An einem Konferenztisch in Gelsenkirchen sitzt ein Mann, der viel Fremdenfeindlichkeit gesehen hat. Als Victor Ocansey 1993 seine Ausbildung startet, gehört er zu den ersten schwarzen Polizisten in NRW.
Zeitungsredaktionen und Fernsehsender rufen an. Sie wollen über den jungen Polizisten berichten. Doch Victor lehnt ab. „Ich wollte dazugehören, Teil des Teams sein. Ich wollte keine Sonderrolle.“
Die hat er damals schon in der eigenen Familie. Sein Umfeld rät ab, als er sich bei der Polizei bewerben will. Das habe keinen Sinn, die wollen keinen schwarzen Polizisten.
Auch Ocanseys Vater, der ein Jahr zuvor gestorben ist, wäre dagegen gewesen. „Er hatte große Angst vor der deutschen Polizei“, sagt Victor Ocansey. Dabei sei er nie in einen Konflikt geraten. Für seinen Vater, der die meiste Zeit seines Lebens in Ghana verbracht hatte, besaß die deutsche Polizei kein gutes Image. Warum? Darüber ließe sich lange sprechen.
Ocansey ist ein 1,90 Meter großer Mann, 48 Jahre alt. Für den Termin trägt der Erste Polizeihauptkommissar an diesem Tag Uniform. Er beschreibt sich als „sehr dunkel, obwohl ich eine deutsche weiße Mutter habe“.
Victor Ocansey wird 1975 in Accra, Ghana, geboren. Seine Mutter unterrichtet damals an der Achimota Secondary School. Der 20 Jahre ältere Vater arbeitet im mittleren Management einer Schokoladenfabrik.
Und dann gibt es noch eine fünf Jahre ältere Schwester. Als Victor zwei Jahre alt ist, zieht die Familie ins westfälische Hamm. „Meine Eltern fanden, dass wir Kinder in Deutschland eine bessere Zukunft haben können.“ Der Kontakt nach Ghana reißt nie ab.
„Priester“ war die erste Berufswahl, aber dann...
Victor wächst in einem deutschen Umfeld auf. Er ist Messdiener. In Ghana sind seit der Kolonialisierung viele Menschen Christen. Eine Zeit lang will er Priester werden. Heute fällt es ihm schwer zu glauben. „Ich möchte überaus gerne in Gott Halt finden, aber im Polizeidienst sieht man Tod, Leid, Gewalt und Ungerechtigkeit. Wenn es wirklich einen Gott gibt: Warum lässt er so viel zu?“
Nicht Priester, sondern Polizist zu werden, gehört zu den besten Entscheidungen in seinem Leben. Victor schafft den Eignungstest, er macht Karriere von der Pike auf: erst im mittleren und dann im gehobenen Polizeivollzugsdienst. Streife, Wachdienst, Bekämpfung von Straßenkriminalität, Sprecher beim Landesamt für Ausbildung der Polizei NRW.
Seit September leitet er die Stabsstelle Kommunikation der Hochschule für Polizei und Verwaltung in NRW.
Die Anfänge in Uniform sind nicht einfach. Victor erinnert sich an die überraschten Blicke der beiden Kadetten in der Polizeischule, als ihnen damals klar wird, dass sie die nächsten zweieinhalb Jahre mit einem Schwarzen die Stube teilen sollen. Oder an das Gerede hinter seinem Rücken, als er nach der Ausbildung seinen Dienst bei der Kreispolizeibehörde Unna antritt.
Skepsis, die Angst vor der Fremde, gibt es immer wieder. „Doch das Gerede verstummte, sobald man die Kollegen näher kannte“, sagt er. Ein intaktes Vertrauensverhältnis ist unter Polizisten enorm wichtig. „Im Einsatz riskiert jeder für den anderen sein Leben.“ Und echte und offene Ablehnung, das ist Ocansey wichtig, habe er bei der Polizei nie erlebt. Anders auf der Straße.
