Im Oktober 2025 geht Detlef Gnatowski nach 51 Jahren bei Thyssenkrupp Steel und Hoesch in Dortmund in Rente. 66 Jahre wird er dann alt sein. Mit 14 Jahren begann er seine Ausbildung beim Stahlhersteller Hoesch. Er arbeitete dort, wo heute der Phoenix-See ist, sah noch den Stahl in Dortmund kochen und erlebte, was heute für viele Menschen nur noch eine Legende ist, den Dortmunder Dreiklang: Kohle, Stahl und Bier.
Unsere Redaktion trifft Gnatowski in seinem Betriebsratsbüro. 42 Jahre arbeitete er jeden Tag auf der Westfalenhütte und auch einige Jahre in Bochum. Seit acht Jahren ist er einer der gewählten Betriebsräte in Dortmund. Sobald es vor dem Werkstor Protest gibt, setzt er seinen silberfarbenen Hoesch-Helm auf. Die Parolen stehen auf den Helm geschrieben, je nach Anlass. Die Stahlindustrie im Ruhrgebiet und Arbeiter wie Gnatowski haben ganze Generationen von Stahlarbeitern und Gewerkschaftern geprägt.
Sein markantes Gesicht bleibt sofort im Gedächtnis. Er ist nicht verbittert, sondern dankbar, dass er 50 Jahre bei Thyssenkrupp Steel geblieben ist. „Mit 14 hatte ich gar keine Vorstellung, was auf mich zukommt“, sagt er. Damals begann er seine Ausbildung zum Werkstoffprüfer für Stahl. Warum er sich für den Beruf entschieden hat? „Ich hatte mal einen Nachbar, der war Werkstoffprüfer für Baustoffe. Der hat mir davon erzählt.“
Thyssenkrupp Steel sagt historische Zugfahrt ab
Doch das Ende von 51 Jahren bei Thyssenkrupp hat er sich anders vorgestellt. Mitte Februar 2025 erhält er einen Brief: „Mit großem Bedauern müssen wir Ihnen heute mitteilen, dass die Feierlichkeit leider nicht wie geplant stattfinden kann. Aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Situation und der angespannten finanziellen Lage des Unternehmens sind wir gezwungen, diese Veranstaltung abzusagen“, schreibt Marcus Löffler, der Personalchef von Thyssenkrupp Steel ihm.

Es geht um eine historische Zugfahrt, wie ihm die Vorstände des Unternehmens Dennis Grimm, Philipp Conze und Marie Jaroni im Oktober 2024 schreiben: „Gerne möchten wir dieses goldene Jubiläum persönlich mit Ihnen feiern. Wir laden Sie gemeinsam mit Ihrer Begleitung im Frühjahr 2025 zu einem gemeinsamen Mittagessen und einer besonderen Werksrundfahrt im historischen Salon- und Nostalgiewagen mit außergewöhnlichem Blick auf das Werksgelände am Standort Duisburg ein.“
In dem 100 Jahre alte Salonwagen soll bereits August Thyssen aus der ursprünglichen Unternehmerfamilie über das Werkgelände gefahren sein. Für Detlef Gnatowski ist die Einladung eine Anerkennung, über die er sich freut. Im Schreiben heißt es: „Dabei werden wir auch Stationen erleben, die sonst nicht von Personenwagen befahren werden.“ Nach der Fahrt mit dem Vorstand hätten sie den Tag im Werkcafé „Stulle & Stahl“ ausklingen lassen, ein Inklusionsprojekt, in dem Menschen arbeiten, die nicht mehr die Stahlarbeit verrichten können, die sogenannten „Leistungsgewandelten“.
Thyssenkrupp Steel in der Krise
Doch im Februar 2025 kommt die 180-Grad-Wende. Gnatowski ist einer von ungefähr 30 Mitarbeitern aus dem gesamten Unternehmen, die das betrifft. Ein Unternehmenssprecher sagt: „Wir bedauern dies sehr, die Absage ist aber dem weiter gestiegenen Kostendruck in unserem Unternehmen geschuldet.“ Es wäre eine einmalige Gelegenheit gewesen, mit dem historischen Zug über das Thyssen-Gelände zu fahren und sich mit dem Vorstand auszutauschen. In Unternehmenskreisen wird geschätzt, dass die Zugfahrt und das Buffet einen mittleren vierstelligen Betrag kosten.
Doch zur Wahrheit gehört auch: Der Stahlhersteller steckt in seiner tiefsten Krise, verbuchte im Geschäftsjahr 2023/2024 einen Verlust von 1,5 Milliarden Euro. Doch für eine erfolgreiche Transformation braucht das Unternehmen auch motivierte Mitarbeiter braucht, die sich wertgeschätzt fühlen. Die Absage löst über Dortmund hinaus Kritik aus: „Es hat mich getröstet, als ich das in einer Facebook-Gruppe von Thyssen-Mitarbeiter erzählt habe und viele sich darüber geärgert haben“, erzählt Gnatowski.
Der Mann, der den Niedergang der Stahlindustrie in Dortmund erlebte und dennoch dem Unternehmen jeden Tag die Treue hielt, bekommt nun als Abschied ein persönliches Abendessen mit seinem Abteilungsleiter. Doch nicht, weil das Unternehmen es angeboten hat, sondern weil sein Chef es ihm auf eigene Kosten bezahlen will. Das Unternehmen Thyssenkrupp Steel bricht mit einer historischen Tradition und hinterlässt bei Gnatowski einen Kulturschock.
Gnatowski arbeitete am Phoenix-See, bevor es ihn gab
Mit 16 fuhr Gnatowski bei Wind und Wetter mit einem Moped und einem Mitarbeiter hintendrauf jeden Tag zum heutigen Phoenix-See. „Mit Jeansjacke, Parker und Helm. Da bin ich nass auf der Arbeit angekommen“, erinnert er sich an seinen täglichen Arbeitsweg vor fast 50 Jahren: „Wenn ich heute am Phoenix-See bin, denke ich immer daran, wie ich ins Werk gegangen bin.“

