Ein Jahr nach dem Absturz: Die Trauer bleibt unerträglich

Germanwings-Katastrophe

Vor einem Jahr zerschellte der Germanwings-Airbus mit der Flugnummer 4U9525 in den französischen Alpen. Der Copilot hatte das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht - 150 Menschen an Bord starben. Darunter auch 16 Schülerinnen und Schüler aus Haltern und zwei ihrer Lehrerinnen. Zum 1. Todestag ihrer Tochter spricht Annette Bleß über ihren Umgang mit der Trauer und eine Hoffnung, die ihr Kraft gibt.

Haltern/Le Vernet

24.03.2016, 05:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Am nächsten Tag wäre Elena Bleß 16 geworden. Mit ihren Geburtstagsgästen hätte sie über den Schüleraustausch in Spanien gesprochen. Wieder daheim, hätte sie ihr Kaninchen im Garten begrüßt. Sie wäre nach oben gegangen in ihr Zimmer - über die Treppe mit den Stufen in den Farben des Regenbogens. Vielleicht hätte sie dabei zwei Stufen auf einmal genommen, übermüdet, euphorisch - so wie viele Jugendliche nach Klassenfahrten.

Wäre sie nicht gestorben am 24. März des vergangenen Jahres. So wie 149 andere Menschen beim Absturz des Germanwings-Fluges 4U9525 in den französischen Alpen. Copilot Andreas Lubitz hatte den Airbus auf Todeskurs gebracht. Er durfte trotz langer Krankengeschichte fliegen.

Eine Treppe mit bunten Regenbogenstufen ist jetzt auch in Elenas Grabstein eingearbeitet, auf dem Friedhof von Haltern am See.

Porträtfoto zur Erinnerung

Im Wohnzimmer von Elenas Familie steht in einem weißen Rahmen ein Porträtfoto des dunkelhaarigen Mädchens auf dem Boden. Davor brennt eine weiße Kerze. „Das Bild stand auch bei der Beerdigung in der Kirche“, sagt ihre Mutter Annette Bleß. „Es ist im Badeort Sitges gemacht worden - wenige Tage vor ihrem Tod. Wir haben es von ihr über WhatsApp bekommen.“ Elena lacht fröhlich in die Handykamera.

Annette Bleß ist 52 Jahre alt, Lehrerin für Französisch und Latein in der Nachbarstadt Marl. Eine freundliche Frau. Nie verliert sie im Gespräch die Fassung. Sie spricht ernst, ohne Bitterkeit.

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Sie und ihr Mann haben einen Monat nach der Katastrophe eine Stiftung gegründet. Sie trägt den Namen der Tochter. Die Stiftung unterstützt Schulen bei Austausch-Programmen. Schüler bekommen bei Berufspraktika im Ausland einen Zuschuss. Elena war damals mit 15 anderen Mädchen und Jungen aus Haltern auf dem Rückflug aus Barcelona gewesen, begleitet von 2 Lehrerinnen.

„Wir fanden es vernünftig, dass die Lufthansa zahlt, aber wir wollten es nicht für uns als persönlichen Vorteil haben. Wir wollten etwas tun, um an Elena zu erinnern. Wir wollten auch gerne etwas Positives zur Fortführung von Austauschprogrammen machen nach diesem Schrecklichen.“

Leben an der Unglücksstelle

Der Schrecken der Katastrophe ist auch tausend Kilometer von Haltern entfernt immer noch spürbar. Im Alpendorf Le Vernet, in der Nähe des Unglückshangs. „Wir hinken noch ein bisschen durch das Leben, wir sind angeschlagen“, sagt François Balique. Er ist seit 39 Jahren dort Bürgermeister. „Es ist nicht immer einfach, damit umzugehen, auch für die jungen Leute im Dorf.“

Fremde werden im Dorf sofort angesprochen. Die 150 Toten der Germanwings-Katastrophe kamen aus vielen Ländern - die meisten aus Deutschland (72) und Spanien (51). Ein alter Herr hält an und steigt aus seinem Wagen. „Ich habe Ihr deutsches Autokennzeichen gesehen. Suchen Sie die Leute von der Lufthansa? Die Gedenkstätte?“, fragt der 76-jährige Jean-Marcel. „Wir achten jetzt mehr auf Fremde, die hierherkommen. Wir sind dem Absturzort am nächsten, an dem die Menschen ihre Angehörigen verloren haben.“

Ein Stehle mit der Aufschrift "In Erinnerung an die Opfer des Flugzeugunglücks"  steht bei Le Vernet. Foto: dpa

Die „Leute von der Lufthansa“, die Jean-Marcel meint, sitzen gleich neben einer kleinen Gedenkstätte für den Absturz. Seit einem Jahr betreuen die Mitarbeiter der Fluggesellschaft Angehörige, die hierher kommen. Darüber sprechen dürfen sie nicht. Sowohl Germanwings als auch der Mutterkonzern Lufthansa sind vorsichtig. In den USA droht ein möglicherweise kostspieliger Prozess um die Verantwortung für das Drama. Da kann jedes Wort wichtig werden.

Gedenkstätte mit Grabstein

Die Gedenkstätte in Le Vernet liegt am Rande des Dorfes: ein Friedhofsgrabstein mit Inschrift und einer grünen Hecke. „Es war ein Provisorium. Aber die Stelle hat ihre Dynamik entwickelt, das ist jetzt historisch. Das wollen wir jetzt nicht mehr ändern“, sagt Bürgermeister Balique. Von hier aus ist die Unfallstelle am Col de Mariaud hinter der nächsten Bergkuppe nur zu erahnen.

