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Pilotprojekt in Ahaus/Coesfeld: Menschen mit Behinderung künftig an der Seitenlinie
Fußball
Aus einer „Schnapsidee“ wird Ernst: Der Fußballkreis Ahaus/Coesfeld startet in der Rückrunde der laufenden Saison ein Pilotprojekt. Menschen mit Behinderung sollen aktiv am Fußball teilhaben.
Es ist der 7. Januar 2022. Auf dem Kunstrasenplatz in Gescher herrschen nicht gerade fußballfreundliche Bedingungen. Es ist dunkel, es ist kalt und es fällt Schneeregen. Doch Initiator Daniel Banken und seine Mitstreiter lassen sich dadurch nicht bremsen. Es ist die Premiere für alle Beteiligen: Zwei Mannschaften des SV Gescher und Schiedsrichter Daniel Gravermann bestreiten erstmals ein Spiel mit einem „I-Gespann“. Das „I“ steht dabei für Inklusion.
Bei Gravermanns Assistenten an den Seitenlinien handelt es sich um Bewohner des Haus Hall in Gescher. Wegen unterschiedlicher Handicaps leben sie hier in betreuten Wohngruppen. Der jüngste der neuen Linienrichter ist gerade 16 Jahre alt, der älteste 59. Und Daniel Banken, Schiedsrichter vom FC Ottenstein, hat sie im Auftrag des Fußballkreises über die vergangenen Wochen in Sachen Schiedsrichterei geschult. Aber wie ist es dazu gekommen?
Der Ottensteiner arbeitet nicht etwa als Pfleger, Erzieher oder Sozialpädagoge. In seinem Job als Versicherungskaufmann hat er im Alltag kaum etwas mit Menschen mit Behinderung zu tun. „Eigentlich war das eine Schnapsidee von mir. Sie entstand aus der Motivation, dass jeder Mensch eine Verantwortung der Allgemeinheit gegenüber hat“, so Banken. So habe er sich überlegt, wie er die Schiedsrichterei mit etwas anderem Nützlichem für die Gesellschaft verbinden könne.
Aushang im Haus Hall
Also nahm der Schiedsrichter bereits im September 2020 Kontakt zu Lukas Tekampe auf, der für die Freizeit- und Bildungsangebote im Haus Hall zuständig ist. Der habe zwar nicht wirklich Bezug zum Fußball, sei aber sofort offen für die Idee gewesen. Über einen Aushang im Haus Hall wurden in der Folge – wegen Corona deutlich später als geplant – die Bewohner der Einrichtung auf das Projekt aufmerksam. Mit den Verantwortlichen des Fußballkreises Ahaus/Coesfeld, insbesondere dessen Vorsitzenden Willy Westphal und Schiedsrichter-Obmann Paulo Goncalves, war das alles im Vorfeld abgestimmt worden.
„Der Fußball, insbesondere auch der FLVW mit seinen Fußballkreisen, sieht es auch als seine gesellschaftspolitische Aufgabe an, Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu lassen und sie in den Sport zu integrieren. Insofern fand die Idee des Daniel Banken, gehandicapte Menschen am Fußballsport durch eine Linienrichteraufgabe teilnehmen zu lassen, spontanen Anklang“, wie der Kreisvorsitzende Willy Westphal mitteilt.

Vier neue Linienrichter für den Kreis Ahaus/Coesfeld: der 16-jährige Philipp mit Uwe Pohlmann, Dominic Wilmes und Pascal Schlüter (v.l.) © privat
Vier potenzielle Kandidaten für das Projekt erhielten im vergangenen Herbst von Daniel Banken und anderen Schiedsrichtern aus dem Kreis eine mehrteilige theoretische Schulung – und praktische Anschauung als Zuschauer bei einem Spiel in Vreden –, um die wichtigsten Aspekte ihrer künftigen Tätigkeit kennenzulernen.
Die dürfe man sich aber nicht eins zu eins so vorstellen, wie man es zum Beispiel von einem Bundesliga-Assistenten kenne, erklärt Daniel Banken: „Das Projekt steckt ja noch in den Kinderschuhen, daher sind einige Dinge bislang schwierig umzusetzen. Zum Beispiel gab es im Vorfeld die Überlegung, dass die neuen Assistenten auch Auswechslungen oder Gelbe Karten notieren könnten. Aber es ist so, dass einige nicht gut schreiben können. Und in einer hektischen Situation fällt das natürlich noch schwerer.“
Kontrollen vor Spielbeginn
Zunächst zählen zu den Aufgaben vor dem Anpfiff also die Kontrolle der Netze, des Spielfeldes, der Bälle und der Trikots der Spieler. Während des Spiels ist das Heben der Fahne gefragt, sobald der Ball im Aus ist. Letzteres ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, wie Daniel Banken weiß: „Auch für geübte Schiedsrichter-Assistenten ist es oft schwierig zu beurteilen, wann der Ball vollständig die Linie übertreten hat.“
Dass es hierfür vor allem Übung in der Praxis braucht, habe auch die Generalprobe des neuen „I-Gespanns“ in Gescher gezeigt, wo zwei Kreisliga-Mannschaften des SVG eigens für dieses Projekt ein Testspiel bestritten.
In der laufenden Vorbereitung soll das Gespann die Schiedsrichter bei weiteren Testspielen im Kreisgebiet unterstützen. Und für die im Februar startende Rückrunde ist geplant, dass das Integrationsprojekt auch bei Punktspielen in den unteren Ligen der Männer und Frauen auf Kreisebene Einzug hält. Einmal im Monat, so die aktuelle Überlegung. Daniel Bankens Blick geht aber schon darüber hinaus: „Ziel muss es sein, dass es zunächst auf Kreisebene losgeht, dann im ganzen Verband und irgendwann bundesweit so praktiziert wird.“
Auch wenn sich im westfälischen Verband um ein Pilotprojekt handelt, ist es nicht das erste dieser Art in NRW. Im Kreis Heinsberg etwa hat sich die Idee bereits etabliert und findet auch prominente Unterstützung von Bundesliga-Schiedsrichter Sascha Stegemann. Hier ein Beitrag darüber in der ARD-Sportschau.
Wie sich das Ganze im Kreis Ahaus/Coesfeld entwickelt, das werden die kommenden Monate zeigen.
Anfang des Jahrtausends von der Nordseeküste ins Münsterland gezogen und hier sesshaft geworden. Als früher aktiver Fußball-, Tennis- und Basketballspieler sportlich universell interessiert und immer auf der Suche nach spannenden Geschichten.
