Was sagt die Kriminalstatistik, was verschweigt sie? Eine Analyse des Kriminologen Christian Walburg

Was sagt die Kriminalstatistik, was verschweigt sie?: Eine Analyse des Kriminologen Christian Walburg
Lesezeit

13 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen sind Ausländer. Ihr Anteil an den Verdächtigen einer Straftat aber beträgt 37,4 Prozent. Selbst ohne Delikte, die Deutsche gar nicht begehen können wie Verstöße gegen Aufenthaltspflichten, liegt der Ausländeranteil bei 31,9 Prozent. Sind Ausländer krimineller als Deutsche?

Dr. Christian Walburg ist Kriminologe an der Uni Münster. Seit Jahren beschäftigt ihn diese Frage. Seine Antwort: „Jein“. Die Dinge sind kompliziert.

Zunächst stellt er klar, von wem die Statistik spricht. Es geht um Menschen, die keinen deutschen Pass besitzen. Die Statistik nennt sie „Nichtdeutsche“, gemeint sind „Ausländer“ und „Staatenlose“.

In zehn Punkten die Kriminalstatistik eingeordnet

Zu den Zahlen müsse man nüchtern feststellen: „Ja, es stimmt“, sagt Walburg: „Ausländer fallen etwas häufiger als Tatverdächtige auf als Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Das ist so.“ Diese Tatsache nutzten Rechtsextremisten für ausländerfeindliche Hetze, und das sei inakzeptabel. Grundsätzlich gelte nämlich ebenso: „Auch unter den ausländischen Einwohnern wird nur ein ganz kleiner Teil straffällig“.

Pro Jahr würden rund zwei Prozent der Deutschen als Tatverdächtige beschuldigt. Bei Ausländern seien es vier Prozent. „Man kann das jetzt sehr groß aufplustern: ,Das sind ja doppelt so viele‘. Ja, es sind doppelt so viele, aber diese Pauschalisierung ist völlig unsachlich“, sagt Walburg und erklärt in zehn Punkten, warum die Zahlen erklärungsbedürftig sind.

1. 96 Prozent aller Ausländer werden nicht straffällig

„96 Prozent der Nichtdeutschen und 98 Prozent der Deutschen werden nicht straffällig. Das relativiert den Unterschied schon deutlich. Wer das nicht dazusagt, will Ressentiments schüren“, sagt Walburg. Es sei einfach Fakt: Die allermeisten Nichtdeutschen hätten genauso wenig mit Straftaten zu tun wie die allermeisten Deutschen.

„Nach allen kriminologischen Theorien wäre es schon erwartungswidrig, wenn der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen nicht ein wenig höher wäre“, sagt Walburg. „Um es auf den Punkt zu bringen: Der durchschnittliche ausländische Einwohner ist statistisch etwas seltener in stabilen Mittelschicht-Verhältnissen mit stabilen sozialen Bindungen aufgewachsen als die Deutschen. Das wirkt sich dann auf die Kriminalitätsrisiken aus.“

2. Nicht alle ausländischen Tatverdächtigen leben in Deutschland

Ja, es gebe Straftaten, bei denen der Ausländeranteil besonders hoch sei, sagt Walburg.

Da müsse man aber genau hinschauen. Beispiel Kfz-Diebstahl. Hier liege der Ausländeranteil immer schon bei 40 bis 50 Prozent. Die stünden zwar als ausländische Tatverdächtige in der Statistik, aber: „Das sind zu einem größeren Teil Menschen, die gar nicht in Deutschland leben. Hier haben wir es mit grenzüberschreitender Kriminalität zu tun. Autos werden zum Teil durch Banden von West- nach Osteuropa verschoben“, sagt Walburg und nennt als weiteres Beispiel Wohnungseinbrüche.

„Wir leben in einem Europa der offenen Grenzen mit einem erheblichen Wohlstandsgefälle. Da gibt es international organisierte Einbruchsbanden.“

3. Das höhere Anzeigerisiko

Auch das höhere Anzeigerisiko für Ausländer werde in der Forschung diskutiert, sagt Walburg. Heißt: Ein Ausländer läuft eher Gefahr, angezeigt zu werden als ein Deutscher.

