
Boris Waschkowitz ist der Leiter des Jugendamtes in Haltern am See, manchmal wünscht er sich mehr Befugnisse. © Nora Varga
Jugendamt Haltern hat 2021 acht Kinder aus Familie genommen – wie es dazu kommt
Kinderschutz
Das Jugendamt soll die Rechte der Kinder schützen, aber wie genau wird das in Haltern eigentlich gemacht? Wir haben mit dem Leiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes in gesprochen.
Das Jugendamt hat einen schlechten Ruf. Auch der Leiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes in Haltern, Boris Waschkowitz, kennt das Problem mit den Vorurteilen: „Entweder wir sind die Bösen, die glückliche Familien auseinanderreißen, oder wir machen nichts.“ Wir haben uns mit ihm getroffen, um zu klären, wie das Jugendamt in Haltern wirklich arbeitet und wie viele Kinder aus ihren Familien genommen werden.
Aber fangen wir vorne an. Boris Waschkowitz: „Grundsätzlich müssen wir eine Info bekommen.“ Solche Meldungen kommen oft von Kitas, Schulen oder Vereinen. „Wir sind sehr froh, dass wir hier in Haltern ein gutes Netzwerk aufgebaut haben.“ Aber auch Privatpersonen, wie zum Beispiel Nachbarn oder Freunde, die das Gefühl haben, dass es einem Kind nicht gut geht, können sich melden.
Anonyme Beratung für Tippgeber möglich
Das Jugendamt ist auf solche Tipps und Hinweise angewiesen. Wer sich unsicher ist, ob ein Kind wirklich in Gefahr ist, kann beim Jugendamt ein sogenanntes 8b-Gespräch führen. Benannt nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz § 8b können Menschen auf diesem Weg komplett anonym um Rat bitten. Das ist keine offizielle Meldung und wird nicht verfolgt. So will man die Hürden für Tipp-Geber senken.
Boris Waschkowitz: „Wenn sich Menschen bei uns melden, wird das oft mit Denunziantentum verwechselt.“ Dabei sei es sehr wichtig, die Augen offenzuhalten. Wird eine glaubwürdige Meldung gemacht, fahren zwei Mitarbeiter des Jugendamtes zu der Familie – unangekündigt. „Das ist dann natürlich nicht immer der Worstcase. Oft suchen wir zusammen mit den Eltern eine Lösung. Wenn die Kinder keine warme Kleidung haben, schaffen wir Abhilfe. Kinder aus der Familie zu nehmen, ist wirklich das Ende der Fahnenstange.“
Nicht hinter jeder steckt auf ein Fall fürs Jugendamt
Manchmal lösen sich solche Besuche auch komplett auf: „Wenn die Eltern uns zum Beispiel beweisen können, dass ihr Kind gerade Zähne bekommt und deswegen so viel schreit, dann ist das natürlich ein falscher Alarm.“
Sollten die Mitarbeiter aber ein Kind antreffen, das verwahrlost ist oder dem offensichtlich Gewalt angetan wird, dann werden die Kinder in Obhut genommen. Boris Waschkowitz erzählt, dass Eltern manchmal auch einsehen, dass sie überfordert sind und die Inobhutnahme befürworten. Solche Kinder werden dann übrigens auch nicht ins Kinderheim gesteckt, wie manche Grusel-Geschichten behaupten.
Es ist von Kind zu Kind unterschiedlich: „Wir gehen individuell auf das Kind ein. Manche kommen in Wohngruppen oder Bereitschaftspflegefamilien. Wir haben auch spezielle Wohngruppen, zum Beispiel für Kinder mit Essstörung.“ Außerdem wird auch auf Geschwister Rücksicht genommen, um sie in dieser belastenden Situation nicht noch zusätzlich zu trennen.
Die Arbeit im Jugendamt kann seelisch belastend sein
Auch für die Mitarbeiter des Jugendamtes ist es nicht leicht zu entscheiden, ob ein Kind aus der Familie muss. Boris Waschkowitz erinnert sich noch an seine erste Inobhutnahme vor circa 14 Jahren: „Ich habe in der Nacht nicht gut geschlafen. Aber dann habe ich mir gedacht, vielleicht konnte dieses Kind zum ersten Mal ohne Gewalt ruhig schlafen.“ Es sei trotzdem wichtig für ihn und seine Kollegen, immer wieder miteinander über die Fälle zu sprechen, mit denen sie konfrontiert werden.