Ein Schwarzer als Polizist - das Stadtgespräch in Unna
In Unna spricht sich in den 90ern schnell herum, dass es jetzt einen schwarzen Polizisten gibt. „Damals war ich Stadtgespräch – und wiederholt gab es Beleidigungen.“
Einmal ruft eine Frau, die in eine Kneipenschlägerei verwickelt ist: „Fuck you, Nigger!“ Seine Kollegen bringen den Rassismus zur Anzeige.
Als er bei einer Ermittlung an einer Doppelhaushälfte klingelt, knallt die Bewohnerin erschrocken die Tür wieder zu. Ein schwarzer Polizist in Deutschland? Das kann nicht sein.
Für People of Color gibt es so gut wie keinen Tag ohne Rassismus, sagt Ocansey. „Entweder gibt es Beleidigungen, Situationen des Unbehagens oder man überlegt sich, wie man Situationen aus dem Weg geht, in denen es zu Rassismus kommen könnte.“
Rassismus sei vielschichtig, mal glasklar und offen, mal unterschwellig oder einfach nur ein Gefühl. „Rassismus kann ausnahmslos von jedem Menschen ausgehen“, sagt Ocansey.
„Schau, Mama, da ist ein N....“
Als Jugendlicher wechselt er viele Jahre die Straßenseite, wenn ihm junge Mütter mit ihren Kindern entgegenkommen. Nicht selten zeigen Mädchen und Jungen mit dem Finger auf ihn und rufen: „Schau, Mama, da ist ein Neger.“
Neger. Dieser Begriff trifft ihn besonders. Er steht für 400 Jahre Versklavung. Weiße – auch Deutsche – haben ihn benutzt, um Schwarze zu entmenschlichen. Für Victor Ocansey gibt es kein schlimmeres Schimpfwort.
Er differenziert jedoch: „Ich verurteile niemanden, der mit diesem Begriff aufgewachsen ist und ihn unbedarft benutzt. Produkte wurden so benannt, der Begriff stand in Schulbüchern, ja sogar in historischen Polizei-Unterlagen habe ich ihn gefunden.
Wenn ich Ihnen jedoch meine Geschichte erzähle und darauf hinweise, wie erniedrigend und beleidigend der Begriff für mich und andere Menschen ist – und Sie gehen gleichgültig aus der Tür und benutzen ihn einfach weiter: Dann sind Sie in meinen Augen ein Mensch, der sein Herz nicht am rechten Fleck hat.“
Die Folgen der Silvesternacht von Köln
Die Silvesternacht von Köln 2015 hat die Vorurteile nochmals verschärft, sagt Ocansey. Damals gibt es Hunderte sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Die Täter: junge Männer, vor allem aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum.
„Dieses strafrechtliche Fehlverhalten hat People of Color einen empfindlichen Schaden bereitet, der das, was so viele redliche Menschen mit Einwanderungsgeschichte über Jahrzehnte an Vertrauen und Reputation aufgebaut haben, binnen Stunden oder gar Minuten zunichtemachen“, sagt Ocansey.
Er gehe seit vielen Jahren gerne in die Sauna, um die Seele baumeln zu lassen und Energie zu tanken. „Aber ich gehe ungern alleine, da dort männliche People of Color in einen besonderen Blick genommen werden. Ich versuche, durch mein Verhalten und meine Blickführungen jedem nur möglichen falschen Anschein entgegenzuwirken.“
Gleiches gelte fürs Shoppen, oder auch bei einsamen Begegnungen auf düsteren Parkplätzen, die weißen Menschen aufgrund ihrer Vorurteile spürbare Ängste und Unbehagen bereiteten. „Ich versuche, die Anspannung aus solchen Situationen zu nehmen, indem ich bewusst räumliche Distanz herstelle oder sehr freundlich und zugewandt grüße“, sagt Ocansey.