Wenige Meter weiter ist ein Raum in einer Herberge zum Gedenkzimmer für die Angehörigen geworden. Vor den Wänden stehen dicht bepackte Tische: Bilder der Opfer, Kerzen, Briefe von Geschwistern, Erinnerungen der Mitschüler, Kinderzeichnungen, Kuscheltiere, Engel, Herzen. Dokumente der Trauer, Leere, Hilflosigkeit.

Auch im Joseph-König-Gymnasium in Haltern mit etwa 1250 Schülern, wo Elena und ihre Reisegruppe herkamen, gibt es einen ähnlichen Raum. „Ein kleiner Kursraum, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, sich dort in Pausen oder Freistunden in einem vertrauten Rahmen hinzusetzen. Dort sind alle Dinge, die uns zugeschickt wurden“, sagt Schulleiter Ulrich Wessel. Der Raum ist voll - wie in Le Vernet.

Mehr als 50 Kondolenzbücher sind auf der Fensterbank aneinandergereiht. Daneben stehen mehrere Kisten mit Beileidsschreiben. Eine Schule in den USA hat ein Transparent gestaltet: Hunderte haben unterschrieben. „Wir vermissen Euch“, steht auf einem anderen Plakat. Fotos dürfen nicht gemacht werden. Darum haben die Eltern den Schulleiter gebeten.

Katastrophe veränderte das Leben

Wessel ist hoch gewachsen, schlank, 57 Jahre alt. Im vergangenen Jahr war er oft in den Medien: unaufdringlich, menschlich. Immer versuchte er, das Unfassbare mit Worten zu begleiten. Die Katastrophe änderte sein Leben.

Wessel sagt fast immer Katastrophe, nicht bloß Unglück oder Absturz. Dem Interview schickt er vorweg: „Es gibt 149 Opfer und nicht nur die 18 in Haltern.“ Wichtig für den Schulleiter ist: „Haltern hat zwar der Katastrophe das Gesicht gegeben und besonders diese Schule. Aber auch in Haltern ist das eigentliche Leid hinter den 18 Haustüren und nicht hinter der Schultür.

Den Eltern gehe es „sehr unterschiedlich“, sagt Annette Bleß. „Es war so, dass viele lange Zeit gar nicht arbeiten konnten. Es ist jedenfalls nicht so, dass die Trauer jetzt schon erträglicher geworden wäre. Es ist nach wie vor sehr schwer, und gerade jetzt zum Jahrestag hin ist es besonders belastend.“

Was Elenas Eltern Halt gibt, ist die christliche Hoffnung. „Unser größter Wunsch ist sicherlich, dass wir sie wiedersehen“, sagt Elenas Mutter. „Das können Sie auch gerne schreiben, weil ich denke, dass es wichtig ist, dass man auch so etwas vermittelt, dass nämlich der Glaube auch eine Quelle der Kraft ist.“

Besuch der Angehörigen zum Jahrestag

Trauernden Mut und einen Ort für Gefühle geben, möchte auch das französische 195-Einwohner-Dorf Prads-Haute-Bléone. Der Berghang, an dem die Maschine in viele kleine Teile zerschellte, liegt zwar näher an Le Vernet. Doch offiziell gehört er zu Prads. „149. Es sind 149 Stäbe“, sagt Bürgermeister Bernard Bartolini. Der Copilot ist nicht aufgenommen in die Gedenkstätte. „Wir haben das im Kommunalrat diskutiert und so beschlossen.“

Zwei Mal waren auch Elenas Eltern in der Region. Zum Jahrestag organisiert die Germanwings-Muttergesellschaft Lufthansa für Angehörige den Besuch. Es gibt eine Gedenkfeier. „Wir werden jetzt natürlich wieder hinfahren - und dann im Sommer noch einmal in Ruhe. Jetzt zum Jahrestag wird es einen ziemlichen Andrang geben. Man rechnet mit 500 bis 1000 Menschen vor Ort. Aber nicht hinfahren kommt auch nicht in Frage“, sagt die Mutter.

Noch am Todestag selbst will das Ehepaar wieder zurückfliegen, weil sie zum Geburtstag ihrer Tochter in Haltern sein wollen. Am 25. März wäre Elena 17 Jahre alt geworden. „Wir wollen dann auch morgens in den Karfreitagsgottesdienst gehen.“

Auch die Schule hat einen öffentlichen Gedenkort: Vor dem Gebäude steht eine große Stahlplatte an einer Seite des Pausenhofs. Aus dem Stahl sind die Namen der Opfer ausgeschnitten. Einige Bänke stehen davor. „Da sitzen in den Pausen Schüler. Und das ist das, was ich immer gut finde: Es herrscht hier nicht so ein Zwang zum Schweigen, zur Andacht. Es wird hier wieder gelacht, gescherzt“, sagt Schulleiter Wessel.

Trotzdem: Das Unglück hat Haltern verändert, sagt Bürgermeister Bodo Klimpel (CDU). „Es gehört jetzt auch zu unserer Stadtgeschichte. Auch nach einem Jahr ist die Trauer nach wie vor vorhanden.“ Auf dem Friedhof hat auch die Stadt eine Gedenkstätte gebaut. Eine Rasenfläche mit einem Gehweg in U-Form, 18 Zierapfelbäumen und einem großen Gedenkstein mit den Namen - ein Klassenzmmer. Wer mit dem Auto ankommt, sieht an einigen gelben Ortsschildern immer noch schwarze Bänder flattern. Auf einen Stromkasten in der Nähe der Schule ist groß eine schwarze Trauerschleife gemalt. Beides wird noch lange bleiben.

Ein Trauerflor weht am Halterner Stadtschild. Foto: dpa

Von der dpa