Sollen deutsche Behörden bei ihren Berichten über Straftaten die Nationalität des Tatverdächtigen nennen? Das ist ein Thema, das Sawsan Chebli direkt berührt, denn sie kennt die Anfeindungen, die Migranten in Deutschland ausgesetzt sein können, aus eigener Erfahrung. Die 1978 in Berlin als Tochter einer geflüchteten palästinischen Familie geborene Sawsan Chebli erlebt nach ihren eigenen Worten täglich Hetze und Hass.
Sawsan Chebli ist praktizierende Muslima und Mitglied der SPD. Unter anderem war sie stellvertretende Sprecherin des damaligen Außenministers Franz-Walter Steinmeier und von 2016 bis 2021 Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund. Wir haben mit der Autorin, deren jüngstes Buch „Laut“ von „Hate Speech“ im Internet handelt, gesprochen.
Frau Chebli, Vor vier Jahren gab es nach den Silvesterkrawallen in Köln eine hitzige Diskussion, ob die Polizei grundsätzlich die Nationalität von Tatverdächtigen nennen soll. NRW-Innenminister Herbert Reul ist strikt dafür. Im Vorgespräch haben Sie mir erzählt, dass Sie nichts dagegen haben – wenn eine Bedingung erfüllt ist. Was meinen Sie damit?
„Der Punkt ist doch, dass es bei denjenigen, die auf die Nennung der Nationalität pochen, nicht wirklich um die Nationalität geht. Das hat die Silvester-Debatte gezeigt. Denn auch nachdem klar war, dass viele der Täter Deutsche waren, kam die Frage auf, ob es denn ,echte‘ Deutsche seien, also ob sie deutsche Vorfahren haben. Dabei kennt unser Grundgesetz keine Deutschen erster und zweiter Klasse.“
Was müsste aus Ihrer Sicht die Konsequenz sein?
„Wenn jemand für die Nennung von solchen Merkmalen ist, dann sollten wir das ab jetzt immer tun, wenn es zu Gewalt in Deutschland kommt und dann eben auch dazuschreiben, wenn zum Beispiel der Supermarkt um die Ecke von Mario XY überfallen wurde, einem weißen Deutschen.
Oder bei Fällen sexueller Gewalt in der Unterhaltungsbranche. Hat da jemals jemand danach gefragt, welchen Migrationshintergrund Person X hat? Die Nennung macht darüber hinaus auch Sinn, wenn es einen sachlichen Zusammenhang gibt wie zum Beispiel bei Terroranschlägen oder bei Polizeigewalt. Hier spielen Gruppenzugehörigkeit und andere Merkmale eine Rolle, weil sie Aufschluss geben können über die dahinterstehende Ideologie.“
Reul und seine Unterstützer argumentieren, dass man sagen müsse, was Sache ist. Wenn man die Nationalität nicht nenne, leiste das Verschwörungstheorien und der AfD-Propaganda Vorschub. Können Sie das aus Ihrer Sicht einordnen?
„Diesen Drang, die Kriminalität von als fremd wahrgenommenen Menschen ihrer Herkunft zuzuschreiben, so als würde das die kriminelle Neigung erklären, ist ein Reflex, den wir uns abgewöhnen müssen. Denn bei Herkunftsdeutschen argumentieren wir ja auch nicht mit der hiesigen Kultur, wenn sie kriminell werden.
Da suchen wir die Gründe nicht in der Gruppenzugehörigkeit, sondern im Individuum und den gesellschaftlichen Verhältnissen. Mit diesem doppelten Maßstab muss Schluss sein. Was mich wirklich nervt: Kommt es in diesem Land zu Gewalt von Migrantinnen und Migranten, wird die gesamte Integrationspolitik in Frage gestellt. Es wird von gescheiterter Integration gesprochen, es werden Abschiebungen, harte Strafen gefordert. Die Forderung der Nennung suggeriert, dass Kriminalität ein von außen eindringendes Phänomen ist und wir es wieder externalisieren könnten.“
In Deutschland haben wir einen Anteil von Menschen, die keinen deutschen Pass besitzen, von rund 13 Prozent. Der Anteil der Nicht-Deutschen an den Tatverdächtigen aller Straftaten liegt dagegen bei 38,6 Prozent. Auch wenn diese Zahlen, wie Kriminologen erklären, kein wirklich korrektes Bild abgeben und von der AfD-Propaganda ausgeschlachtet werden, ist die Diskrepanz schon hoch. Wie bewerten Sie diese Zahlen? Wie ordnen Sie den hohen Anteil von Ausländern unter den Tatverdächtigen ein?