Der skandalöse Reggae-Festival-Vorfall von Münster
In Münster ereignete sich im Sommer 2020 ein Vorfall, der tief sitzt. Victor Ocansey und seine beiden erwachsenen Söhne, Vincent und Leroy, sind voller Vorfreude auf das Reggae-Festival im Hafenviertel. Im Auto lachen sie und sprechen darüber, was sie trinken werden. Victor schätzt die Zeit sehr, die er mit seinen Söhnen verbringt. Quality Time.
Vincent studiert International Management in Dortmund und spielt Fußball in der Regionalliga in Gütersloh, während Leroy als Bundespolizist in Berlin arbeitet. Sie sehen sich aufgrund der Entfernungen selten. Doch der Tag, der so voller Freude begann, endet in einer erniedrigenden Situation.
Am Eingang des Festivals stoppt sie ein Türsteher. Ein großer, breitschultriger Mann, erinnert sich Ocansey. Offensichtlich einer, der mehr auf Muskeln als auf Verstand und Verständigung setzt. „Nein, ihr heute nicht (…) Am besten geht ihr woanders hin.“
Zuerst denken die drei Männer an einen Scherz, dann an einen Fehler des Türstehers. Als auch der herbeigerufene Veranstaltungsleiter nicht helfen will, wird klar: Schwarze Gäste sind nicht willkommen — auf einem Reggae-Festival mit Vorverkaufstickets an einem Sonntagnachmittag. Afrikanische und karibische Rhythmen dringen über den Bauzaun vom Festivalgelände.
„Können Sie sich vorstellen, wie das ist? Wenn andere Gäste an ihnen vorbei gehen und willkommen geheißen werden, während man selbst davongejagt wird? Wir waren weder betrunken, wir waren ordentlich gekleidet. Das war eindeutig eine extrem zweifelhafte Entscheidung“, sagt Victor Ocansey.
Ihm schlägt das Herz damals bis zum Hals, er fühlt noch mehr Wut, Fassungslosigkeit und Traurigkeit. Und das alles vor seinen Söhnen. Einer von ihnen sagt: „Komm Papa, lass es dir nicht zu Herzen gehen. Wir kennen das doch.“
Das ist der Moment, in dem Victor Ocansey beschließt, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Nicht dieses Mal. Der Medienprofi macht ein Selfie von sich und seinen Söhnen und veröffentlicht die Geschichte noch am selben Tag auf Facebook. Die Reaktionen sind enorm. Journalisten rufen an, Medien aus ganz Deutschland und sogar darüber hinaus berichten über den Polizisten, der aufgrund seiner Hautfarbe nicht auf das Festival gelassen wurde. Der Veranstalter entschuldigt sich daraufhin und feuert den Türsteher.

Die Demütigung hinterlässt tiefe Spuren bei Victor Ocansey. Wann immer er ausgehen möchte, was eher selten sei, versuche er, vorher den Veranstalter zu kontaktieren und zu erfragen, ob er willkommen sei.
Situationen wie in Münster kommen überall in Deutschland vor. Jeden Tag. Für Ocanseys Jungs ist es Alltag, an der Diskotür abgewiesen zu werden. Als einer der beiden Söhne kürzlich Geburtstag hatte, wurde der Plan direkt wieder verworfen, in einen Club nach Düsseldorf zu fahren. Zu weit weg, zu viel Risiko, nicht reinzukommen. So sollte kein Geburtstag enden.
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Rassismus ist in Deutschland weit verbreitet. Zu diesem Ergebnis kommt das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in einer aktuellen Rassismus-Studie.
Demnach gibt jeder fünfte Bewohner in Deutschland an, selbst schon einmal von Rassismus betroffen gewesen zu sein. Nur 35 Prozent der Bevölkerung sagen, noch nie in irgendeiner Form – weder als direkt noch als indirekt Betroffene – mit Rassismus in Berührung gekommen zu sein. Rassismus in Deutschland ist kein Randphänomen, heißt es in der Studie.
Gibt es bei der Polizei Racial Profiling?
