
© Nils Foltynowicz
Viertes Mordopfer von Dortmunder Neonazi? Fall wird neu aufgerollt
Polizistenmörder Michael Berger
Erschoss der dreifache Dortmunder Polizistenmörder Michael Berger ein viertes Opfer? In Niedersachsen nehmen die Behörden einen seit 30 Jahren ungeklärten Mordfall erneut unter die Lupe.
Eine Bundeswehrkaserne. Eine Nachtwache. Eckehard Dell ist 21 Jahre alt und Obergefreiter. Er hat den Dienst für einen Kollegen übernommen. Morgen ist Sonntag, viel ist nicht los.
Irgendwann zwischen 22 Uhr und sechs Uhr früh muss jemand am Tor zu Block 57 geklopft haben. Dell muss geöffnet haben. Vielleicht hat er seinen Mörder noch gesehen. Der Besucher gibt mit einer Browning drei gezielte Schüsse ab, zwei in Dells Brust, einen in den Kopf. Der Soldat ist sofort tot. „Der Kopfschuss hat wichtige Teile des Gehirns zerstört“, wird der Staatsanwalt tags darauf sagen. Auch: „Wir gehen davon aus, dass der Mörder sein Opfer kannte“.
Fall wird neu aufgerollt
Niedersächsische Polizeibehörden rollen derzeit diesen 30 Jahre alten, mysteriösen und nie geklärten Mordfall bei der Bundeswehr auf. Tatzeit war die Nacht vom 29. Februar auf den 1. März 1992, Tatort die Hindenburg-Kaserne in Munster im heutigen Heidekreis.

Der Bericht des Hamburger Abendblattes über den Mord an dem Soldaten Eckehard Dell © Dietmar Seher
„Wie eine Hinrichtung“ sei das gewesen, sagten die Ermittler damals. „Derzeit werden die Akten von der Polizeiinspektion Heidekreis erneut auf neue erfolgversprechende Ermittlungsansätze geprüft“, bestätigte Staatsanwältin Stefanie Wiechmann von der Staatsanwaltschaft Lüneburg in diesen Tagen.
Zusammenhang zu Dortmunder Polizistenmord?
Brisant an diesem Verbrechen: Der Kasernenmord in Niedersachsen 1992 könnte in einem Zusammenhang mit dem dreifachen Polizistenmord im Ruhrgebiet am 14. Juni 2000 stehen, der damals bundesweites Aufsehen erregte.

Archivbilder der von Berger ermordeten Polizeibeamten Yvonne Hachtkemper, Thomas Goretzki und Matthias Larisch von Woitowitz (v.l.). © picture-alliance / dpa
An dem Tag tötete der Dortmunder Neonazi Michael Berger drei Streifenbeamte bei Verkehrskontrollen im Dortmunder Stadtteil Brackel und dann, keine Stunde später, in Waltrop im Kreis Recklinghausen. Am selben Abend nahm er sich das Leben.
Auf dem Kofferraum des BMWs, in dem man seine Leiche im südlichen Münsterland fand, konnten die Ermittler einen Aufkleber lesen: „Tötet sie alle. Gott wird seine Wahl treffen“.

Ein Aufkleber "Töte sie alle ........ Gott wird seine Wahl treffen" klebt auf dem Fahrzeug, in dem sich Michael Berger erschossen hat. © picture-alliance / dpa
Erster Zusammenhang mit Michael Berger
Drei Tage nach dem gewaltsamen Tod der Streifenbeamten Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkämper und Matthias Larisch von Woitowitz in Dortmund und Waltrop ging bei der Polizei der Ruhrgebietsstadt der Anruf einer Frau ein. Sie sagte, 1992 habe es in einer Kaserne in Munster einen ungeklärten Mord gegeben. Der Polizistenmörder Michael Berger sei dort zu gleicher Zeit stationiert gewesen. Recherchen der Dortmunder Berger-Ermittler fanden die Angaben der Frau bestätigt.
Doch ein Abgleich von Finger- und Handabdruckspuren Bergers mit den am Tatort in Munster gesicherten Spuren beim Landeskriminalamt Niedersachsen führte in eine Sackgasse. „Nach dem Untersuchungsergebnis waren die Fingerspuren des Michael Berger für einen Vergleich zwar nur eingeschränkt geeignet, sie waren aber ausreichend, um Michael Berger als Verursacher für die am Tatort gesicherten Spuren auszuschließen“, so Staatsanwältin Wiechmann zu unserer Redaktion.
Behörden in Niedersachsen sehen keinen Zusammenhang der Taten
Niedersachsens Behörden sehen auch heute noch keine Zusammenhänge zwischen den Tötungsdelikten im Ruhrgebiet und Munster. Hinweise auf eine mögliche Täterschaft des Michael Berger hätten sich im Zusammenhang mit dem Mord am Obergefreiten Dell in Munster „bisher nicht ergeben“, so die Lüneburger Staatsanwaltschaft.
Könnte sich das ändern, wenn der Mordfall Dell neu aufgerollt wird? Gibt es neben dem Anruf andere Indizien, wonach Berger für einen vierten Mord verantwortlich war? Er war Waffennarr. In seinem Fahrzeug und einer Dachkammer wurden neben zwei Revolvern, zwei Gewehren, einer Pistole und einem Elektroschocker eine Maschinenpistole gefunden.

