Ulrich Wessel saß am 24. März 2015 in einer Schulleiterkonferenz, als er eine WhatsApp-Nachricht der Schule mit der Bitte erhielt, dringend zurückzurufen. Zurück in Haltern erfuhr er, welch unheimliches Leid sich aufgetan hatte. „Die fürchterlichsten Momente waren die, als die Eltern in die Schule kamen und ich ihnen sagen musste, dass alle Insassen der abgestürzten Germanwings-Maschine tot sind“, sagt Ulrich Wessel.
Diesen Moment werde er zeit seines Lebens nicht vergessen. Und fast noch unerträglicher war der Moment, als er zwei Tage später mitteilte, der Co-Pilot habe das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht.

Es gab damals kaum einen Menschen, der mehr im Fokus der Öffentlichkeit stand, der mehr Verantwortung tragen und unerträgliche Gewissheiten verwalten musste als Schulleiter Ulrich Wessel. Bei einem Gespräch an der Gedenkstätte kurz vor dem zehnten Jahrestag sagt er, der Schulalltag habe sich in jenen Tagen schlagartig verändert. „In solchen Augenblicken funktioniert man nur und versucht zu verstehen und zu organisieren, was eigentlich gar nicht zu verstehen und zu organisieren ist.“
Unglück ist noch sehr präsent
Auf der einen Seite sei inzwischen viel Zeit vergangen, auf der anderen Seite sei das Geschehen an der Schule und in der Stadt noch immer sehr präsent. Liebevoll gestaltete Gräber zeigten, dass der Schmerz der Eltern so gegenwärtig sei wie am ersten Tag. „Wenn Kinder vor ihren Eltern sterben, stimmt der Spruch, dass die Zeit alle Wunden heilt, nicht.“ Auch die Gedenktafel am Joseph-König-Gymnasium sei ein sichtbares Zeichen der Wunde, die die Schulgemeinschaft damals erlitten habe.
Bei der Einweihung der Gedenktafel betonte Ulrich Wessel aber auch: Die Schüler haben das Recht auf eine Schulzeit mit ausgelassenen Klassenreisen, mit Karnevalsfeiern und Abschlussfahrten. „Wir haben neben der Gedenktafel Bänke für die Pausen aufgestellt. Heute sitzen überall Kinder, sie lachen und scherzen. Und das sollen sie auch.“
Das schloss nicht aus, ein würdiges Gedenken an die Jugendlichen und die beiden Lehrerinnen zu bewahren. Das war Ulrich Wessel bis zum Schluss seiner Schulleitung wichtig – und ist es auch heute noch. Mehrmals ist das Ehepaar Wessel mit nach Le Vernet zu den Trauerfeiern nahe der Unglücksstelle geflogen. Auch jetzt wird er wieder am 24. März die Eltern der jungen Opfer nach Südfrankreich begleiten.
Er sehe es als Gunst an und sei sehr dankbar, dass er gemeinsam mit seiner Ehefrau Birgit die Eltern auf dem sehr schwierigen Weg begleiten durfte und auch weiterhin dürfe. „Wir haben großartige Menschen kennengelernt, die damals wie heute versuchen, mit der Katastrophe umzugehen.“ Seine Frau sei immer an seiner Seite gewesen, sie habe ihm geholfen, die schweren und schwierigen Zeiten zu überstehen.
Aula als spontaner Gedenkort
Im Schulzentrum wurde direkt am Tag der Katastrophe die Aula dank Unterstützung von Florist Walter Wendker vorübergehend als würdevoller Gedenk- und Rückzugsort hergerichtet. Hier brannten Kerzen, schrieben Schülerinnen und Schüler Briefe, malten Bilder oder fanden andere Zeichen der unendlichen Trauer.
30 Schulpsychologen aus ganz Nordrhein-Westfalen und 50 Seelsorger seien mit in die Unterrichtsstunden gekommen, kein Lehrer musste allein in eine Klasse. Eine Ausnahmesituation. Schulleiter Ulrich Wessel selbst gönnte sich keine Ruhe, nachts ging er wieder zurück in die Schule, aber sagt noch heute: „Das war nichts Überlegtes, ich funktionierte einfach.“
Aber er habe auch gesehen, dass die Schule im Fokus des Interesses stand. Dem habe er sich nicht entziehen können.

Vieles sei nach außen mit seiner Person verbunden worden, sagte er rückblickend bei seinem Abschied vom Gymnasium im Sommer 2024. „Es wurde oft übersehen, dass das Kollegium seine Kolleginnen und die Schülerinnen und Schüler ihre Freundinnen und Freunde verloren haben.“ Letztlich habe es nichts Schlimmeres im Schulleben des Halterner Gymnasiums gegeben.
„Diese Katastrophe hat mich geprägt, sie hat meine Sicht auf das Leben verändert“, stellt Ulrich Wessel fest. Elf der Schülerinnen und Schüler kannte Ulrich Wessel näher, er unterrichtete sie zeitweise in Erdkunde oder Latein.
Ehrung in Berlin
Im Dezember 2016 verlieh der damalige Bundespräsident Joachim Gauck ihm in Berlin das Bundesverdienstkreuz. Der Bundespräsident ehrte Ulrich Wessel für die einfühlsame Arbeit mit Angehörigen, Schülerschaft und Kollegium, für die Begleitung in den dunkelsten Stunden. „Ihre Haltung ist uns allen ein Vorbild.“ Ulrich Wessel nahm diese Auszeichnung ausdrücklich stellvertretend für alle in Haltern am See an, die versucht haben, den Eltern und Freunden der Getöteten beizustehen.

10. Jahrestag Flugzeug-Katastrophe
Am 24. März 2025 jährt sich die Flugzeug-Katastrophe zum zehnten Mal. Wir nehmen diesen traurigen Jahrestag zum Anlass für eine Artikel-Serie in den nächsten Wochen.