Gnatowskis Vater war selbst Bergmann in Dortmund, seine Mutter kümmerte sich als Hausfrau um die Kinder. Detlef Gnatowskis Geschichte ist eine, die für das Ruhrgebiet nicht beispielhafter sein könnte. Als er bei Hoesch anfing, arbeiteten noch 15.000 Menschen für den Stahlhersteller in Dortmund. Heute arbeiten auf der Westfalenhütte noch 1400 Mitarbeiter, die den Stahl aus Duisburg für die Autoindustrie aufbereiten.
Die abgesagte Zugfahrt steht symbolisch für das, was sich bei Thyssenkrupp Steel aus Sicht der Arbeiter mit dem Antritt von Miguel López als Chef des Mutterkonzerns geändert hat. „Die ganze Kultur hat sich gewandelt“, sagt Gnatowski wehmütig. Früher hätten die Leute noch miteinander gesprochen: „Das war alles familiärer, der Zusammenhalt war anders. Heute hast du kaum noch Zeit und nur noch Druck“, sagt er.
„Der letzte Mohikaner“ bei Thyssenkrupp
Als mit Beginn der Coronakrise 2020 Thyssenkrupp ein Stellenabbau-Programm beschließt, verlassen viele Kollegen den Betrieb, mit denen Gnatowski ausgebildet wurde. Er sagt: „Ich bin hier der letzte Mohikaner. Ich gehe auch mit einem weinenden Auge.“ Die Arbeit als Betriebsrat gibt ihm in den vergangenen Jahren viel Halt. Er hilft geschundenen Kollegen, Anträge für die Altersteilzeit zu stellen und bekommt dafür Donuts oder Baklava als Dank: „Das waren die Highlights“, sagt er.
Und auch die schweren Momente verbinden sein Leben mit Thyssenkrupp. Vor 23 Jahren saß er in einer Betriebsversammlung, als seine krebskranke Mutter ins Koma fiel: „Ich hatte mein Handy aus, als sie dann Koma gefallen ist. Ich konnte nicht mehr mit ihr sprechen.“ Sein Vater, der Bergarbeiter, ist heute 92, lebt in einem Haus, um das sich Gnatowski und sein Bruder kümmern.
Es sind diese Geschichten, die verdeutlichen, warum die historische Zugfahrt so eine Bedeutung für ihn hat: „Ich habe mich darauf gefreut. Es wäre eine schöne Erinnerung und eine Wertschätzung für das Auf und Ab gewesen.“ Es geht um sein Lebenswerk. Er steht exemplarisch für die Historie Dortmunds im Ruhrgebiet. Die abgesagte Zugfahrt lässt den treuen, aufmüpfigen Arbeiter an den Grundsätzen zweifeln: „Was ist so eine persönliche Unterschrift von einem Vorstand noch wert?“, fragt er.
Gnatowski: „Ich kann sagen, was ich denke“
Und die Absage, sie kam nicht einmal von den Vorständen selbst, die ihn eingeladen hatten. Gnatowski sagt: „Wahrscheinlich wissen die Vorstände nicht mal, dass das abgesagt wurde.“ Wahrscheinlicher ist zwar, dass sie es wissen und selbst entschieden haben. Doch der Satz verdeutlicht, wie bitter die Erfahrung auf den letzten Metern seiner 51-jährigen Unternehmensreise ist.

Und die Unternehmensführung? Ein Sprecher des Unternehmens sagt: „Für das 50. Dienstjubiläum wurde seit wenigen Jahren zu einer historischen Zugfahrt inklusive Mittagessen eingeladen. Im Zuge nochmals verschärfter Sparmaßnahmen, musste diese Fahrt, die wir bislang dreimal durchgeführt haben, abgesagt werden.“
Grundsätzlich ist Gnatowski aber nicht unglücklich. Er liebt das Motorradfahren. Er hat zwei Kinder, drei Enkelkinder, viele Freunde. Auch wenn er 2025 in Rente geht, dann bleibt er dennoch Arbeiter, Gewerkschafter und auch eine lebende Legende des Dortmunder Dreiklangs: „Ich schaue nicht mit Zorn zurück. Ich habe meinen Job hier gerne gemacht, auch wenn es oft schwere Zeiten gab. Und ich bin in der glücklichen Lage, dass ich sagen kann, was ich denke.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 15. März 2025.
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