen haben. Das lehne ich ab.“ Auch der Begriff Rassismus werde mittlerweile auf so viele Dinge und Situationen angewendet, dass er kaum noch etwas erkläre. „Es ist wichtig, dass wir uns mit den Begriffen und ihrer Bedeutung auseinandersetzen.“ Eben wie beim „Anschwärzen“.
„In Deutschland braucht es eine Warnung im Vorwort“
Und dann ist da noch der zeitgenössische Gebrauch von Begriffen in Büchern, Liedern oder der Benennung von Kunstwerken. Lange wurde der kleine Mensch, der auf einem Gemälde des flämischen Malers Jan Fyt den Größenunterschied zwischen einem wahrhaft riesigen Hund und einem vielleicht fünf Jahre alten Knaben verstärkt, Zwerg genannt: „Großer Hund, Zwerg und Knabe“. Im September 2021 wurde bekannt, dass man das 1652 entstandene Bild in der Datenbank der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden in „Hund, kleinwüchsiger Mann und Junge“ umbenannt hatte.
Zeitgenössische Werke nachträglich zu ändern, findet Heine falsch und bringt ein Beispiel: Der amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead habe einmal seinem deutschen Verlag geantwortet, angesprochen auf die Sprache in einem Roman, der zur Zeit der Sklaverei spielt: „Ich kann den Sklavenjäger doch nicht für die heutige Zeit politisch korrekt sagen lassen, dass er einen ‚Afroamerikaner‘ jagt.“ In Amerika sei das jedem klar, sagt Heine. In Deutschland habe es tatsächlich eine Warnung im Vorwort gebraucht, um zu erklären, dass die Sprache im Einklang mit der historischen Zeit steht und dass der Autor, selbst Afroamerikaner, sich das so gewünscht habe.
Wie wir sprechen, darüber entscheidet am Ende immer die Sprachgemeinschaft, also die Gesellschaft, sagt Thomas Niehr. „Und die muss aushandeln, was angemessen und was unangemessen ist. Bestimmte Ausdrücke setzen sich durch, andere bleiben umstritten. Was man sich immer wieder klarmachen muss: Sprache ist gesetzlich weitgehend nicht reguliert.“
Man darf also fast alles sagen, man müsse nur damit rechnen, dafür auch kritisiert zu werden, und das dann aushalten können. „Ich habe aber auch Verständnis für Menschen, die bei der ganzen Dynamik rund um unsere Sprache Unsicherheiten und Ängste entwickeln. Darauf kann eine Trotzreaktion folgen – nach dem Motto: Jetzt erst recht, ich lasse mir den Mund doch nicht verbieten.“
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Das Buch: Matthias Heine, Kaputte Wörter, Duden Verlag, 2022, ISBN 978-3411756902, 22 Euro
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