Pfarrer Martin Ahls zum Germanwings-Absturz „Es war ein Handeln aus Not und Trauer“

Pfarrer Martin Ahls: „Es war ein Handeln aus Not und Trauer“
Lesezeit

Martin Ahls, bis 2017 Pfarrer in der katholischen Gemeinde St. Sixtus in Haltern, ist mit seinen Gedanken noch oft in Haltern. Vor allem die gemeinsam ertragenen schweren Stunden nach dem Flugzeugabsturz am 24. März 2015 haben sich bei ihm eingebrannt. Zum 10. Jahrestag sagt er in einem Interview mit unserer Redaktion: „Es ist nicht ein Datum, es sind Menschen, über die wir reden, die wir nicht vergessen, die jetzt einfach fehlen.“

Der Flugabsturz jährt sich zum zehnten Mal. Wieder ein 24. März, der uns mit der schrecklichen Katastrophe konfrontiert. Wie gegenwärtig ist Ihnen der Tag, der Familien und die Stadt in eine tiefe Trauer stürzte?

Gut 19 Jahre durfte ich in Haltern sein. Zu den wirklich tiefen Erinnerungen, den prägenden und verändernden, gehören vor allem die tragischen Todesfälle von jungen Menschen. Die Momente, wo das Telefon klingelt oder ein völlig erstarrter Familienvater vor einem steht, die sind wie eingebrannt, auch nach zehn oder sogar über 20 Jahren. Das Ausmaß der Germanwings-Katastrophe ist dabei die Steigerung ins Unermessliche. Und so hab ich auch den Moment sehr präsent, wo mich Ulli Wessel anrief. Vieles andere an diesem Tag war Improvisation und „Handeln aus der Not und Trauer“. An so einem Tag steht man völlig neben sich, an diesem 24. März wie niemals zuvor und niemals danach.

Von der Schule bin ich dann irgendwann rüber in die Sixtuskirche, wo sich schon eine Schar Mitschüler versammelt hatte. Die haben dann mit angepackt, das Halterner Kreuz in die Mitte der Kirche zu stellen, wo es dann bis zum Karfreitag stand. Auch diese Szene war eine „eingebrannte“, voller Schmerz.

Alle Mitglieder des Pastoralteams der Pfarrei haben sich noch an diesem Tag versammelt und miteinander versucht, etwas zu organisieren. Das tat gut, auch uns untereinander.

Sie haben die Sixtuskirche als zentralen Ort der Trauer geöffnet und waren mit allen Seelsorgern der Kirchen an der Seite der Betroffenen. In der Sixtuskirche fanden täglich ökumenische Wortgottesdienste und Trauerfeiern unter anderem mit dem Bundespräsidenten statt. Warum war es so wichtig, diese Mitte zu haben, an dem sich die Menschen stützen, miteinander weinen und einander an die Hand nehmen konnten?

Die Schule und die Sixtuskirche waren die Orte, zu denen sich die Menschen quasi instinktiv auf den Weg machten. Und dann haben wir noch am Katastrophentag mehrere Entscheidungen getroffen, die wichtig waren. Das Halterner Kreuz in der Mitte hatte ich schon erwähnt, vor dem dann schon die Kerzen brannten, dazu die Pulte mit den Kondolenzbüchern, aus deren Seiten wir später für jede Familie „ein eigenes“ zusammengestellt haben. Diese sind dann in der Gefängnis-Buchbinderei in Münster gebunden worden. Von dort kam damals die Nachricht, dass die Gefangenen wohl noch keinen Auftrag mit einer solchen „Andacht“ ausgeführt hätten.

Die vielleicht wichtigste Entscheidung des ersten Tages war es aber, dass die Kirche für die Berichterstattung ein Tabu-Ort sein würde. Keine Kameras, keine Interviews, keine Fotos. Daran haben sich meines Wissens nach alle Medien gehalten. Die erste Andacht noch am 24. März war ja irgendwie auch ein Versuch, den Menschen eine Zeit der gemeinschaftlichen Andacht in der Trauer zu geben. Dass wir das dann jeden Tag wiederholen würden, hatte zunächst keiner geplant. Sowas kann man ja auch nicht planen.