Die Dortmunder Kriminalpolizei zeigt die Waffen, die in der Wohnung des 31 Jahre alten Michael Berger sichergestellt wurden. © picture-alliance / dpa
Anders als die Niedersachsen haben ihre nordrhein-westfälischen Kollegen nach den Morden in Dortmund und Waltrop auch eine Täterschaft im Soldatenmord acht Jahre zuvor für möglich gehalten.
Polizei Dortmund schließt Zusammenhang der Taten nicht aus
Nicht nur, dass der Polizistenmörder bis 1995 in Niedersachsen gewohnt hatte. In Protokollen des nordrhein-westfälischen Landtags aus dem Jahr 2017 mit Bezug auf den Tod des aus Hannover stammenden Obergefreiten heißt es wörtlich: „Das PP (Polizeipräsidium) Dortmund schloss nicht aus, dass Michael Berger die Tat begangen hat“.

Staatsanwalt Heiko Artkämper, die Recklinghäuser Polizeipräsidentin Ursula Stiegelmeyer und der Dortmunder Polizeipräsident Hans Schulze (v.r.) geben in einer Pressekonferenz in Dortmund erste Ermittlungsergebnisse zum dreifachen Polizistenmord bekannt. © picture-alliance / dpa
Die Hintergründe der tödlichen Schüsse in Dortmund und Waltrop wurden 2017 erstmals intensiv durchleuchtet. Ein Untersuchungsausschuss des Landtags befasste sich mit den zehn Morden des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ NSU.
Brisante Zeugenaussage im NSU-Prozess
Auf über 32 Seiten des 1100 Seiten starken Ausschussberichts ging es um die politischen Verbindungen Michael Bergers in die militante rechte Szene, um mögliche Kontakte zum NSU-Trio Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos und eben um die Polizistenmorde von Juni 2000.
In diesem Zusammenhang wurde auch die Zeugin Claudia Me. befragt, die in seiner niedersächsischen Zeit über zehn Jahre eine Beziehung mit dem späteren Dortmunder Neonazi geführt hatte. „Er hatte einen immensen Hass auf, ja, die Polizei“, sagte sie vor dem Untersuchungsausschuss aus. Vielleicht sei es ihm nicht einmal konkret „um die Polizei gegangen, sondern allgemein um Ordnungshüter“.
Berger war bei der Bundeswehr auffällig geworden
Er habe auch bei der Bundeswehr „massive Schwierigkeiten wegen disziplinarischer Angelegenheiten“ gehabt und sei nach ihrer Kenntnis „eine Zeitlang in einem bundeswehrinternen Gefängnis“ gewesen und unehrenhaft aus den Streitkräften entlassen worden. Aus Unterlagen des Hamburger Bundeswehr-Krankenhauses geht außerdem hervor, dass er dort 1991 „wegen reaktiver Depression in Folge strafrechtlicher Vorwürfe“ behandelt wurde.
Laut NRW-Landtagsbericht reichen weitere Auffälligkeiten in die Bundeswehrzeit des dreifachen Polizistenmörders. In seinen Sachen wurde ein fremder Truppenausweis gefunden, der nicht mehr zugeordnet werden kann.
Und gegen 11.30 Uhr am Morgen des 14. Juni 2000, kurz nach dem Amoklauf Bergers gegen die Polizeistreifen, rief ein „Gordon“ bei seinen Eltern an, der sich als Engländer und ehemaliger Bundeswehrkamerad vorstellte. Die Handy-Nummer des Anrufers war auch auf dem Mobiltelefon Bergers gespeichert. Drei Wochen später wurde die Nummer deaktiviert. Kritisch wurde im Landtagsbericht angemerkt: Die Polizei ging diesem Hinweis nie nach.
Motive Bergers bis heute umstritten
Ob Bergers Motive für den dreifachen Polizistenmord politisch begründet, auf psychische Erkrankungen zurückzuführen oder nach sieben Eintragungen ins Bundeszentralregister wegen Verkehrsdelikten und Körperverletzungen auf Hass oder Ängsten im Zusammenhang mit Uniformträgern aufgebaut waren, bleibt bis heute umstritten.

Polizeibeamte stehen um das Fahrzeug, in dem sich Michael Berger erschossen hat. © picture-alliance / dpa
Die Dortmunder Staatsanwaltschaft ging nach dem Dreifachmord davon aus, dass es „am naheliegendsten sein dürfte, dass Berger aus Furcht vor einer Entdeckung seines illegalen Waffenbesitzes und einer vorhandenen depressiven Störung vor der unmittelbar bevorstehenden Polizeikontrolle in Dortmund Angst hatte und daher ausrastete“.
Erneuter Fingerabdruck-Abgleich nicht möglich
Für NSU-Kontakte fand der NRW-Landtag keine Belege. Ein zweiter Abgleich der Fingerabdrücke Bergers mit den Spuren in der Kaserne in Munster fand nie statt. Er war nicht möglich, weil seine Leiche bereits anonym eingeäschert war, als das etwas widersprüchlich klingende Ergebnis des ersten Tests im August 2000 mit dem Hinweis auf eine nicht ausreichende Spurenqualität in Dortmund einging.
Bei der aktuellen Überprüfung des Soldatenmordes von 1992 müssen die Ermittler in Niedersachsen ganz von vorne anfangen. „Derzeit liegen keine näheren Informationen über einen möglichen Täter oder Täterkreis vor“, sagt die Lüneburger Staatsanwältin Stefanie Wiechmann.
Dietmar Seher hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel, als Politikchef der Sächsischen Zeitung und in der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau gearbeitet. Er wohnt in Dortmund.