Gertrud und Herbert Begett - die Bilder aus der Ukraine lassen Erinnerungen an die eigene Flucht wieder hochkommen. Das Bild hat die 87-Jährige gemalt, es zeigt eine Landschaft aus ihrer Heimat.

© Beate Rottgardt

Gertrud Begett (87): Bilder aus der Ukraine erinnern an eigene Flucht

rnTraurige Erinnerungen

Wenn Gertrud Begett die Bilder aus der Ukraine sieht, kommen ihr die Tränen. Aus Mitleid mit den Menschen dort und weil die Bilder sie an ihr eigenes Schicksal und das ihrer Familie erinnern.

Lünen

, 12.04.2022, 06:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Zwei Bilder liegen auf dem Wohnzimmertisch von Gertrud und Herbert Begett. Das eine zeigt Gertrud Begetts Mutter als junge Frau im Kreise ihrer Geschwister, das andere die Großeltern von Gertrud Begett, Katharina und Michael, mit den Enkelkindern. „Meine Großeltern haben in einem kleinen Ort in der Nähe von Odessa in der Ukraine gelebt. Dort ist meine Mutter 1902 geboren“, erzählt die 87-Jährige.

Gerne hätte sie die Heimat ihrer Mutter einmal besucht. Doch bis Odessa ist sie nicht gekommen. Und angesichts der Bilder aus der Ukraine wird eine Reise dorthin erst einmal wohl nur ein Traum bleiben. Wenn das Ehepaar die Bilder aus den zerstörten ukrainischen Städten sehen, müssen sie weinen. „Die Menschen tun mir so leid“, sagt Gertrud Begett.

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Sie kann sich gut in die Lage der Flüchtlinge versetzen, die versuchen, ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten. Gertrud Begett war zehn Jahre alt, als sie am Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat Ostpreußen verlassen musste. Ihr Mann, der in einem anderen Ort als sie wohnte, war 13, als er ebenfalls Richtung Westen aufbrach.

Jetzt kommen die Bilder wieder hoch. Und die Erinnerungen an die Erlebnisse, während des langen Weges von Ostpreußen in den Westen. „Wie sich die Bilder gleichen“, sagt Gertrud Begett und meint damit nicht nur die Parallelen zwischen ihrer Flucht und der aktuellen beschwerlichen Reise der Frauen und Kinder aus der Ukraine.

Mutter muss zwei Mal ihre Heimat verlassen

Schon drei Jahrzehnte bevor ihre Mutter mit den Kindern ihre Heimat im ostpreußischen Braunsberg (heute das polnische Braniewo) verlassen musste, hatte ihre Familie eine Flucht erlebt. „1912 war meine Mutter zehn Jahre alt und meine Großeltern befürchteten, dass es Krieg mit dem damaligen deutschen Kaiserreich geben würde.“ Deshalb entschlossen sich die Großeltern mit ihren Kindern aus der Ukraine nach Ostpreußen zu flüchten. Sie sollten Recht behalten: Zwei Jahre später brach der Erste Weltkrieg aus.

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„Sie mussten vor den Russen fliehen, viele Menschen aus ihrem Ort sind verschleppt und nach Sibirien gebracht worden. Geschwister meiner Großeltern sind in die USA ausgewandert, um diesem Schicksal zu entgehen,“ berichtet Gertrud Begett.

Die Großeltern von Gertrud Begett (M. und r.) stammen aus der Ukraine. 1912 flüchteten sie nach Ostpreußen - aus Angst vor einem drohenden Krieg.

Die Großeltern von Gertrud Begett (M. und r.) stammen aus der Ukraine. 1912 flüchteten sie nach Ostpreußen - aus Angst vor einem drohenden Krieg. © Repro: Beate Rottgardt

Mehr als 30 Jahre später seien dann die ersten Bewohner aus dem damaligen Braunsberg in Ostpreußen geflohen. Am 5. Februar 1945 machte sich auch Gertrud Begetts Mutter mit ihren Kindern auf den Weg Richtung Westen. Die Lünerin war damals zehn Jahre alt, so alt wie ihre Mutter bei deren ersten Flucht 1912. „Unsere Heimatstadt wurde bombardiert. Erst hat es geheißen, wir können wieder zurück, aber das stimmte nicht.“ Über das zugefrorene Haff ging es bis nach Danzig.