In Haltern am See wurden 2021 93 Meldungen gemacht, bei allen Meldungen ist das Jugendamt tätig geworden und hat die Familien besucht. Acht Kinder wurden daraufhin zeitlich befristet in Obhut genommen. 2022 waren es bisher 39 Meldungen und eine Inobhutnahme. Damit liegt Haltern am See weder besonders weit über dem Durchschnitt noch darunter.
Fast immer geht es um Vernachlässigung oder Misshandlung
„In Duisburg Marxsloh gäbe es sicher noch mehr Fälle, aber grundsätzlich kann alles, was man so aus den Medien kennt, auch hier in Haltern passieren.“ Insgesamt sei das Stadtgebiet aber ausgeglichen, es gibt also keinen besonders prekären Bereich. Boris Waschkowitz erzählt, dass über 90 Prozent der Meldungen sich um den Bereich Vernachlässigung und Misshandlung drehen.
Wenn ein Kind in Obhut genommen wurde, wird ein Hilfeplanprozess eingeleitet. Auch die Eltern werden in jedem Fall daran beteiligt. Dann werden Ziele festgelegt, je nach Alter des Kindes und Lage der Familie sind die ganz unterschiedlich, wie Waschkowitz erzählt: „Bei einigen ist es die Selbstständigkeit, bei anderen ist es die Rückführung in die Familie und dann schauen wir, was dafür getan werden muss.“ Das können zum Beispiel Therapien für drogenabhängige Elternteile oder ambulante Jugendhilfemaßnahmen sein.
Kinder rechtfertigen die Gewalt der Eltern
Kinder würden die Situation oft nicht verstehen oder gewalttätige Eltern in Schutz nehmen. Boris Waschkowitz: „90 Prozent der Kinder wollen bei Mama und Papa bleiben. Sie legitimieren dann zum Beispiel die Schläge des Vaters, weil sie sich ja auch nicht benommen haben.“
In seinem Beruf muss er mit Erfolgen und Misserfolgen umgehen: „Wenn wir ein Kind sehen, das wir gerettet haben und später ein geregeltes Leben führt, dann würde ich nie sagen, dass es nur mein Verdienst ist. Aber wenn man nur 5 Prozent davon zu verantworten hat, ist das ein tolles Gefühl.“ Aber es sei auch klar, dass man nicht jedes Kind den optimalen Weg nehme.
Trotz viel Stress mag er seinen Beruf: „Unsere Arbeit macht viel Spaß, es ist spannend, Biografien mitzugestalten.“ Trotzdem könnten ein paar Sachen besser laufen: „Ich würde mir eine bessere Imagekampagne wünschen, wir sind wirklich nicht die Bösen.“
Mehr Pflichten würden dem Jugendamt helfen
Außerdem würde er in einigen Bereichen mehr Verbindlichkeiten wünschen. Das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, steht für Boris Waschkowitz an oberster Stelle. Aber es wäre leichter für das Jugendamt, gefährdete Kinder zu entdecken, wenn es feste Stationen gäbe. Ein verpflichtendes Kita-Jahr und medizinische Checks könnten rechtzeitig Probleme aufdecken. Boris Waschkowitz: „Jetzt gibt es Kinder, die mitunter erst bei der Einschulung zum ersten Mal auf unserem Radar sind.“ Einem vernachlässigten Kind, das erst mit sechs Jahren bei der Einschulung auffällt, hätte das Jugendamt mit mehr Verbindlichkeiten früher helfen können.
Er möchte allen Halternerinnen und Halternern eine Sache mit auf den Weg geben: „Das Jugendamt ist 365 Tage im Jahr 24/7 erreichbar. Es gibt auch an Weihnachten und nachts einen Bereitschaftsdienst. Die Feuerwehr und die Polizei haben immer eine Nummer des Jugendamtes vorliegen. Wenn Ihnen etwas auffällt, dann melden Sie sich.“
Haben Sie Fragen oder suchen Sie Beratung?
- Leiter Allgemeiner Sozialer Dienst: Boris Waschkowitz, Tel. 933-183
- 8b-Beratung (Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen): Angelika Baumeister Tel. 933-254 und Martin Kürten Tel. 933 257
- Bereitschaftsdienst des Jugendamtes zu den allgemeinen Öffnungszeiten der Verwaltung: Tel. 933 252
Jahrgang 2000. Ist freiwillig nach Castrop-Rauxel gezogen und verteidigt ihre Wahlheimat gegen jeden, der Witze über den Stadtnamen macht. Überzeugte Europäerin mit einem Faible für Barockmusik, Politik und spannende Geschichten.
