
© Nils Foltynowicz (Archivbild)
Neonazi mit Waffenarsenal: Polizei erinnert an Morde in Dortmund und Waltrop
Jahrestag
Am 14. Juni 2000 hat ein Dortmunder Rechtsextremist drei Polizeikräfte erschossen. Bezüge zur Terrorgruppe NSU wurden geprüft - in der Geschichte von Michael Berger bleiben Fragezeichen.
„Wir gedenken unserer Kollegin Ivonne Hachtkemper sowie unserer Kollegen Matthias Larisch von Woitowitz und Thomas Goretzky, die vor 22 Jahren von einem Neonazi ermordet worden sind.“ Mit diesen Worten erinnert die Polizei Recklinghausen an die Amokfahrt von Michael Berger.
Der folgende Text ist erstmals im September 2020 erschienen:
Ein Gurt-Sünder, denken Nicole Hartmann und Thomas Goretzky. Die Polizeimeisterin und der Kommissar sind mit ihrem Streifenwagen an diesem Vormittag in Brackel unterwegs, gerade haben sie einen Blechschaden aufgenommen.
Sie wenden, um den silberfarbenen BMW 325 einzuholen. Doch der nicht angeschnallte Fahrer liefert ihnen eine Verfolgungsjagd quer durch den Stadtteil. Im Unteren Graffweg stoppt der BMW abrupt und bleibt am linken Fahrbahnrand stehen.
Auffällig: Der Motor läuft weiter. Goretzky steuert sein Fahrzeug rechts neben den anhaltenden Sportwagen, senkt die Seitenscheibe und fordert den Fahrer auf, den Motor abzustellen. Der zieht eine Pistole, feuert fünf Schüsse auf die Beamten und gibt Gas. Thomas Goretzky, von vier Kugeln getroffen, stirbt am Tatort.

Ein Archivbild aus dem Jahr 2000: In diesem Fahrzeug wurde Bergers Leiche gefunden. © dpa
Nicole Hartmann lässt sich aus der Beifahrertür fallen. Sie überlebt. Sie hat einen Schuss in den Oberschenkel erhalten und kann die Leitstelle über das Geschehen der letzten vier Minuten informieren. Dort geht ihr Notruf um 9.49 Uhr ein. Es ist der 14. Juni 2000.
Selbstmord im Wald
Der Mann, der gefeuert hat, heißt Michael Berger. Nach den Schüssen im Unteren Graffweg steigert sich der 31-Jährige in einen Blutrausch. Er wird in den nächsten Stunden in Waltrop zwei weitere Polizeibeamte ermorden und sich in einem Waldstück nahe Nordkirchen selbst richten. Für die Arbeit der Fahnder bedeutet sein Tod formal einen baldigen Schlussstrich. Gegen Tote wird nicht weiter ermittelt. Doch sie ahnen: Das kann so einen Fall nicht klären.
Zwei Jahrzehnte später ist eine Kernfrage immer noch offen: Wer war dieser Dreifach-Mörder? Ein psychisch Kranker, der selbst nicht kontrollieren konnte, was er tat? Ein verwirrter Rechtsextremer, Waffennarr und Uniformhasser, aber Alleintäter? Oder doch jemand, der mal locker, mal fester eingebunden war in eine radikalisierte, terroristische und neonazistische Untergrund-Truppe, die in Deutschland angriff, ohne auf dem Radar der Sicherheitsbehörden zu erscheinen?
Zudem: Es gibt einen vagen, aber nicht mehr beweisbaren Verdacht. Berger könnte acht Jahre vorher einen weiteren Mord verübt haben – an einem Soldaten mitten in einer Kaserne. Auch ein Uniformträger.
Er darf nicht entkommen
Kurz vor zehn am 14. Juni 2000. Nach dem Mord am Unteren Graffweg hat die Bezirksregierung Arnsberg die Ringfahndung für den Großraum Dortmund ausgelöst. Der Polizistenmörder darf nicht entkommen. Kontrollpunkte werden errichtet.
