„Alles sagen“: Wie eine Redaktion um die Serie streitet Blick hinter die Kulissen des journalistischen Alltags

„Alles sagen“: Wie eine Redaktion um die Serie streitet: Blick hinter die Kulissen des journalistischen Alltags
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Ulrich Breulmann

Diese Serie ist eine Zumutung. Das wurde unserem Redaktionsteam immer deutlicher, je tiefer wir in den vergangenen Monaten in das Thema eingestiegen sind. „Um Tabuthemen aufzugreifen, muss man sie benennen: ein Dilemma“, sagt unsere Kollegin Sylvia vom Hofe. Recht hat sie.

Die Idee zu dieser Serie hat sich aus der Wahrnehmung entwickelt, wie seit geraumer Zeit in der Gesellschaft heikle Themen diskutiert werden. Vielmehr: Wie um heikle Themen ein großer Bogen gemacht wird und diese eben nicht diskutiert werden.

Nicht, weil sie unwichtig wären, sondern weil sie schnell zur moralischen Anklage führen können: „Du bist ausländerfeindlich! Wie kann Dir die Zukunft unserer Erde nur egal sein? Das ist Sexismus!“

Wer bestimmte Themen auch nur benennt, kann in einer Diskussion schnell in Rechtsaußenverdacht geraten, bevor auch nur ein einziges Argument ausgetauscht ist. Da ist es egal, ob es um die Kriminalität von Ausländern, das Klima, die Political Correctness, das Gendern oder ein anderes Thema geht. Und da ist egal, wo diskutiert wird: an der Uni, auf dem Bau, in der Kneipe oder in der Redaktion.

Ein Redakteur ist sogar aus unserem Projekt ausgestiegen: Er hatte kein gutes Gefühl dabei, dass unsere Serie die Themen aufgreift, mit der die AfD seit Jahren Politik betreibt.

Tatsächlich hat die rechte Partei ein gutes Gespür für die Brisanz solcher Themen, spitzt sie zu, lässt alle Differenzierungen beiseite und zieht damit in den Wahlkampf.

Und dann sind da noch radikale Forderungen von Klimaklebern und der „Letzten Generation“ – so komplex, dass kaum jemand die Zeit aufbringt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Wer prüft diese Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt, wenn nicht wir Journalisten? Wie können, wie wollen, ja wie müssen wir als unabhängiges Medium damit umgehen? Das war die Kernfrage, um die sich die Diskussionen in der Redaktion drehten.

Was wir uns da vorgenommen haben, das spürten wir in jeder Redaktionsrunde mehr, würde uns wehtun. Unser Ziel war es ja, kontroverse Themen von allen Seiten zu beleuchten. Das heißt: Auch aus den Perspektiven, die wir sonst gerne meiden, weil wir nicht riskieren wollen, Rechten wie Linken auf dem Leim zu gehen.

Unser Weg zum heutigen Serienstart war schwer. Und er wird auch schwer bleiben.

Allein über den Titel unserer Serie haben wir lange gestritten. Im ersten Entwurf lautete er „Darf man das noch sagen?“. Nein, das geht nicht, erhob sich Protest. Zu nah an rechter Propaganda sei das, in Deutschland sei die Meinungsfreiheit doch ein so hohes Gut wie in kaum einem anderen Land der Erde. Das dürfe man doch nicht anzweifeln.

Tabuthemen seien doch gar nicht neu, mahnte darüber hinaus mein Kollege Matthias Langrock. „Die hat es in unserer Gesellschaft schon immer gegeben.“

Klar, dürfe man in Deutschland alles sagen, warf jemand ein. Alles andere seien rechte Parolen.

Das Problem: Damit war zwar die Rechtslage exakt umschrieben, aber eben nicht das Gefühl, das sich in den vergangenen Jahren bei vielen breitgemacht hat. Am Ende entschieden wir uns für „Alles sagen. Der Streit um die freie Meinung“ – angelehnt an Spiegel-Gründer Rudolf Augsteins eisernes Journalisten-Gesetz „Sagen, was ist“.

Oder die Frage, wen wir denn als Experten oder Expertin bei einzelnen Themen zu Wort kommen lassen wollen. Wie extrem darf jemand denken und sprechen, dass wir ihm ein Forum für seine Meinung bieten?

Uns alle eint zwar die Überzeugung, dass wir niemandem erlauben werden, die Grenze der Strafbarkeit zu überschreiten. Wem müssen wir zuhören, auch wenn es den eigenen Ansichten widerspricht und weh tut? Wo ziehen wir moralische Grenzen?

Viel Reibung und Diskussion also. Dennoch eint unsere Projektredaktion eines: der Wunsch nach einer sachlichen und ehrlichen Berichterstattung.

Mein Kollege Christian Gerstenberger sagt: „Meine Hoffnung ist, dass wir mit unserer Serie dazu beitragen, Menschen zurückzugewinnen für die offene Debatte. Dass wir zeigen können: Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, sondern unendlich viele Schattierungen.“

Wenn uns das gelingt, hat sich die Zumutung gelohnt – für uns, für Sie und für die gesellschaftliche Debatte.

Wir freuen uns über Reaktionen von Ihnen auf unsere Serie - Anregungen, Kritik und Lob sind willkommen. Schreiben Sie uns an: sagen@lensingmedia.de

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