An der Zipsstraße in Eving ereignete sich die Tat.

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Brutaler Doppelmord in Eving: War es eine Frau?

rnSerie Ungeklärte Dortmunder Verbrechen

2008 sterben zwei Frauen in einem Haus in Dortmund-Eving - brutal ermordet. Nie wurden die Täter gefunden. Doch Experten des Landeskriminalamtes haben eine überraschende These entwickelt.

Dortmund, Eving

, 17.01.2021, 06:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

In Sackgassen ist es ruhig. Nachts vor allem. Schreie sind dann besonders vernehmbar. So wurden in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 2008 gleich vier Nachbarn in einer kleinen Seitenstraße in Dortmund-Eving von Schreien geweckt.

Das war nach deren übereinstimmender Aussage irgendwann zwischen 3.23 und 3.30 Uhr. Besonders lange waren die Laute nicht zu hören. Die Nachbarschaft schlief schnell wieder ein und wunderte sich nur am Morgen. Das Dachfenster bei Frau Chadt, sonst immer offen, war geschlossen.

Roswitha Chadt, 59, ist in dieser Frühsommernacht in der Zipsstraße 15 das Opfer eines fürchterlichen Verbrechens geworden. Der Täter hat 46 mal, wahrscheinlich mit einem scharfen Schlitzschraubendreher aus dem Bestand der Wohnung, auf sie eingestochen, bis sie tot war.

Die Mutter starb eine Etage tiefer

Eine Etage tiefer starb auch ihre Mutter Edith Schulze, 85. Bei ihr sprachen die Gerichtsmediziner später von einem „Würgen“, aber auch von „zusätzlichen Bedeckung der Halsweichteile und der Atemöffnungen“. In der Sprache der Ärzte war die Todesursache ein „äußeres Erstickungsgeschehen“.

Zwölf Jahre liegt das zurück. Der Doppelmord von Eving ist bis heute nicht aufgeklärt. Oberstaatsanwalt Henner Kruse, jetzt Sprecher der Dortmunder Anklagebehörde, war damals selbst mit den Ermittlungen befasst. Er ist überzeugt: „Einiges spricht dafür, dass die Tötung der beiden Frauen nicht geplant war“. Das Ziel des oder der Täter war mutmaßlich anders: Viel Geld.

An der Zipsstraße in Eving ereignete sich die Tat.

An der Zipsstraße in Eving ereignete sich die Tat. © Oliver Schaper

Frühjahr 2008. Roswitha Chadt, die getrennt vom Vater ihres Sohnes in Obereving lebt, will das Zweifamilienhaus renovieren. Türen und Fenster sollen erneuert werden. Sie beauftragt den Schreiner Pfefferkuch aus dem Stadtteil. Am 10. April hebt sie 30 000 Euro von ihrem Konto bei der Postbank ab. Ein Drittel davon gibt sie ihrem Sohn Thomas. Den restlichen Betrag – je 10 000 Euro - verteilt sie auf Verstecke im Heizungskeller und in Keramiktöpfen in der ersten Etage.

Leichtfertig Informationen preisgegeben

Doch so sorgfältig die Frau beim Verstecken vorgeht, so leichtfertig erzählt sie davon: Chadt ist Stammgast im Kleingartenlokal „Stübchen“. Zeugen werden später aussagen, dass sie unter Alkoholeinfluss am Tresen mit der Summe geprahlt habe. In Geschäften wie der Reinigung Drews, ja, in der „halben Siedlung“ sei die Haus-Finanzierung Gesprächsstoff gewesen.

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Thomas Chadt, der Sohn der 59-Jährigen, hat die Leichen seiner Mutter und seiner Großmutter entdeckt. Das war gegen 10 Uhr am 28. Juni, einem Samstag. Er plante, tags darauf mit seiner Frau und der Tochter nach Ägypten in den Urlaub zu fliegen. Vorher wollte er bei Mutter und Oma Kartoffeln und Sprudelwasser vorbeibringen und den Rasen mähen. Als auf sein Schellen hin niemand öffnete, lief er um das Haus herum und stieg über ein geöffnetes Schwingfenster in den Wintergarten der Parterrewohnung.

Edith Schulze lag tot im Schlafzimmer-Bett, Roswitha Chadt blutüberstömt auf der Treppe zwischen Obergeschoss und Dachboden. Schubladen und Schränke in allen Etagen waren geöffnet und durchwühlt. Die 10 000 Euro aus den Keramiktöpfen waren nicht mehr da, die anderen 10 000 im Keller jedoch unangetastet. Thomas Chadt bat einen Nachbarn, die Polizei zu verständigen.

Vieles spricht gegen Bandenkriminalität

Wer kann es auf das Geld abgesehen haben? Immer noch stellen sich die Ermittler diese Frage. Henner Kruse, der Oberstaatsanwalt, ist vorsichtig, wenn die bekannten „osteuropäischen Banden“ ins Gespräch kommen. Tatsächlich hat es damals solche Fälle gegeben, und in der Mordnacht nicht weit vom Haus Schulze/Chadt wurde ein Einbruchsversuch festgestellt, meldeten Zeitungen. Aber Kruse fragt: Würden Banden-Profis wirklich ein Gebäude am Ende einer Sackgasse als Objekt wählen, obwohl die Lage einen freien Fluchtweg erschwert?