Ein Kontrollpunkt liegt jenseits der Stadtgrenze in Waltrop an der Ecke, an der die Borkener in die Oberlipper Straße mündet. Polizeiobermeisterin Ivonne Hachtkemper und Polizeimeister Matthias Larisch von Woitowitz von der Dattelner Wache warten im Auto am Fahrbahnrand.
Um 10.29 Uhr stoppt ein BMW neben ihrem Streifenfahrzeug, obwohl die Ampel für den Fahrer Grün zeigt. Der Fahrer ist Michael Berger. Vom Tatort in Brackel kommend muss er getankt und an der Tankstelle Alkohol gekauft haben, wie später rekonstruiert wird. Jetzt zieht er erneut die Pistole Kaliber neun. Er zielt auf die Schädel der Polizeibeamten, schießt drei mal und trifft.
„Blutüberströmt“
Helmut Schwenzfeier, einer der ersten Zeugen: „Blutüberströmt“ seien die beiden Beamten gewesen. Bei dem Mann habe er noch Puls gespürt. Der erste alarmierte Polizist, der am Tatort erscheint, ist – ein fürchterlicher Zufall – der Ehemann von Ivonne Hachtkemper. Er begleitet seine schwer verletzte Frau ins Krankenhaus. Larisch von Woitowitz wird im Hubschrauber abtransportiert. Für beide kommen die Rettungseinsätze zu spät. Sie sterben in der Klinik.
Der letzte Akt des Wahnsinns: Ein Spezialkommando findet abends an einer Landstraße im münsterländischen Olfen das Fluchtfahrzeug. Bergers Leiche hängt über dem Lenkrad. In der rechten Schläfe klafft ein Einschussloch. Auf dem Kofferraum klebt der Spruch: „Tötet sie alle, Gott wird seine Wahl treffen“.

Dieser Aufkleber zierte Bergers Auto (Archivbild aus dem Jahr 2000). © dpa (Archiv)
Über dem Handschuhfach finden sie ein totenkopfverziertes Schild mit der Aufschrift „Meine Ehre heißt Treue“, dem Koppel-Spruch der SS. In der Hosentasche des Selbstmörders stecken ein Hitler-Bild, ein NPD-Mitgliedsausweis und eine Visitenkarte mit „Nationaler Widerstand Dortmund“ und „Kameradschaft Dortmund“. In der Stadt jubelt die rechte Szene: „3:1 für Deutschland“. Sie bekennt auch: „Er war einer von uns“.
Mutter tötete sich selbst
Michael Berger, geboren in Lüdinghausen, wohnhaft in Dortmund-Körne, Körner Hellweg 33, gelernter Bürokaufmann, Zeitsoldat bei der Bundeswehr, arbeitslos nach einer Tätigkeit als Kfz-Mechaniker im gleichen Stadtteil. Ein halbes Jahr nach seiner Geburt hatte die Mutter Selbstmord begangen.

In diesem Haus am Körner Hellweg in Körne wohnte Michael Berger. In seiner Wohnung entdeckten Polizisten gefährliche Waffen und Dokumente, die auf das rechtsradikale Gedankengut des Schützen schließen ließen. © Nils Foltynowicz (Archivbild)
Bekannt wird, dass er zwei Freundinnen gehabt haben soll. Eine davon habe er bei einem Schäferstündchen mit einem Polizisten erwischt, sagen seine Eltern aus. Die Frau weist das zurück. Die Beziehung mit dem Polizisten liege lange vor ihrer Zeit mit Berger. Aber er habe gesagt: „Wenn ich gehen muss, werde ich so viele Polizisten mit in den Tod nehmen wie ich kann“. War hier ein Motiv?
Auch: Sieben Eintragungen zählt das Bundeszentralregister. Eine Verurteilung wegen Diebstahls in Lünen und Straftaten im Straßenverkehr mit mehrfachem Entzug der Fahrerlaubnis. Am Tattag morgens hatte er das Städtische Klinikum verlassen – hier und in der Psychiatrie Aplerbeck hatte er sich über Wochen behandeln lassen. Leberschäden wegen Arznei- und Alkoholmissbrauch, Depression, Ängste, psychische Probleme. Berger war Konsument der starkwirkenden Arznei Tavor.