Ein höheres Kontrollrisiko sei ebenfalls kaum zu leugnen: „Beispiel Drogen. Der Drogenkonsum, der sich in den Häusern der Mittel- und Oberschicht abspielt, wird weniger stark kontrolliert als das Drogenverhalten der Unterschicht, das sich häufiger an öffentlichen Plätzen abspielt.“

4. Der hohe Anteil junger Männer

Der hohe Anteil junger Männer unter den Flüchtlingen. Gerade bei Menschen zwischen 15 und 25 spiele Gewalt eine Rolle, sagt Walburg. Das sei in allen Ländern zu allen Zeiten der Fall. „Wenn also unter Flüchtlingen mehr junge Männer und weniger Frauen im Seniorenalter zu finden sind als in der sonstigen Bevölkerung, sind schon deshalb etwas höhere Kriminalitätsraten zu erwarten.“

5. Der „Sozialisationsfaktor“

Hinzu komme ein Sozialisationsfaktor. „Junge Menschen aus migrantischen Familien erfahren in der Familie etwas häufiger häusliche Gewalt als Deutsche. Man lernt in der Familie Gewalt als Kommunikationsmuster kennen.“ Dadurch sei das Risiko erhöht, später selbst zuzuschlagen.

6. Der Schichteffekt

Der Schichteffekt. „Wie gut können junge Menschen durch ihre Eltern unterstützt werden, wenn sie Probleme haben?“, fragt Walburg. Das betreffe Eltern, die neu im Land sind mit wenig Ressourcen, Kontakten und Netzwerken.

„Es geht um Kinder, die wenig andere Freizeitmöglichkeiten haben, als auf der Straße abzuhängen. Wo die Eltern sie nicht zum Geigenunterricht, zum Sport oder zur Nachhilfe fahren.“

7. Wer kommt aus den Herkunftsgesellschaften?

Wer aus den Herkunftsgesellschaften gekommen sei, sei ebenfalls wichtig. In den letzten Jahren seien junge Migranten aus Nordafrika gekommen.

„Das war nicht unbedingt der Durchschnitt der dortigen Gesellschaften. Es waren eher Menschen, die in ihrem Herkunftsland aus schwierigen Verhältnissen kamen und teils schon mit Kriminalität zu tun hatten. Wenn sie dann auch in Europa schlechte Perspektiven auf einen legalen Aufenthalt und einen Job haben, erklärt das, warum einige auch hier Schwierigkeiten haben, Fuß zu fassen.“

8. Bestimmte Risiken bleiben, aber...

Bei Zuwanderern werde man mit bestimmten Risiken rechnen müssen. Darum müsse man sich kümmern.

Aber: „Es wird nicht dazu kommen, dass unser Land in Kriminalität versinkt. Es ist Quatsch, dass Deutschland in den vergangenen 50 Jahren durch die Zuwanderung immer unsicherer geworden wäre. Wir leben in einem Land, in dem die Sicherheitslage heute insgesamt günstiger ist als vor 30, 40 Jahren, zum Beispiel bei Raubtaten, Einbrüchen oder Tötungsdelikten. Das Bild, das Rechtsextremisten zeichnen, stimmt einfach nicht“, sagt Walburg.

9. Die Stellschrauben, bei denen man ansetzen müsste

Um das Abrutschen von Jugendlichen zu vermeiden, sei eines zentral: „Gerade, wo Eltern ihre Kinder nicht so gut fördern können, brauchen wir gute Kitas, gute Schulen. Gerade an Orten, wo viele migrantische Familien leben, brauchen wir die beste Ausstattung, die besten Lehrer, die besten Schulen.“

10. Härtere Strafen als Heilmittel?

Zur These, dass der Staat härter gegen Straftäter vorgehen müsse, äußert sich Walburg differenziert: „Zur Bewährung darf eine Strafe auch jetzt schon nur ausgesetzt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit da ist, dass das ausreicht, damit sich jemand künftig straffrei verhält. Wenn man diese Erwartung nicht hat, darf auch keine Bewährung ausgesprochen werden.“

Dazu sei immer eine Einzelfallprüfung nötig. Walburg: „Es darf nicht dazu führen, dass man generell sagt: Du kommst aus dem Nahen Osten, also kommt eine Bewährung für dich nicht infrage.“

Beim Jugendstrafrecht stehe zudem die Prävention im Vordergrund: Was braucht ein Jugendlicher an Reaktion und Unterstützung, damit er nicht wieder zum Täter wird? Es sei ein Irrtum, zu glauben, dass eine Gefängnisstrafe das besser leiste als andere Sanktionen: „Wenn man einen 17-Jährigen für ein, zwei Jahre in Haft steckt und der kommt dann wieder raus, ist dessen Prognose nicht besser, als wenn man ihn nicht ins Gefängnis gesteckt hätte. Eher im Gegenteil.“

Alle Artikel unserer Serie finden Sie ab sofort auf unserer Übersichtsseite.

Wir freuen uns über Reaktionen auf unsere Serie! Schreiben Sie uns unter sagen@lensingmedia.de

Der Streit um die freie Meinung: Wer bestimmt, was wir sagen? Warum schweigen so viele?

Meinungsfreiheit in Deutschland: Was der Staat zulässt, wo er an seine Grenzen gerät