„Die Betrachtung der absoluten Zahlen ist hier irreführend. Denn unter diesen Zahlen fallen auch Straftaten, die nur von Ausländern begangen werden können, weil es zum Beispiel Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz mit umfasst. Außerdem ist die migrantische Bevölkerung im Schnitt deutlich jünger, auch das ist ein Faktor, der Delinquenz mit beeinflusst.
Aber ich will existierende Probleme auch nicht wegreden. Sie sind da und wir müssen sie lösen. Sie sind aus meiner Sicht aber auch lösbar: strafrechtlich und gesellschaftlich. Wir sind hier nicht ohnmächtig. Wir haben einen starken Staat und wie strak er ist, ist eine politische Frage und die muss gelöst werden. Eine Ethnisierung des Problems löst das Problem jedenfalls nicht.“
Viele Menschen fühlen sich in bestimmten Stadtvierteln – vor allem in solchen mit einem hohen Ausländeranteil – unwohl. Vor allem, wenn sie abends auf die Straße gehen. Können Sie das nachvollziehen?
„Tut mir leid, aber ich finde das ist eine problematische Haltung. Wenn jemand sich allein deshalb nicht wohlzufühlen meint, weil Menschen dunkler Haar- und Hautfarbe ihm oder ihr Angst machen, dann sollte er oder sie sich fragen, was für Feind- und Fremdbilder und Vorurteile er oder sie hat. Auch in den USA gibt es dieses Phänomen, dass Weiße sich unwohl fühlen und die Straßenseite wechseln, wenn ihnen ein schwarzer Jugendlicher im Hoodie entgegenkommt.
Etwas anderes ist die Frage, ob es Stadtteile gibt, die aufgrund der Kriminalität oder Verrohung und Gewalt zu Orten der Angst werden – und zwar egal ob für Menschen mit oder ohne Einwanderungsgeschichte. Es ist eine Aufgabe für die Politik und die Zivilgesellschaft, wie wir solche Stadtteile sozial auffangen und ein Klima schaffen, in dem sich niemand aufgrund von Herkunft, sexueller Identität oder Religion unsicher fühlen muss.“
Wenn man sich Daten genau anschaut, dann ist die AfD mit ihrer Hetze gegen Ausländer besonders in den Bundesländern stark vertreten, in denen der Ausländeranteil gerade am niedrigsten ist. Das ist doch völlig absurd. Wie erklären Sie sich das?
„Die Leipziger Autoritarismus-Studie zeigt , dass 38,4 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zustimmt: ,Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet‘. Im Westen zeigen sich 22,7 Prozent von dieser Aussage überzeugt. Wissenschaftler führen das auf mangelnde Kontakte zu Migranten und Migrantinnen zurück. Dem stimme ich zum Teil zu.
Bestimmte Feindbilder, wie die Ablehnung von Muslimen, ist beispielsweise nicht nur auf mangelnde Begegnung zurückzuführen. Das ist ideologisch und geht viel tiefer.“
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2015 gab es, als im Spätsommer sehr viele Flüchtlinge über die Balkanroute in Deutschland ankamen, eine beeindruckende Willkommenskultur. Nach einer gewissen Zeit flaute die stark ab. Heute ist von einer Willkommenskultur kaum noch etwas zu spüren. Stattdessen gibt es wieder Ängste, dass zu viele Fremde in unser Land kommen und unser gewohntes Leben aus dem Tritt bringen. Wie bewerten Sie das?
„Das sehe ich anderes. Wir haben eine unglaublich lebendige Zivilgesellschaft. Als Russland in die Ukraine einmarschiert ist, waren Tausende Menschen am Bahnhof und haben Geflüchteten Hilfe angeboten. Ich bin sicher, dass sich dieses ehrenamtliche Kapital immer wieder neu aktivieren lässt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass sich Deutschland seit Jahren im Dauerkrisenmodus befindet. Viele Leute sind mit ihren Kräften am Ende. Und als ehemalige Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement würde ich mir mehr Wertschätzung für die vielen Tausenden Engagierten wünschen. Deutschland bräche in vielen Bereichen zusammen ohne Menschen, die hier mit anpacken, wenn es drauf ankommt.“
Wie bewerten Sie die Kritik des CDU-Politikers Jens Spahn und anderen an der – ich zitiere – „völlig ungesteuerten Asyl-Migration“?
„Mir macht Sorge, dass sich der Diskurs immer weiter nach rechts verschiebt. Anstatt das Thema Migration positiv zu besetzen, es auch als Chance zu begreifen, befinden wir uns im Dauerwettbewerb mit der AfD um die größten Verschärfungen. Migration wird bleiben und noch wachsen, solange es Krieg, Armut, Hunger und Unterdrückung in der Welt gibt.