Amoklauf ohne Abschiedsbrief
Ungünstige Lebensumstände und medizinische Diagnosen können sich zu einer gefährlichen Mischung addieren. Ist es dieser Mix, aus dem sich ein Amoklauf entwickelte? Die Ermittler haben diesen Eindruck, zumal sie keinen Abschiedsbrief finden.
Der Staatsanwalt schreibt in seine Einstellungsverfügung: „Am naheliegendsten dürfte es sein, dass Berger aus Furcht vor einer Entdeckung seines illegalen Waffenbesitzes und einer vorhandenen depressiven Störung vor der unmittelbar bevorstehenden Polizeikontrolle in Dortmund Angst hatte und daher ausrastete“.
Alleintäter. Kurzschlussreaktion. Solche Begriffe prägen die offizielle Darstellung nach den Taten. Doch es gibt eine andere Seite des Berger, die politische, vielleicht terroristische.
14 Jahre später Thema in Untersuchungsausschuss
Mit der wird sich der Landtag von Nordrhein-Westfalen in einem Untersuchungsausschuss beschäftigen, das allerdings 14 Jahre später. Inzwischen war die Mordserie des NSU an neun Menschen mit Migrationshintergrund und einer Polizistin in Heilbronn aufgeflogen. Mehmet Kubasik, getötet 2006, war ihr Opfer in Dortmund.
Für das Parlament sind zeitliche Zusammenhänge im Jahr 2000 beunruhigend. Ist da eine Verbindungen zwischen dem Mord an Hachtkemper, Larisch von Woitowitz und Goretzky in Dortmund im Juni, einem unaufgeklärten Bombenanschlag auf den S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn im Juli und dem ersten Mord des NSU in Nürnberg im September?
Wollte irgendjemand gar Signale für eine Offensive setzen? 34 der etwa 1100 Seiten des Abschlussberichts zur NSU-Tätigkeit befassen sich mit dem Mörder aus Körne und seinem Umfeld. Wer sie liest, kann sie als Gegenthese zur staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung deuten.
Hass auf Polizisten
Auf diesen 34 Seiten geht es um die rechtsextreme Haltung des Mannes, auch um seinen Hass auf Polizisten. Es ist das sichergestellte Waffenarsenal des Täters aufgelistet, neben Munition und einer Handgranatenattrappe zwei Revolver, zwei Gewehre, eine Pistole, ein Elektroschocker. Eine Kalaschnikow-Maschinenpistole hielt er in der Dachschräge der elterlichen Wohnung versteckt.

In seiner Wohnung entdeckten Polizisten diese gefährlichen Waffen und Dokumente, die auf das rechtsradikale Gedankengut des Schützen schließen ließen (Bild aus dem Jahr 2000). © dpa (Archiv)
Der Bericht beschreibt Drähte Bergers nach Rechtsaußen wie in die „Borker Terror-Szene“. Name und Nummer tauchen in Telefonlisten auf. „20 Personen aus Parteien und anderen Gruppierungen gab es, die Michael Berger nachweislich kannte und zu denen er Kontakte hatte“, zählen die Abgeordneten. Eng hat ihn eine Beziehung mit Sebastian Seemann verbunden. Der bekannte Neonazi wurde 2007 als V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes enttarnt.
Einiges holt der Untersuchungsausschuss über die vier Jahre des Polizistenmörders bei der Bundeswehr ans Licht. Ein „Gordon“, ein Bekannter Bergers aus den Bundeswehrjahren und Engländer, hat ausgerechnet am Tatmorgen um 11.30 Uhr bei seinen Eltern angerufen. Kurze Zeit darauf wird der Anrufer-Anschluss gekappt. Nur eine zufällige zeitliche Parallele?
Mörder von vier Menschen?
Und am 17. Juni, drei Tage nach der Tat, hat das Polizeipräsidium Dortmund einen brisanten Hinweis einer Frau aus Niedersachsen erhalten. Danach könnte Michael Berger nicht der Mörder von drei Menschen sein, sondern von vieren.
Der Hinweis reicht acht Jahre in die Vergangenheit. Die Zeugin berichtet: In der Nacht vom 29. Februar auf den 1. März 1992 habe es einen ungeklärten Mordfall in der Von-Boeselager-Kaserne in Munster gegeben, wo zu dem Zeitpunkt Berger stationiert gewesen sei.

