Unschuldig im Knast? Langes Warten auf den Freispruch

Justiz handelt nicht

Sechs Jahre und acht Monate saß Thomas Ewers (45) nach einem Urteil des Dortmunder Landgerichts im Gefängnis. Seine frühere Lebensgefährtin hatte ihn im Jahr 2001 beschuldigt, sie zweimal vergewaltigt zu haben. Jetzt muss die Justiz den Fall neu aufrollen. Verfolgen Sie den ungewöhnlichen Fall in dieser Chronik.

DORTMUND/HAMM

, 31.01.2014, 06:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Im Sommer 2002 veränderte ein Schuldspruch des Dortmunder Landgerichts Thomas Ewers' Leben. Der selbstbewusste Mann, kein Kind von Traurigkeit, musste nach dem Vergewaltigungs-Vorwurf seiner früheren Lebensgefährtin Claudia K. für sechs Jahre und acht Monate in Haft. Heute leidet er unter den psychischen Folgen, die in der Haft erlitten hat. Ein Rückblick von 2000 bis 2014

2000: Die Beziehung zwischen Thomas Ewers und Claudia K. ist zerrüttet. Immer wieder kommt es zum Streit. Dann geht das Verhältnis in die Brüche. Thomas Ewers und seine frühere Lebensgefährtin haben eine gemeinsame Tochter.2001: Thomas Ewers erfährt von seiner 10-jährigen Tochter, dass der neue Lebensgefährte von Claudia K. das Mädchen geschlagen haben soll. Beide Männer geraten deshalb aneinander. Claudia K. zeigt Thomas Ewers im Dezember an. Ihr Ex soll sie 1997 und 2001 vergewaltigt haben.2002: Im Sommer verhandelt das Landgericht Dortmund an vier Prozesstagen über den Fall und verurteilt Ewers zu sechs Jahren und acht Monaten Haft. Die Richter stützen sich dabei auf die Aussagen des Opfers, das acht Jahre später erneut eine bedeutende Rolle einnehmen wird.2003: Ein Jahr nach dem Urteil, am 14. Juli 2003, tritt Thomas Ewers in Bielefeld seine Haft an. Die Justiz verlegt ihn später nach Hamm und dann in die Justizvollzugsanstalt Werl. Dort verbüßt Ewers die Haftstrafe bis zum Ende. Vorher absolviert er in der Haft eine Koch-Lehre.2010: Am 12. März 2010 verlässt Thomas Ewers das Gefängnis in Werl als freier Mann. Er zieht in eine kleine Wohnung in seiner Heimatstadt Hamm und hat auch wieder intensiven Kontakt zu seiner Tochter, die mit ihrer Mutter immer wieder über den Vergewaltigungs-Vorwurf gesprochen hat.2010: Im Juni übergibt die Tochter ihrem Vater einen in Handschrift erstellten Brief. Verfasserin ist Claudia K., die frühere Lebensgefährtin, die Thomas Ewers 2001 angezeigt hatte. In dem Brief erklärt sie, von ihrem neuen Freund David K. zur Falschaussage gezwungen worden zu sein.2010: Im Dezember zeigt Thomas Ewers die Falschaussage, die ihn ins Gefängnis gebracht hat, an. Zuvor hat sein Rechtsanwalt das Schreiben genau geprüft. Er ist davon überzeugt, dass der Brief echt ist und dass sein Mandat nachträglich frei gesprochen werden muss.2011: Im November übermittelt die Staatsanwaltschaft eine Anklage gegen Claudia K. und David K., die inzwischen getrennt leben. Auch sie haben eine gemeinsame Tochter. In dem Brief steht, dass David K. gedroht haben soll, die Tochter zu töten, falls Claudia K. die Vergewaltigungen nicht erfindet.2012/2013: Thomas Ewers leidet psychisch unter den Folgen der Haft und wartet vergeblich auf einen Termin am Landgericht Dortmund, das über die Falschaussage der Angeklagten und des mutmaßlichen Anstifters verhandeln muss. Sollten die Richter eine Schuld erkennen, sind Haftstrafen möglich.2014: Das Landgericht Dortmund begründet den Zeitverzug mit den Prozessen einer stark belasteten Strafkammer, die auch wegen des Envio-Giftmüllskandals verhandelt. Der Termin wegen der mutmaßlichen Falschaussage soll noch in der ersten Jahreshälfte 2014 anberaumt werden.Fast sieben Jahre im Gefängnis Sollte das Landgericht Dortmund die Falschaussage erkennen und die Angeklagten schuldig sprechen, nimmt der Fall eine unerwartete Wende, denn Thomas Ewers hat dann fast sieben Jahre im Gefängnis gesessen - für zwei Vergewaltigungen, die er nie begangen hat. Der heute 45-jährige Mann aus Hamm wirkt deprimiert und kämpferisch zugleich. Einerseits versucht er unter schwierigen Bedingungen in den Alltag zurück zu finden, andererseits bereitet er intensiv eine Strategie vor, mit der er den Staat in Regress nehmen kann.Hier Fragen und Antworten zum Fall:Unschuldig im Gefängnis - welche Folgen kann das haben? Thomas Ewers fühlt sich doppelt und dreifach bestraft. 1. Der Schuldspruch, basierend auf einer Falschaussage. 2. Das Leben in der Haft: Weil Ewers die Tat nicht eingesehen hat, ziehen Hafterleichterungen an ihm vorbei. 3. Das Leben nach der Haft: 100 Bewerbungen, 100 Absagen.