Schreckliche Bilder prägen sich von der Flucht ein

Auf dem Weg habe die Familie tote Soldaten und Zivilisten gesehen. Auch Vergewaltigungen gab es zuhauf: „Meine Mutter hatte Glück, sie entkam.“ Zwei Tage nachdem sie ihre Heimat verlassen hatten, wurde ihr kleiner Bruder (4) von einem Trecker überfahren. „Wir mussten ihn liegen lassen und wissen nicht, wo er begraben wurde.“ Auch die Bilder von Menschen, die von der Roten Armee an Bäumen aufgehängt wurden, haben sich in dem Gedächtnis von Gertrud Begett eingeprägt.

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Auf ihrem Weg nach Westen von 1945 bis 1946 erlebte die 87-Jährige auch, dass russische Soldaten hinter Danzig Familien trennten: „Die Großmütter durften mit ihren Enkeln weiter, die Mütter wurden nach Russland verschleppt, um dort zu arbeiten, nicht viele kamen wieder.“ Die Kinder und Frauen arbeiteten auf den Feldern, sammelten Ähren und Kartoffeln ein, das wenigste davon durften sie behalten, erzählt die 87-Jährige.

Ehemann verlässt über den Seeweg seine Heimat

Viele Lebensmittel und einen richtigen Schlafplatz gab es während der Flucht nicht. „Wasser haben wir morgens aus den Lokomotiven genommen, damit wir was zum Trinken hatten. Brot hat uns keiner gegeben.“ Im Oktober 1945 habe Gertrud Begett, ihre Geschwister und ihre Mutter mit sechs anderen Familien in einem kleinen Raum geschlafen. In der Mitte stand ein Ofen: „Eines Nachts wären wir fast von dem Rauch erstickt, zum Glück ist es noch gut gegangen.“

Herbert Begett hatte sich mit seiner Mutter auf einem kleinen Schiff auf den Weg in den Westen gemacht. „13 Tage waren wir im März und April 1945 auf der Ostsee nach Swinemünde unterwegs, haben auch gesehen, wie andere Schiffe untergegangen sind“, erzählt der 90-Jährige. Als sie endlich im Hafen ankamen, wurde dieser bombardiert und sie mussten Zuflucht in einem früheren Getreidespeicher suchen. „Wir hatten zwar immer Hunger, aber doch Glück, dass wir überlebt haben.“ Auch Gertrud Begetts Mutter hatte eigentlich Karten für ein Schiff, doch als die Familie von dem Untergang des ehemaligen Kreuzfahrtschiffes „Wilhelm Gustloff“ erfuhr, wollte sie doch lieber zu Fuß flüchten.

40 Reisen in die heutige polnische Heimat

Die Bilder der fliehenden Menschen und der zerstörten Gebäude aus der Ukraine lassen die Erinnerungen der eigenen Flucht nun wieder hochkommen - und den Wunsch, es möge wieder Frieden werden.

Gertrud Begetts Mutter (r.) mit ihren Geschwistern - sie hat zwei Mal eine Flucht miterlebt, als 10-Jährige aus der Ukraine und als Erwachsene aus Ostpreußen.

Gertrud Begetts Mutter (r.) mit ihren Geschwistern - sie hat zwei Mal eine Flucht miterlebt, als 10-Jährige aus der Ukraine und als Erwachsene aus Ostpreußen. © Repro: Beate Rottgardt

„Es ist gut, dass so viele Ukrainer mit ihren Kindern hierher kommen und dass sie Hilfe erhalten,“ erklärt die 87-Jährige. Helfen - das ist und war für sie wichtig, eben weil sie selbst erlebt hat, wie es ist, die Heimat verlassen zu müssen. „Wir haben auch beim Krieg auf dem Balkan geholfen und als die Spätaussiedler aus Russland und Polen kamen.“ Als Gertrud Begett selbst 1946 in Alstedde ankam, sei ihre Familie nicht mit offenen Armen empfangen worden: „Natürlich war hier im Westen durch die Bombardierungen auch vieles kaputt.“

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40 Mal sind Herbert und Gertrud Begett inzwischen in ihrer alten Heimat in Ostpreußen gewesen und unterstützen dort Menschen mit Sachspenden und Geld. 1976 reisten sie das erste Mal dorthin. Inzwischen werden sie oft von ihrer Tochter Manuela, die großes Interesse an den Wurzeln ihrer Familie zeigt, begleitet.

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