Polizisten am Fluchtfahrzeug (Archivbild aus dem Jahr 2000). © dpa (Archiv)
Ein Soldat war mit einem Kopf- und zwei Brustschüssen getötet worden. Die Tatwaffe: eine Browning, Modell 1910. Es wurden Finger- und Handflächenabdrücke sichergestellt. „Das Polizeipräsidium Dortmund schloss nicht aus, dass Michael Berger die Tat begangen hat“, heißt es 2016 im Abschlussbericht des Landtags. Die Dortmunder hätten deshalb Abdrücke an die Kollegen in Celle zum Abgleich geschickt.
In Celle aber hat man im August 2000 die Spuren aus Dortmund als „für diesen Vergleich nur eingeschränkt geeignet“ bewertet und festgestellt, Berger scheide „als Spurenverursacher aus“. Bedauernd stellen die Landtagsabgeordneten eineinhalb Jahrzehnte später fest: „Eine erneute Abnahme von Vergleichsabdrücken war nicht möglich, weil Michael Berger bereits anonym feuerbestattet war“.
Dortmunder Ermittler kommen nicht gut weg
Die Dortmunder Ermittler kommen nicht gut weg in der Bilanz der Abgeordneten. Nötige Zeugenbefragungen seien zwischen Staatsschutz und Mordkommission hin- und hergeschoben, auch die vierte Mordspur nicht weiter verfolgt worden. Vor allem: „Weder der Name Sebastian Seemann noch die anderen aktenkundig rechtsextremen Kontakte, die Michael Berger offensichtlich hatte, veranlassten die Mordkommission beim Polizeipräsidium Dortmund zu weiteren Recherchen in der rechtsextremen Szene“.
Die Politiker haben am Ende keinen Zusammenhang herstellen können zwischen Bergers Taten und denen des NSU. War Berger wie Seemann ein V-Mann der Verfassungsschützer? Auch dazu: Kein Ergebnis. Dass Michael Berger kein Einzeltäter war, sondern die Unterstützung von „Kameraden“ hatte oder ihr Mitwissen?
Drähte in die rechte Szene
Alleine Drähte in die Szene zu pflegen, stellt kein Indiz für kriminelles Handeln dar. Und es steht die Einschätzung der Mordkommission im Raum, das Tatmotiv der drei Morde in Brackel und Waltrop liege eher in der Rache eines irgendwann durch einen Polizeibeamten „Gehörnten“. Die NRW-Landesregierung wiederum geht wie die Staatsanwälte von einer „Verdeckungsabsicht“ Bergers aus. Er habe sich in Brackel der Kontrolle entziehen wollen, weil er zu der Zeit wieder ohne Führerschein unterwegs war.
Sind die junge Mutter Ivonne Hachtkemper (34), der zweifache Familienvater Thomas Goretzky (35), der werdende Vater Matthias Larisch von Woitowitz (34) und die schwer verletzte, 2012 früh verstorbene Nicole Hartmann dem Ausrasten eines gekränkten Geliebten oder einer plötzlichen Panikattacke zum Opfer gefallen?
Wurden sie deswegen erschossen oder im Fall Hartmann verwundet? 2002 sind die Asservate vernichtet worden, darunter auch die Blutprobe des Täters. Dass der Todesschütze andere Motive hatte, politische vielleicht – dafür gibt es heute genauso wenig einen Beweis wie für das Gegenteil.
Ungeklärte Dortmunder Verbrechen
Bundesweit arbeiten Justiz und Polizei hunderte ungeklärte Kriminalfälle auf. Neue Techniken wie die Auswertung von DNA-Spuren und die Operative Fallanalyse, das so genannte Profiling, helfen dabei. Und manchmal, sehr spät, wollen sich sogar Tatzeugen erinnern. In dieser Serie berichten wir in lockerer Folge über bisher nie gelöste Dortmunder Vorgänge.Dietmar Seher hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel, als Politikchef der Sächsischen Zeitung und in der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau gearbeitet. Er wohnt in Dortmund.