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Lüner Ehepaar: Ukrainische Familie „will keinem zur Last fallen“
Flüchtlinge aufgenommen
Drei neue Mitbewohner hat das Lüner Ehepaar Aretz seit ein paar Tagen. Eine Familie aus der Ukraine lebt bei dem Paar. Hilfe anzunehmen, ist für die Geflüchteten noch ungewohnt.
Über 2000 Kilometer sind Valentina (53), Anna (28) und der achtjährige Bogdan von ihrer Heimat Charkiw entfernt. Im Haus, in dem Simone und Jürgen Aretz zur Miete wohnen, haben Mutter, Tochter und Enkel, die in einem Vorort der zweitgrößten ukrainischen Stadt leben, eine sichere Zuflucht gefunden. Seit Dienstagabend (22.3.) ist die ukrainische Familie bei dem Ehepaar und lebt sich allmählich ein.
„Man merkt, dass vor allem für Anna vieles peinlich und ungewohnt ist, schließlich sind wir ja Fremde für sie“, so Simone Aretz. Als die 53-Jährige mit ihren Gästen einkaufen war, wollten diese unbedingt bezahlen. „Wir hatten auch Essen vorbereitet und trotzdem brachten sie für alle halbe Hähnchen von einem Spaziergang mit. Ich glaube, dass sie mit der Hilfsbereitschaft noch nicht klarkommen“, so die Lünerin. Dafür hat das Ehepaar volles Verständnis: „Wenn wir uns vorstellen, wie es uns umgekehrt ginge, wenn wir aus unserer Heimat fliehen müssten.“
Den drei ukrainischen Flüchtlingen haben die Lüner das Gästezimmer zur Verfügung gestellt. Jürgen Aretz: „Wir haben ihnen aber sofort gesagt, dass sie auch alle anderen Räume im Haus nutzen können.“ Trotzdem ziehen sie sich meistens in ihr Zimmer zurück, es fällt ihnen noch schwer, die Gastfreundschaft anzunehmen.

Hilfe anzunehmen, ist für die Familie aus der Ukraine noch ungewohnt, die eine lange und gefährliche Flucht aus ihrer Heimat hinter sich hat. © Goldstein
Zug wurde beschossen
Simone Aretz: „Bogdan wollte unbedingt nach dem Essen das Geschirr spülen, dabei haben wir ja eine Spülmaschine. Aber er hat dann doch etwas gespült und sich gefreut.“ Am Dienstagabend holte das Ehepaar die drei Ukrainer in Dortmund am Hauptbahnhof ab. Da hatten die Drei schon eine lange Reise hinter sich. Zuerst von Charkiw mit dem Bus in die Nähe von Lwiw, doch dort wurde der Zug beschossen. Sie wurden von polnischen Bussen in das Nachbarland gebracht, dann ging es nach Berlin, wo sie zwei Nächte verbrachten. Danach kamen sie in Zeitz (Sachsen-Anhalt) in der Nähe von Leipzig an, wo sie auch wenige Nächte blieben, bis der Kontakt zu Simone und Jürgen Aretz zustande kam.
Über soziale Medien - denn dort fand Jürgen Aretz eine Gruppe, die Quartiere für ukrainische Flüchtlinge vermittelte. „Als wir die ersten Berichte über den Krieg in der Ukraine gesehen haben, wussten wir, dass wir helfen wollten“, sagt Jürgen Aretz. Der 56-Jährige war Sanitäter bei der Bundeswehr und überlegte sogar, in die Ukraine zu fahren und dort zu helfen. Doch angesichts der russischen Angriffe erschien das Risiko dann doch zu groß.
Dann war sich das Ehepaar schnell einig, das Gästezimmer, das „zu 95 Prozent im Jahr leer steht“ ukrainischen Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. „Uns tut es nicht weh, wenn wir Flüchtlinge aufnehmen, und wir wollen helfen, von Herzen.“ Simone Aretz findet es „besser, konkret Menschen zu helfen als Geld zu spenden, bei dem man nicht weiß, ob es wirklich bei den Flüchtlingen ankommt.“
Man sei die Sache etwas blauäugig angegangen, meint Aretz im Rückblick. Zunächst ließ sich das Paar auf einer bundesweiten Plattform registrieren, hörte aber drei Wochen lang nichts von dort. „Dann haben wir uns bei der Koordinierungsstelle der Stadt gemeldet, aber auch von da kam nichts“. Jürgen Aretz fand dann die Gruppe auf Facebook, die Gastgeber nach Postleitzahlen gegliedert anbietet. Es kamen drei Kontakte zustande, die aber im Sand verliefen, bis dann der Kontakt zu Valentina, ihrer Tochter und ihrem Enkel geknüpft wurde. Die drei fuhren mit dem Zug von Zeitz nach Leipzig und dann nach Dortmund.
