Nico Holonics macht die Blechtrommel zum „Solo für zwei“
Ruhrfestspiele Recklinghausen
Fast 800 Seiten hat der bild- und sprachgewaltige Jahrhundertroman "Die Blechtrommel" von Günter Grass im Original. In seiner Frankfurter Bühnenadaption dampft Oliver Reese den Wälzer rigoros ein, auf Sparflamme kocht er deshalb keineswegs. Der Ruhrfestspiel-Abend im Kleinen Theater gerät zum furiosen "Solo für zwei": Nico Holonics und Oskar Matzerath.

Nico Holonics zeigte eine grandiose Leistung und wechselte ohne Mühe zwischen den Figuren.
110 Minuten lang zieht Holonics alle Register der Schauspielkunst. In einer fesselnden One-Man-Show wird der Romanheld aus dem Jahre 1959, dem David Bennent 20 Jahre später im Schlöndorff-Film ein unverwechselbares Gesicht gab, zu seiner Figur.
Oskar könnte Außenseiter unserer Tage sein
Der Zuschauer sieht die groteske Welt ausschließlich mit den Augen dieses seltsamen Gnoms, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen, der vom rebellischen Kleinkind zum irrsinnigen Besserwisser und perfiden Strategen mutiert, die fragile Kriegswelt trommelnd aus dem Takt bringt und sie erbarmungslos in Stücke singt.
Holonics' Oskar könnte auch ein Außenseiter unserer Tage sein: Eingangs trägt er die moderne Kapuzenjacke über der altmodischen kurzen Hose, ein scheinbar harmloses Bübchen mit artig gescheitelten Haar.
Ungeheuerliches sprudelt aus einem windigen Winzling
Dann nimmt er den Zuschauer mit zurück - Kapitel für Kapitel - und man ist sprachlos ob der Ungeheuerlichkeiten, die aus diesem windigen Winzling sprudeln: von der Befruchtung der Großmutter unter ihren vier Röcken, über die berühmte Pferdekopf-Aal-Ekel-Szene, die Erschießung Bronskis, die Bauchnabel-Brausepulver-Erotik, den Verrat des Vaters, bis zum Kriegsende, als Oskar wieder wächst.
Wie der Film beschränkt sich Reese, ab Herbst Chef beim Berliner Ensemble, auf die ersten beiden von drei Teilen.
Übergroßer Stuhl lässt Holonics schrumpfen
Daniel Wollenzin hat ein mit Erde befülltes Rechteck auf die Bühne gezimmert, auf der rechten Seite klafft ein Keller- oder Grabloch, das Tote verschluckt und Blechtrommeln ausspuckt, die gleich wieder in Grund und Boden gestampft werden. Ein übergroßer Stuhl lässt Holonics auf Oskars Größe schrumpfen.
Der Schauspieler stampft, hüpft und turnt über den kaschubischen Kartoffelacker, spürt dem vielschichtigen Giftzwerg plärrend und zitternd nach, wirbelt mit den Trommelstöcken durch die Luft, schneidet Grimassen, überzeichnet, schreit und flüstert.
Oskar dirigiert sogar Licht und Musik
Er ist ein begnadeter Verführer und Entertainer, der das Publikum mit funkelnden Augen bezirzt, zum Brause schlecken einlädt, die Welt nach Oskars Pfeife tanzen lässt und sogar Licht und Musik mit einem Fingerschnippen dirigiert.
Holonics spielt auch alle anderen Figuren mit fiebriger Energie: die Mutter, Maria, die so herrlich nach Vanille riecht, den jüdischen Spielwarenhändler, den kleinwüchsigen Zirkusdirektor Bebra.
Wechselspiel zwischen Charakteren gelingt mühelos
Mit verstellter Stimme und wechselnden Dialekten switcht er mühelos hin und her. Eine schauspielerische Meisterleistung, wie er das Panoptikum an menschlichen Absonderlichkeiten lebendig werden lässt.
Trommelwirbel, Heil-Rufe, Marsch- und Walzermusik aus dem Off laden die Szenerie zusätzlich atmosphärisch auf. Obwohl der Ton der Nachkriegszeit den Regisseur nur am Rande interessiert.
Das grausame Spiel geht wird noch lange weitergehen
Er fokussiert sich ganz auf Oskars Psychogramm. Als die riesige Blechtrommel-Wand erscheint, ahnt man, dass Oskars grausames Spiel noch schrecklich lange weitergehen wird.
Dieser egozentrische Sonderling, der die Welt als Desaster erlebt, den die Welt links liegen lässt, und der sich dafür bitter rächt, könnte auch im Heute implodieren.
Grandioser Darsteller ist sichtlich erschöpft
Am Ende reißt es das Publikum geschlossen von den Stühlen. Minutenlange Ovationen für einen grandiosen, sichtlich erschöpften Nico Holonics.