Dr. Christian Lüdke rät im Umgang mit Geflüchteten, ihnen trotz der dramatischen Lage in ihrer Heimat, Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln - alles andere wäre unseriös.

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Bekannter Psychologe: In Maßen informieren, um emotional zu überleben

rnUkraine-Krieg

Hunderttausende sind schon aus der Ukraine geflüchtet. Sie brauchen Unterstützung, auch seelischer Art. Genau wie wir, wenn die Bilder vom Krieg Ängste auslösen - sagt Psychologe Dr. Lüdke.

Lünen, Selm

, 04.03.2022, 09:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Die Bilder zerreißen auch einem erfahrenen Psychologen wie Dr. Christian Lüdke das Herz - Familien müssen sich an der Grenze trennen, die Väter gehen zurück an die Front in der Ukraine, Mütter und Kinder fliehen in eine ungewisse Zukunft.

Permanent mit Leid konfrontiert

„Im Unterschied zu anderen schrecklichen Erlebnissen wie Flugzeugabstürzen oder Naturkatastrophen, hat dieser Krieg momentan keinen Anfang und kein Ende. Das Leid hört nicht auf, die Menschen vor Ort und auch wir sind permanent damit konfrontiert“, sagt der Trauma-Experte und zweifache Vater.

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In der nächsten Zeit werden auch in unserer Region immer mehr Geflüchtete aus der Ukraine ankommen. Viele Menschen hier wollen helfen. Aber wie geht man mit den oft traumatisierten Ukrainerinnen und Ukrainern um? „Sie leben in permanenter Todesangst, da hilft eigentlich nur, ihnen Hoffnung und Zuversicht bei dem ganzen Grauen zu vermitteln, alles andere wäre unseriös“, rät Lüdke. Man solle ihnen vermitteln, dass sie in Sicherheit seien und sie auch fragen, worauf sie sich freuen, wenn der Krieg vorbei ist und sie zurück in ihr Land können.

Die Menschen einerseits emotional zu stabilisieren sei wichtig, aber auch zu informieren und das mit gesicherten, seriösen Informationen. „Im besten Falle können sie mit ihren Angehörigen in der Ukraine telefonieren, ansonsten seriöse Quellen als Information nutzen.“ Mental stark zu bleiben sei neben der rein körperlichen Versorgung unverzichtbar.

Ukrainische Flüchtlinge, die mit einem ukrainischen Personenzug auf dem Bahnhof in Olkusz, Südpolen, angekommen sind. Die Bilder aus der Ukraine und von den Flüchtlingen gehen vielen Menschen ans Herz.

Ukrainische Flüchtlinge, die mit einem ukrainischen Personenzug auf dem Bahnhof in Olkusz, Südpolen, angekommen sind. Die Bilder aus der Ukraine und von den Flüchtlingen gehen vielen Menschen ans Herz. © picture alliance/dpa/PAP

Die Menschen, die ihre Heimat wegen der russischen Angriffe verlassen müssen, wollen aktiv sein. „Das haben Erfahrungen aus anderen Krisenlagen gezeigt, untätig zu sein, ist das Schlimmste für die Betroffenen.“ Wenn es geht, sollte man sie einbinden, Netzwerke mit aufbauen lassen.

Bei den Kindern, die ihre Heimat verlassen mussten, gilt das Gleiche wie für die Kinder hier, die Ängste vor dem Krieg entwickeln. „Bei den Jüngsten sollte man gar nicht darüber reden. Ablenken, spielen lassen, das ist wichtig.“ Dabei sieht der Psychologe auch die Bilder aus den Metro-Bahnhöfen vor sich, in die die Menschen vor den Angriffen geflohen sind und in denen die Kinder spielen.

Den etwas älteren Kindern könne man die Situation an kindgerechten Beispielen erklärten - so wie Lüdke es vor kurzem bei einem neunjährigen Jungen getan hat: „Ich hab ihm gesagt, stell dir vor, da kommt jemand in dein Kinderzimmer und sagt, das alles, auch deine Spielsachen gehören jetzt mir. Kinder entwickeln da schnell Lösungsfantasien.“ So wie der Neunjährige, der meinte, dass ginge doch gar nicht, da müssten Mama und Papa ihm helfen. „Ich hab ihm gesagt, dass die vielen Länder, die jetzt die Ukraine unterstützen so was wie Mama und Papa sind, die helfen wollen.“

Familienvater kann nicht mehr schlafen

Nach einer Woche Krieg und nachdem nicht absehbar ist, wie lange das Ganze noch dauert und welche Folgen es haben wird, sind auch immer mehr erwachsene Menschen hierzulande verunsichert und ängstlich. So bekannte ein Lüner Familienvater, er könne nachts nicht mehr schlafen, angesichts der Bilder aus der Ukraine. Und eine junge Frau macht sich Sorgen, was passieren könnte, wenn auch wir unsere Heimat verlassen müssten. „Nach einer Amsterdamer Studie nach den Terroranschlägen vom 11. September wissen wir, dass Bilder auch traumatisieren können, selbst wenn wir nicht direkt vor Ort sind“, so Lüdke.

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Um das zu verhindern, solle man auch mal den Mut haben, abzuschalten. „Es reicht, wenn wir uns zwei Mal am Tag informieren, morgens und abends. Nicht permanent. Auch wenn jeder hofft und auf Nachrichten vom Ende des Krieges wartet.“ Den Bilder-Konsum der Kämpfe und der schlimmen Folgen solle man drastisch reduzieren. „Wir müssen in den eigenen Alltag zurückkehren, in dem wir uns auskennen, damit wir mental stark bleiben. Wir müssen alle auch emotional überleben.“

Bilder lösen Re-Traumatisierung aus

Besonders belastend ist die Bilderflut des Krieges für Menschen, die schon einen Krieg erlebt haben. „Jedes Bild vom Krieg löst bei ihnen eine Re-Traumatisierung aus, bei der alles an schlimmen Ereignissen wieder hochgeholt wird.“ Die Menschen fühlen sich zurückversetzt in die Zeit des Krieges, den sie selbst als Kinder erlebt haben.

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Statt sich permanent Berichte aus der Ukraine anzusehen, rät Lüdke dazu, bewusst abzuschalten und sich lieber die Lieblingsserie anzusehen. „Das hat auch nichts mit Ignoranz gegenüber dem Leid der Menschen in der Ukraine oder den Flüchtlingen zu tun. Wir alle können ihnen nur helfen, wenn wir selbst mental stark bleiben.“ Man müsse seelisch auftanken, um dann auch voll für die Menschen da zu sein, die Hilfe benötigen.

Kein schlechtes Gewissen entwickeln

Eine gute Balance zwischen Anspannung und Entspannung sei dabei wichtig. Ähnlich wie es im Sport ist, wo man auch Pausen braucht. „Natürlich sind Informationen wichtig, aber nach dieser Phase sollte man auch wieder etwas anderes machen.“ Und dabei kein schlechtes Gewissen entwickeln. „Mich haben Leute angesprochen, ob es denn in Ordnung sei, wenn die Kinder Karneval gefeiert haben. Natürlich ist das in Ordnung, sich auch mal abzulenken.“ So wie Erwachsene mal ins Kino sollten oder sich auch mal mit Freunden treffen, um sich von der erschütternden Bilderflut abzulenken. Danach sei man mit viel mehr Kraft auch bei Hilfsaktionen dabei.