
1919 schrieb der Soziologe Max Weber, ein guter Politiker müsse zum Wohle der Gesellschaft drei Eigenschaften verkörpern: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Seit einigen Wochen reift in mir die Überzeugung, dass sehr viele Politikerinnen und Politiker diese Eigenschaften verloren haben.
Was sich rund um das Ampel-Aus abgespielt hat, hat als würde- und charakterloses Drama unserer Demokratie großen Schaden zugefügt. Die Frage, ob die Politik der Ampel gut oder schlecht war, spielt dabei nur eine Nebenrolle. Viel schlimmer ist das Verhalten der Parteien in dieser Zeit.
Das erbärmliche Schauspiel, das Christian Lindner und seine FDP aufgeführt haben, hat aus einer Regierungskrise eine Krise des demokratischen Urvertrauens gemacht.
Statt alle Kraft in die Bewältigung der Probleme des Landes zu stecken, schmiedeten Lindner und Co. Pläne, die Ampel zu stürzen. Das FDP-Papier mit der skandalösen Wortwahl („D-Day“, „offene Feldschlacht“) ist dabei nur das i-Tüpfelchen in der Strategie zur Regierungs-Demontage.
Recherchen der ZEIT haben enthüllt, dass die FDP seit Monaten darauf hingearbeitet hat, SPD und Grüne bis aufs Blut zu provozieren. Einziges Ziel: Den Bogen so überspannen, dass die Koalition auseinanderbricht.
Als das klappt, wirft ausgerechnet D-Day-Regisseur Lindner dem Kanzler eine „Entlassungsinszenierung“ vor. Welche Heuchelei! Und als die Geheimoperation ans Licht kommt, wird bagatellisiert, geleugnet und gelogen.
Selbst als das „D-Day-Papier“ öffentlich ist, behauptet Lindner weiter, es nicht gekannt zu haben. Da kommt mir doch der 18. September 1987 in den Sinn, als Schleswig-Holsteins damaliger Ministerpräsident Uwe Barschel sein „Ehrenwort“ gab.
Lindner, seit Jahren quasi Alleinherrscher der FDP, will vom D-Day-Papier nichts gewusst haben. Für wie dumm hält er uns? Generalsekretär und Bundesgeschäftsführer der FDP verlieren ihren Job. Lindner bleibt. Warum?
Lindner hat beim Amtsantritt gelobt: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“
Ich fände eine Überprüfung interessant, ob Lindner mit seiner von Lügen getränkten Hollywood-Show seinen Eid gebrochen hat. Ganz sicher aber haben er und die FDP-Führung die Glaubwürdigkeit nicht nur der FDP, sondern aller Parteien erschüttert. Warum sind Lindner und der Rest der FDP-Chefetage nicht längst zurückgetreten? Ihre wiedergekäuten Ausflüchte und Verbiegungen der Wahrheit sind nur noch peinlich.
Apropos peinlich. Der Zoff in der SPD um den Kanzlerkandidaten passt in diesen Herbst des politischen Abbruchtheaters. Olaf Scholz als Kanzler hat selbst in der eigenen Partei ein so mieses Image, dass es rätselhaft ist, warum die SPD an ihm festhält. Zumal Boris Pistorius als aktuell parteiübergreifend beliebtester Politiker im Land eine Alternative wäre. Dessen öffentlichen Verzicht sollte man nicht so ernst nehmen.
Natürlich ist ein Kandidatenwechsel keine Erfolgsgarantie – siehe Biden und Harris in den USA – aber: Stand heute wird Scholz bei der Wahl eine vernichtende Niederlage einfahren. Hat die SPD die Lust am Regieren verloren?
Und die Opposition? Vor einigen Tagen kursierte ein CSU-Plakat. Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU) blicken ernst in die Kamera. Dazu der Spruch: „100 Tage, bis wir Deutschland wieder in Ordnung bringen“.
Bis 2021 stellte die Union 16 Jahre lang mit Angela Merkel die Kanzlerin. Die Ampel mit SPD, Grünen und FDP war nur drei Jahre im Amt. Und jetzt soll sie an allem schuld sein? Als wenn marode Straßen, Brücken und Schienen, bröckelnde Schulen, Zuwanderungsfragen, eine Monster-Bürokratie erst seit drei Jahren ein Problem wären!
Wenn schon etablierte Parteien – von Populismus-Truppen wie AfD und BSW ganz abgesehen – so reden und handeln, überrascht es nicht, dass viele Menschen „keinen Bock“ mehr haben auf diesen politischen Zirkus.
Bis zur Wahl sind es noch rund 80 Tage. Mir graut vor dieser Zeit, denn ich fürchte, dass Verdrehungen, Halbwahrheiten, absurde Versprechungen und vernichtendes Niedermachen der anderen diese Tage prägen werden. Hoffentlich irre ich mich. Aber die Tatsache, dass eine solche Strategie zum Wahlsieg führen kann, hat gerade erst Donald Trump bewiesen. Kein gutes Omen.
Dabei könnte Demokratie mit Stil und Würde so einfach ein. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat 2002 gesagt: „Die ganze Kunst der Politik besteht darin, das langfristig Notwendige kurzfristig mehrheitsfähig zu machen.“
Das aber gelingt nur, wenn in der Politik die drei von Max Weber genannten Eigenschaften gelebt werden: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Aktuell sieht es nicht danach aus.
„Scholz ist der Richtige“ : Videobotschaft von Pistorius im Wortlaut