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Dazu kommt: Die Zipsstraße ist extrem kurz und schwer zu finden. Sie liegt in einem Geflecht anderer kleiner Wohnstraßen, wie es oft bei bürgerlichen Vierteln ist - und weit weg von der nächsten deutschen Autobahn, die Osteuropas Banden erfahrungsgemäß als Fluchtrouten schätzen.

Der oder die Täter haben vom Geld gewusst und das Haus gekannt. Dieser Satz wird Mitte 2008 zur These der Dortmunder Fahnder. Sie schalten das Landeskriminalamt in Düsseldorf und die Münchner Rechtsmedizin ein. Das LKA NRW legt Ende August eine Profiler-Analyse vor, die den Ablauf in der Todesnacht von Eving rekonstruiert:

Alle Leitungen gekappt

Den Einstieg der Täter durch das gekippte Schwingfenster an der Gebäuderückseite. Das Kappen aller Telefon- und Notrufleitungen, die ein Alarmieren möglich machen. Das Öffnen der Schränke im Wohnzimmer, das die 85-jährige Edith Schulze aufweckt. Als die gehbehinderte, an Parkinson leidende Frau aufstehen will, erfolgt der tödliche „Angriff auf den Hals“, wie das LKA berichtet.

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Das Obergeschoss wird zur Todesfalle für die Tochter. Die Eindringlinge finden die 10 000 Euro in den Töpfen. Und obwohl sie jetzt eine hohe Summe mitnehmen können, suchen sie weiter. Sie müssen, schlussfolgern die Profiler, von weiteren Barbeträgen wissen, als Roswitha Chadt wach wird und sich wehrt. Sie schreit.

Die Schreie soll niemand hören

Die Täter schließen schnell das eigentlich immer offene Dachfenster. Die Schreie soll keiner hören. Noch im Bett erleidet die Frau Stiche mit dem Schraubendreher in den Hals. Sie flüchtet, als auf der Treppe vier Mal in ihre Lunge und bis zu 14 Zentimeter tief in die Herzgegend gestochen wird. Auch Roswitha Chadt überlebt nicht.

Wer richtete dieses brutale Blutbad in der Zipsstraße in Eving an? Die Spurensicherung hat weder Tatwerkzeug noch Fingerabdrücke gefunden. Doch da sind zwei DNA-Spuren. Die eine im Treppenhaus: die eines Mannes. Die andere die einer Frau. Diese DNA haftet am Hals der erwürgten Edith Schulze.

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Elf Verdächtige werden in den Monaten und Jahren nach der Tat befragt. Familienangehörigen sind darunter, einige mutmaßlich mit Geldsorgen. Lässt sie das zu Tätern werden? Zwei junge Männer wurden in der Tatnacht nahebei auf einem Motorroller gesehen. Stiegen sie in die Wohnungen ein und töteten zwei Unschuldige, um sich zu bereichern? Ein Betrunkener soll in der Nachbarschaft in einem Zelt übernachtet haben.

Fall bei „Aktenzeichen XY Ungelöst“ im ZDF

Er hat die Tat abgestritten und ein Alibi. Da ist der Kreis derjenigen, die durch die Offenheit der ermordeten Roswitha Chadt von immerhin 30.000 versteckten Euro erfahren haben – Kunden, Wirtshaus-Gäste, Stadtteilbewohner. Die Ermittler können ihn kaum eingrenzen. Jahre später sendet das ZDF den Fall in der Fahndungssendung „XY Ungelöst“. Nur wenige Hinweise gehen ein. Keiner hat weitergeholfen.

Bleiben die DNA-Spuren. Für sie hat sich in der Analysedatei des Bundeskriminalamtes, DAD genannt, kein Gegenstück gefunden, das einen bereits straffällig gewordenen Täter identifizieren könnte. Doch ganz hilflos haben die beiden DNA-Funde die Fahnder auch nicht zurückgelassen.

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Die Fallanalytiker des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes haben damals aufgrund der Gen-Spuren und der Situation am Tatort ein Täterprofil gezeichnet. Sie haben einen spannenden Verdacht geäußert. Danach könnte der Täter auch alleine gehandelt haben. Er könnte Geldsorgen gehabt haben. Er könnte über Kenntnisse der Notrufeinrichtung von Edith Schulze verfügt haben, die ausgeschaltet wurde. Und: Der Täter könnte kein Er, sondern auch eine Sie gewesen sein.

Fall liegt wieder beim Landeskriminalamt

Die Spur am Hals von Edith Schulze spricht dafür. Eine kräftige Frau mit entsprechender körperlicher Verfassung? Eine solche Alleintäterin sei nicht auszuschließen, steht im ersten Bericht der Experten aus Düsseldorf. Heute liegt der Fall wieder beim LKA. Das Landeskriminalamt arbeitet alte Akten, die Cold Cases, auf.

Vielleicht gibt es ja die seltene Überraschung. Doch ob ein Täter oder zwei, Mann oder Frau: Wer immer im Juni 2008 getötet und geraubt hat, scheint wohl nah dran gewesen zu sein an der Familie oder der Bekanntschaft.

SERIE

UNGEKLÄRTE DORTMUNDER VERBRECHEN

Bundesweit arbeiten Justiz und Polizei hunderte ungeklärte Kriminalfälle auf. Neue Techniken wie die Auswertung von DNA-Spuren und die Operative Fallanalyse, das so genannte Profiling, helfen dabei. Und manchmal, sehr spät, wollen sich sogar Tatzeugen erinnern. In dieser Serie berichten wir in lockerer Folge über bisher nie gelöste Dortmunder Vorgänge.
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