Die Pfarrer Martin Ahls und Karl Henschel sprechen zur Einsegnung der Gedenkstätte für die Opfer des Germanwings-Absturzes in Haltern.
Die Pfarrer Martin Ahls und Karl Henschel segneten die Gedenkstätte für die 16 Schüler und zwei Lehrerinnen, die beim Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren, ein. Die Kirchen boten den Angehörigen und der Schulgemeinde nach der Katastrophe intensive Begleitung und einen besonderen Schutz an. © Benjamin Glöckner

Sie haben sich gewünscht, dass Haltern dem Vergessen widersteht. Wie elementar ist für die Familien, dass diese oft geäußerte Versprechen auch heute nach zehn Jahren noch zählt?

Wir Menschen brauchen die Erinnerung. Als Jugendlicher hat mich das Wort „Damit wir wissen, wohin wir gehen, müssen wir wissen, woher wir kommen“ begleitet. Das gilt auch für das Leben mit der Katastrophe. Es ist nicht ein Datum, es sind Menschen, über die wir reden, die wir nicht vergessen, die jetzt einfach fehlen. Wo würden die heute alle im Leben stehen, was würden sie arbeiten, in welchen Beziehungen leben? Die Erinnerung ist auch deshalb so schmerzlich, weil sie uns die Bedrohung vor Augen stellt, vor der es keine letzte Sicherheit gibt.

Sie haben sich nach dem Umzug von Haltern nach Rheinberg eine Postkarte mit dem Bild der brennenden Kerzen vor dem Halterner Kreuz auf Ihren Schreibtisch gestellt. Steht sie noch immer da?

Ja, auf die Karte schaue ich immer noch.

Das Gabelkreuz steht umringt von Kerzen vor dem Altar der Sixtus-Kirche in Haltern.
Das Gabelkreuz in der Mitte der Kirche: In der Sixtuskirche versammelten sich täglich Trauernde, um zu beten und sich zu trösten. © Daniel Winkelkotte

Konnte der Glaube damals und kann er noch heute Hoffnung schenken? Konnte doch niemand verstehen, was geschehen war und die Frage nach dem Warum ließ an Gottes Liebe zweifeln.

Auf der Rückseite der Karte steht ja ein Gebet, das Weihbischof Dieter Geerlings am Abend des Katastrophentages in der Sixtuskirche geschrieben hat. Dieses Gebet hat er dann am folgenden Tag in der Schule vor der Schulgemeinde vorgelesen und wir durften es auf die Karte drucken. Darin heißt es: „Gott, es fällt schwer, deinen Namen zu nennen. ‚Ich bin da‘ bedeutet er. Aber wo warst du, bist du jetzt? Du scheinst so weit weg. (…) Gott, du Unfassbarer, hörst du unsere, meine Klage? Wie ohnmächtig sind wir! Und du?“

Im Angesicht der Katastrophe bleibt keine Hoffnung. Dass der Bischof die Ohnmacht Gottes ins Wort hebt, hat mich tief berührt. Gott, der den Menschen die Freiheit geschenkt hat, sieht ohnmächtig die Perversion, dass ein suizidaler Mensch alle mit umbringt.

Welche Grüße schicken Sie am 24. März nach Haltern?

Ein Mitstudent im Borromaeum hatte von seinen Freunden ein großes Wandbild aus Pfennigstücken zum Abschied bekommen. Darauf stand „Freunde hat man da, wo man bleibt, wenn man geht“. Das passt. Ich bin zwar schon seit acht Jahren „weg“, in Gedanken aber oft „da“ – und ich bin dankbar für die lange Zeit, die frohen Stunden und auch für die gemeinsam ertragenen schweren Stunden.

Zum Thema

10. Jahrestag der Flugzeug-Katastrophe

Am 24. März 2025 jährt sich die Flugzeug-Katastrophe zum zehnten Mal. Wir nehmen diesen traurigen Jahrestag zum Anlass für eine Artikel-Serie in den nächsten Wochen.