Schon heute hat in manchen Städten dieses Landes jedes zweite Kind einen Migrationshintergrund, Deutschstämmige werden in einigen Orten bald der Minderheit angehören. Wir können angesichts dieser Zahlen entweder in Angst und Hass erstarren oder es als Chance begreifen. Unsere Lebenschancen können wir nur miteinander, niemals gegen- oder ohne einander erfüllen.“
Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen? Sie sind in Deutschland geboren, gleichwohl sieht man Ihnen an, dass Sie Wurzeln in einem anderen Kulturkreis haben. Haben Sie auch, wie viele andere in der gleichen Situation, Erfahrungen gemacht, dass sie beispielsweise häufiger kontrolliert oder benachteiligt werden als andere Menschen? Wurden und werden Sie Opfer von racial profiling? Was geht in Ihnen in solchen Situationen vor?
„Für mich vergeht kein Tag ohne Rassismus. In meinem Buch „LAUT“ spreche darüber, was es mit mir macht und was wir alle dagegen zu können. Als Kind von Geflüchteten, das die ersten 15 Jahre seines Lebens staatenlos war, habe ich auch Erfahrungen mit institutionellem Rassismus gemacht. Auch mit racial profiling.
Es ist wichtig, dass wir nicht die gesamte Polizei unter Generalverdacht stellen. Um die Polizei zu schützen, täten wir aber gut daran, über Missstände offen zu sprechen. Racial profiling ist dabei so ein Missstand, den wir nicht hinnehmen dürfen. Es ist gut, dass die Ampel-Koalition das Thema und die Opfer ernst nimmt und Racial profiling entgegenwirken möchte. Dafür soll das Bundespolizeigesetz verändert werden. Wer sich von Polizei ohne jeden Grund kontrolliert fühlt, kann künftig eine ,Kontrollquittung‘ verlangen. Diese kann sich jede Bürgerin und jeder Bürger auf Wunsch ausstellen lassen. Dies ist ein wichtiger Schritt für alle Betroffenen von racial profiling.“
Sie haben als bekennende Muslima, die in den vergangenen Jahren hohe Ämter sowohl im Berliner Senat als auch im Auswärtigen Amt bekleidet haben, immer wieder für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Wie sehr belastet Sie es, dass bei Ihrer Arbeit immer wieder Ihre Herkunft und Ihre Religion in den Vordergrund gerückt werden?
„Früher hat mich das sehr belastet. Ich wollte nicht auf meinen Hintergrund reduziert werden, weshalb ich mich in den ersten Jahren meines politischen Werdegangs auf das Thema internationale Beziehungen fokussiert habe und nichts mit Integrationspolitik zu tun haben wollte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich für andere immer die Migrantin sein würde.
Heute gehe viel selbstbewusster mit meiner Herkunft um, spreche offen über meine muslimische Identität, meine Biographie, auch weil ich dabei helfen möchte, dass Vorurteile überwunden und Migrantinnen und Migranten in diesem Land sichtbarer werden und es normaler wird, uns in der Öffentlichkeit zu sehen.“
Unsere Serie versucht, gerade Menschen, die sich nicht mehr trauen, zu einer bestimmten Frage ihre Meinung zu sagen, weil sie Angst haben, etwa mit einem shitstorm in den Sozialen Medien abgestraft und in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden. Sie ziehen sich zurück und schweigen. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft, für das Zusammenleben? Welche Folgen hat das für den demokratischen Diskurs bei uns?
„Diese Entwicklung ist höchst demokratiegefärdend. Immer wieder höre ich von Menschen, dass sie sich zu bestimmten Themen nicht äußern aus Angst, Zielscheibe von Hass und Hetze im Netz zu werden.
Der Mord an Walter Lübcke hat uns vor Augen geführt, wohin der Hass führen kann. Viele Kommunalpolitikerinnen und -politiker haben sich deshalb zurückgezogen. Hierzu gibt es erschreckende Zahlen. Umso wichtiger ist es, Opfer von Hass und Hetze nicht im Stich zu lassen, Solidarität zu zeigen.
Hass ist keine Meinung. Punkt. Auf der anderen Seite täten wir alle gut daran, eigenes Verhalten in den sozialen Medien kritisch zu reflektieren. Nicht immer zuspitzen, andere Meinungen auch mal stehen lassen. Immer ist diese Zerstörungswut da. Da ist nicht gut. Das ist Gift für das gesellschaftliche Klima.“
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