Dennis Lehane anders und doch vertraut
Liebesgeschichte und Psychokrimi in einem: Ist Rachel Childs in eine furchtbare Falle getappt? Ein Thriller-Meister erzählt erstmals aus der Perspektive einer Frau.

Dennis Lehane 2014 in Toronto. Foto: Hubert Boesl
Manche Bücher sind wie Kreuzberger Nächte. Erst fangen sie ganz langsam an. Aber dann, aber dann! Bei Dennis Lehane war das meist anders. Von null auf hundert in dreimal Umblättern, das kann der Bostoner Thriller-Meister aus dem Effeff.
Doch in seinem 13. Roman geht Lehane die Sache mit der Spannung ruhiger an. Liegt es daran, dass er zum ersten Mal versucht hat, aus der Perspektive einer Frau zu schreiben? Einer ebenso klugen wie mutigen Frau mit einem facettenreichen Wesen zudem, die sich immer wieder gegen Selbstzweifel und Panikattacken behaupten muss?
Über gut die Hälfte seiner 528 Seiten wirkt „Der Abgrund in dir“ wie eine Mischung aus Familiendrama, Charakterstudie und Liebesgeschichte. Dennoch werden sich Leser von Lehane-Bestsellern wie „Mystic River“, „Shutter Island“, „In der Nacht“ oder „Am Ende einer Welt“ - und auch seiner Kenzie-Gennaro-Detektivserie - sicher sein, dass auch in diesem Buch ein handfester Thriller steckt. Wohl auch, um daran keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen, beginnt der Roman so: „An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsunddreißig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann.“
Rachel Childs wächst als Tochter der Akademikerin und erfolgreichen Ratgeber-Autorin Elizabeth Childs auf. Das Verhältnis ist angespannt, vor allem weil die Mutter die Identität von Rachels Vater fast schon auf sadistische Art vor ihr geheim hält. Als sie es endlich erfährt, bringt das nicht das erhoffte seelische Gleichgewicht.
Voller Ehrgeiz stürzt sich die attraktive Rachel in ihren Job als Moderatorin und Reporterin eines Fernsehsenders. Eine Starkarriere winkt, ein Promi-Leben mit dem ebenfalls schicken Fernsehmann Sebastian an der Seite. Doch als sie bei einem Einsatz nach einem Erdbeben auf Haiti eine Welt voller Not und Brutalität nicht nur erlebt, sondern auch dem Publikum vermitteln will, winken die TV-Bosse ab. Die Zuschauer wollten Hoffnung, nicht Verzweiflung.
Rachel bricht vor laufender Kamera zusammen. Karriereende. Der schöne Sebastian auf und davon. Rachels Angststörungen kehren massiv zurück. Da begegnet sie zum zweiten Mal - zufällig wie es scheint - Brian Delacroix. Dieser überaus nette Typ, der sich einst als Privatdetektiv versucht und Rachel bei der Suche nach ihrem leiblichen Vater geholfen hatte. Er hat ihre Karriere verfolgt, auch ihren „Untergang“, gelegentlich eine freundliche E-Mail geschickt. Und nun ist er da. Ein rettender Engel, ein Mann, auf den Rachel sich verlassen kann. Liebe, Harmonie, Hochzeit.
Aber, Moment mal. Was ist mit dem „Abgrund“? Und was mit dem ersten Satz? „An einem Dienstag im Mai ... erschoss Rachel ihren Mann.“ Erst fangen sie ganz langsam an, die Zweifel, die anscheinend unerklärlichen Beobachtungen. Sollte Brian, inzwischen angeblich ein erfolgreicher Unternehmer, nicht auf Geschäftsreise in London sein? Wieso sieht sie ihn dann plötzlich vor seinem Bürogebäude in Boston? Ist das Handyvideo aus London echt oder gefälscht? Kam sie mit ihren Phobien gerade recht als Schachfigur in einem teuflischen Plan um einen Millionenbetrug? Soll sie am Ende gar geopfert werden?
Ist die Ehe mit ihm nur ein Täuschungsmanöver? Aber Rachel ist sich doch sicher, Brian zu lieben - und von ihm geliebt zu werden. „Sie kannte schreckliche Menschen, die eine gute Ehe führten, verbunden durch ihre Grausamkeit“, schreibt Lehane über seine Heldin. „Und sie kannte wunderbare Menschen, die vor Gott und all ihren Freunden einander ihre unsterbliche Liebe versichert hatten, nur um diese Liebe ein paar Jahre später auf den Müll zu werfen.“
Die Methode ist nicht neu. Misstrauen frisst Seele auf. Stück für Stück, und die Spannung wächst. Alfred Hitchcock lässt grüßen. Lehane spielt auf dieser Klaviatur, als habe er sie geschaffen. Längst rast der Plot. Der zweite Teil dieses Buches, war in der „New York Times“ zu lesen, sei „völlig anders als der erste“. Vielleicht liege das auch daran, dass Lehane die Rechte an seiner Story längst an Hollywood verkauft hatte und sie deshalb Tempo entfalten musste. „Plötzlich beginnt er, Nonstop-Spannung zu liefern, die nur noch locker in der anfänglichen Geschichte Rachels verwurzelt ist.“
Und vielleicht hat es ja auch etwas mit Hollywood zu tun - schließlich wurden bereits mehrere Romanverfilmungen Lehanes zu Kinokassenschlagern -, dass es ein Happy End gibt. Jedenfalls stellt sich die Erschießung des Ehegatten am Ende doch recht anders dar, als sich anfangs vermuten ließ. Eigentlich sei dies ein Buch über die Ehe im Gewand eines Krimis, fand die Frauenzeitschrift „Elle“. Lehane stimmte zu, wohl augenzwinkernd: „Daher ja der Titel - "Der Abgrund in dir" -, wenn man sich in eine Beziehung stürzt, da steckt der Fall schon drin.“
Dennis Lehane: Der Abgrund in Dir. Diogenes Verlag, Zürich, 528 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-2-257-07039-2