Was ist, wenn die Richter die Falschaussage erkennen und eine Schuld erkennen? Mit diesem Urteil in der Hand kann Thomas Ewers die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen und nachträglich einen Freispruch erzielen. Zuständig ist dafür das Landgericht Essen, damit andere Richter den Fall mit unbefangenem Blick betrachten.

Sollten die Richter nachträglich einen Freispruch treffen: Was beudetet das? Der Staat muss Thomas Ewers dann unaufgefordert mit 25 Euro pro Hafttag entschädigen, weil er unschuldig im Gefängnis gesessen hat. Der falsch Verurteilte will ein höheres Schmerzensgeld erklagen und fordert 100 Euro pro Tag. Dafür will er bis zum Bundesgerichtshof gehen.

Warum 100 Euro? Dieser Betrag stand schon einmal im Raum, weil Politiker der Meinung waren, dass 25 Euro nicht angemessen hoch seinen. Zum Vergleich: Für einen VW Polo, der nach einem Unfall in die Werkstatt muss, kann der Besitzer 29 Euro pro Tag als Ausfallgeld verlangen.Kann ein falsch Verurteilter darüber hinaus Geld fordern? Ja, auf zivilrechtlichem Wege. Er kann einen Ausgleich für sämtliche finanziellen Verluste, die er durch das Fehlurteil und dessen Folgen erlitten hat, geltend machen und diese Forderungen präzise begründen. Von dem Gesamtbetrag werden etwa 10 Euro pro Tag für Essen und Unterkunft abgezogen.Wie lange kann sich der Fall Ewers noch hin ziehen? Thomas Ewers muss Geduld aufbringen: Zunächst muss das Landgericht Dortmund die Falschaussage erkennen und ein Urteil fällen, das rechtskräftig ist. Das kann sich bis in den Sommer 2014 hinziehen. Dann muss das Landgericht Essen einen Termin für die Wiederaufnahme des Verfahrens finden. In Essen muss Thomas Ewers einen Freispruch erhalten, um umfangreich Schadensersatz fordern zu können.Sollte Ewers frei gesprochen werden: Was heißt das dann für die Justiz? Dann stellt sich die Frage, ob das damalige "Opfer" so gut gelogen hat, dass Anklage und Richter die Wahrheit tatsächlich nicht erkennen konnten - oder ob die Ermittlungen handwerklich nicht präzise ausgeführt worden sind. 

Das Interview: Thomas Ewers' Rückblick auf die Zeit zwischen 2001 und 2014. Zu lesen in der Ruhr Nachrichten-Ausgabe Dortmund vom 31. Januar 2014.

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