Trifft das auch auf die Polizei zu? Menschen mit dunkler Hautfarbe protestieren gegen Racial Profiling. Dann, wenn sie augenscheinlich wegen ihrer Hautfarbe auf offener Straße kontrolliert werden.
„Der Begriff Racial Profiling wird bei der Polizei gar nicht verwendet“, sagt Ocansey. „Wir arbeiten bei Personenkontrollen ausschließlich mit Erfahrungswerten und mit Kontext. Das bloße Erscheinungsbild als auch die Hautfarbe dürfen nicht für sich alleine stehen. Wenn zum Beispiel in einem konkreten Stadtviertel mit Drogen gehandelt wird und wir wissen, dass es sich bei den Tätern hier verstärkt um Schwarzafrikaner handelt, dann kontrollieren wir auf der Straße entsprechend anlassbezogen.“ Doch Ocansey könne sehr gut verstehen, wenn Betroffene ohne diese Kenntnisse hier Rassismus empfinden würden.
„Wenn wir auf der anderen Seite nach einem Täter suchen, der Kinder auf einem Spielplatz sexuell belästigt hat, und keine Personenbeschreibung vorliegt, würden wir uns bei der Fahndung wohl eher auf Westeuropäer konzentrieren, gleichwohl auch hier grundsätzlich in alle Richtungen ermittelt wird und stets die Gesamtzusammenhänge zu berücksichtigen sind.“
Victor Ocansey würde sich mehr Kommunikation und Aufklärung in solchen Situationen wünschen. „Leider bleibt bei Einsätzen häufig nicht die Zeit dafür. Oder Erklärungen wollen von enttäuschten und verärgerten Betroffenen nicht gehört werden.“
Die Extremismusfälle von Essen
Die Polizei in Essen hat in den letzten Jahren durch Extremismusfälle das Vertrauen der Migranten stark erschüttert. 29 Polizisten tauschten in Chats Hitler-Bilder aus und äußerten sich rassistisch. Innenminister Herbert Reul bezeichnete dies als „übelste und widerwärtigste neonazistische und rassistische Hetze“. Diese Vorfälle seien eine Schande und träfen die Polizei tief.
„Das hätte ich in dieser brachialen Tiefe nicht für möglich gehalten“, gesteht Ocansey. Er betont, dass diese Fälle das Image von 56.000 Polizistinnen, Polizisten und Beschäftigten der Polizei in NRW beschädigt haben.
Solche Nachrichten würden bei Migranten in Deutschland, aber auch bei Menschen auf der ganzen Welt — wie einst bei seinem Vater in Afrika — für ein schlechtes Image sorgen. Doch er sieht keinen flächendeckenden Rassismus bei der Polizei. „Dass unsere Organisation mit aller Konsequenz und Klarheit darauf reagiert und alle Betroffenen suspendiert hat, zeigt die Entschlossenheit und gibt mir ein gutes Gefühl“, sagt Ocansey.
Ein Mensch mit dem Herz am rechten Fleck.
Die Polizei arbeitet hart daran, das Vertrauen wiederherzustellen. Sie setzt auf diskriminierungsfreies Handeln, interkulturelle Seminare und ethische Bildungsprogramme.
15 Prozent der Polizistinnen und Polizisten in NRW haben Migrationshintergrund. Sie fungieren als Botschafter ihrer Herkunftsländer und als Brückenbauer zwischen den Kulturen. Ocansey hofft auf eine steigende Quote.
Er selbst sieht sich als einen solchen Botschafter. Er setzt auf Dialog statt Konfrontation. Nachdem sich der Veranstalter des Münsteraner Reggae-Festivals bei seiner Familie entschuldigt hatte, löschte er seinen Facebook-Post. „Ich wollte den Druck von dem Unternehmen nehmen und die Möglichkeit für einen unaufgeregteren Dialog schaffen“, erklärt er.
Victor Ocansey verkörpert das, was er von anderen erwartet: Ein Mensch mit dem Herz am rechten Fleck.
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