Übersetzungs-App
Anna spricht etwas Englisch, aber die Verständigung funktioniert zurzeit weitgehend über eine Übersetzungs-App im Handy und „mit Händen und Füßen“. Jürgen Aretz kann auch ein paar Brocken Polnisch, das hilft etwas weiter. „Das Schwierigste sind die unterschiedlichen Schriftzeichen. Wenn Bogdan in die Schule geht und die nicht fußläufig von uns entfernt ist, müsste er mit dem Bus fahren, kann aber die Namen der Haltestellen nicht lesen.“ Das gleiche Problem gibt es auch, wenn die Familie mit Straßenbahn oder Zug nach Dortmund fahren will.
Am Freitag (25.3.) begleiteten Aretz und eine Dolmetscherin die Familie zur Stadt Lünen, um sie dort zu registrieren. Das war auch wichtig, weil Valentina kommende Woche zum Arzt muss, um sich Tabletten verschreiben zu lassen. Gegen Corona wollen sich die drei Ukrainer impfen lassen. „Man hat uns auch geraten, dass sie einen TBC-Test machen sollen. Leider ist Tuberkulose in der Ukraine nämlich noch nicht ausgerottet“, so Aretz.
Eigentlich hatte das Ehepaar gehofft, dass es beispielsweise von der Bundesregierung im Internet „so eine Art Kochrezept gibt, was man tun soll, wenn man Flüchtlinge aufnimmt. Aber das ist leider nicht der Fall.“
Fußball spielen und Alpakas besuchen
Der Entschluss, Menschen aus der Ukraine ein Zuhause auf Zeit zu bieten, fiel leichter, weil Jürgen Aretz vor allem im Home-Office arbeitet und so als Ansprechpartner für die drei Gäste da ist. „Sie möchten viel allein machen, nur leider hapert es noch mit der Sprache“, sagt Simone Aretz. Bogdan möchte gerne Fußball spielen, da lerne er sicher auch neue Freunde kennen. „Nächste Woche haben wir einen Termin mit Alpakas, darauf freut er sich schon.“ Langsam taut der Achtjährige auf. „Aber man merkt immer wieder, dass die drei uns auf keinen Fall zur Last fallen wollen. Ich denke, das hat sich in 14 Tagen eingespielt“, hofft die Lünerin, und dass die Familie spürt, dass die Hilfe von Herzen kommt.
Granaten schlugen am Ortsrand ein
Aus ihrer Heimat, dem Vorort von Charkiw, mussten die Drei fliehen, denn in der Nähe standen in einem Wald ukrainische Panzer, die von russischen Truppen beschossen wurden. Granaten schlugen auch am Ortsrand ein. Mutter und Tochter beschlossen, mit Bogdan zu fliehen. Denn die Angst, durch Granaten zu sterben, war groß.
Zum Glück gibt es Menschen wie Jürgen und Simone Aretz, die den vielen ukrainischen Flüchtlingen ein sicheres Zuhause bieten. „Man muss aber selbst aktiv werden und sich darum bemühen“, so das Fazit von Jürgen Aretz. „Es kommt keiner, der sagt, willst du nicht Flüchtlinge aufnehmen.“ In diesem Fall machten die sogenannten „sozialen Medien“ endlich ihrem Namen alle Ehre, weil tatsächlich einmal etwas Soziales dort passiert, meint der Lüner. „Ich habe in verschiedenen Gruppen Fragen gepostet und auch gute Tipps bekommen, auch was Schulen in Lünen angeht, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen. Es war sehr beeindruckend, wie viele positive Antworten man bekommt.“ Auch von einem Verlag, der Reiseführer herausbringt: „Sie bieten jetzt einen Deutschland-Reiseführer in ukrainischer Sprache für die Flüchtlinge zu einem symbolischen Preis von einem Cent an.“
Kampf für Freiheit und Demokratie
Aber es gab auch negative Erfahrungen. Das Paar hat aus Solidarität eine ukrainische Flagge aufs Auto geklebt. Simone Aretz wurde von einem Mann angesprochen, der aus Russland stammt und ihr russische Propaganda-Sprüche gegen die Ukraine an den Kopf warf. „Ich war den ganzen Tag geschockt und wütend.“ Daraufhin beschäftigte sich Jürgen Aretz mehr mit der jüngeren ukrainischen Geschichte, von der orangenen Revolution bis zur Annektierung der Krim: „Es sind stolze Menschen, die für die Freiheit und Demokratie ihres Landes kämpfen.“
Die Leidtragenden, so Simone Aretz, seien vor allem Frauen und Kinder. Jürgen Aretz: „Am Ende müssen wir einfach denjenigen helfen, die sich selbst nicht helfen können. Meine Großeltern sind mit meiner Mutter im Zweiten Weltkrieg nach Thüringen evakuiert worden. Sie waren dankbar, dass sie dort Menschen fanden, die sie aufgenommen haben. Jetzt können wir so vielleicht etwas zurück geben - an Menschen in Not.“
Beate Rottgardt, 1963 in Frankfurt am Main geboren, ist seit 1972 Lünerin. Nach dem Volontariat wurde sie 1987 Redakteurin in Lünen. Schule, Senioren, Kultur sind die Themen, die ihr am Herzen liegen. Genauso wie Begegnungen mit Menschen.
