
© Stephan Schütze (Archiv)
Mega-Entschärfung im Klinikviertel setzte bundesweit Maßstäbe
Vor einem Jahr
Bomben-Entschärfungen gibt es im Laufe eines Jahres reichlich in Dortmund. Vor genau einem Jahr erlebte die Stadt aber eine besonders spektakuläre Aktion. Die setzte bundesweit Maßstäbe.
Kein Auto weit und breit in den sonst zugeparkten Anwohnerstraßen des Klinikviertels, kein Verkehr auf weiten Teilen des Walls, der Westenhellweg menschenleer - Dortmund hatte am 11. und 12. Januar ein Stadtzentrum im Ausnahmezustand.
Schuld waren Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs. Der Bombenkrieg zwischen 1943 und 1945 hatte nicht nur ein weitgehend zerstörtes Stadtzentrum hinterlassen, sondern auch jede Menge Blindgänger - also Bomben, die nicht gezündet haben und noch immer explosionsbereit im Boden liegen.
Das ist ungefährlich, so lange die Blindgänger nicht angerührt werden. Sobald Bauarbeiten im Umfeld stattfinden, müssen sie entschärft und geborgen werden.
Wo sie liegen könnten, wird im Vorfeld von Bauarbeiten mit alten Luftbildern ermittelt, auf denen die Aufschlagspunkte nach den Bombenangriffen zu erkennen sind. Und genau das war an gleich mehreren Stellen im Klinikviertel und in der City passiert.

An vier Stellen wurden am 11. und 12. Januar 2020 nach Blindgängern geforscht. An zwei Stellen - unter anderem hier auf dem Parkplatz des Sozialamts an der Luisenstraße wurde man tatsächlich fündig. © Oliver Volmerich (Archiv)
Dort hatten die Experten des Kampfmittelbeseitigungsdienstes der Bezirksregierung Arnsberg auf Luftbildern gleich mehrere Blindgänger-Verdachtspunkte ausfindig gemacht und im November 2019 mit Sondierungen - also Bohrungen im Untergrund - näher erforscht.
Vier Verdachtspunkte
Vier Verdachtspunkte blieben danach noch übrig - am Hohen Wall in Höhe Westentor sowie in den Innenhöfen des Sozialamts an der Luisenstraße, des Johannes-Hospitals an der Johannesstraße und des Roten Kreuzes an der Beurhausstraße. Hier sollten die Fundstellen nun freigelegt und mögliche Blindgänger entschärft werden.
Die Aktion war über Wochen akribisch vorbereitet worden. Denn aus Sicherheitsgründen mussten das Klinikviertel und ein Großteil der City mit gut 13.000 Anwohnern evakuiert werden - inklusive der großen Krankenhäuser und mehrerer Pflegeheime. Weil die Weihnachtszeit dafür nicht in Frage kam, hatte man sich auf das Wochenende 11. und 12. Januar 2020 festgelegt.
Premiere für Simulationsmodell
Die Besonderheit: Bei der Planung kam ein Simulationsmodell zum Einsatz - „bundesweit zum ersten Mal“, erklärt Ubbo Mansholt als Chef des Kampfmittelbeseitigungsdienstes. Mit Hilfe eines dreidimensionalen Stadtmodells wurden Druckwellen und mögliche Zerstörungen für den Fall einer Bombenexplosion simuliert, abhängig von der Art der Bebauung.
Grundlage war ein Forschungsprojekt, das Wissenschaftler der Uni Freiburg, das Berliner Unternehmen Virtualcitysystems und des Kampfmittelbeseitigungsdienstes initiiert hatten.
Besondere Bedeutung hatten die Erkenntnisse aus der Simulation für die drei Krankenhäuser im Evakuierungsradius. Denn die Verantwortlichen entschieden sich, sie nicht komplett zu evakuieren. Stattdessen wurden viele Patienten „nur“ aus kritischen Bereichen innerhalb der Gebäude verlegt.

Mehrere Pflegeheime, wie hier das Christinenstift, mussten für die Bombenentschärfung geräumt werden. © Oliver Volmerich (Archiv)
Am Ende mussten nur 60 Menschen in andere Krankenhäuser transportiert werden - 20 kleine Patienten aus der Kinderklinik und 40 Patienten aus dem Johannes-Hospital.
Im Klinikum Mitte konnten gut 230 Patienten im hinteren Teil des Gebäudekomplexes bleiben. 65 Patientinnen und Patienten wurden aus dem Haupthaus an der Beurhausstraße ebenfalls dorthin verlegt.
Eine andere Konsequenz der Simulation: Um Druckwellen zu brechen, wurden an an der Luisenstraße und quer über die Beurhausstraße 5,50 Meter hohe Wände aus Containern aufgebaut - auch das eine Premiere für Dortmund.

Zum Schutz vor Druckwellen waren meterhohe Wände aus Containern aufgebaut worden - hier an der Beurhausstraße. © Stephan Schütze (Archiv)
Als Evakuierungsstelle hatte die Stadt die Gesamtschule Scharnhorst eingerichtet, die per U-Bahn gut erreichbar war. Viele Anwohner des Klinikviertels und der City hatten schon aber am Samstag ihre Wohnungen verlassen, waren zu Freunden oder Verwandten gezogen oder hatten einen Kurzurlaub gemacht.

In der Gesamtschule Scharnhorst hatte die Stadt ein Evakuierungszentrum für Anwohner eingerichtet. © Oliver Schaper (Archiv)
Entsprechend schnell lief die Evakuierung, die am Sonntagmorgen um 8 Uhr anlief. Mehr als 370 Ordnungskräfte der Stadt schwärmten aus, um an allen Haustüren zu klingeln. Aber sie trafen nur noch wenige Anwohner an. Gegen Mittag wurden auch der Zugverkehr gestoppt und der Hauptbahnhof geräumt.

Der Dortmunder Hauptbahnhof wurde am Nachmittag des 12. Januar ebenfalls gesperrt. © Stephan Schütze (Archiv)
Am Nachmittag konnten dann die Experten des Kampfmittelräumdienstes in Aktion treten - und bald darauf für zwei Stellen Entwarnung geben. Im Garten des Johannes-Hospitals und am Westentor lagen nur alte Gußleitungen im Boden, die bei magnetischen Sondierungen Alarm gegeben hatten.
An zwei anderen Stellen mussten allerdings die Entschärfer ran. An der Luisenstraße lag in 2,50 Metern Tiefe eine britische 250-Kilo-Bombe. Der ausgebaute Zünder wurde kontrolliert gesprengt.
Im Hof des Deutschen Roten Kreuzes an der Beurhausstraße wurde aus vier Metern Tiefe eine amerikanische 250-Kilo-Bombe zu Tage gefördert und unschädlich gemacht.

Geschafft: Die Experten vom Kampfmittel-Beseitigungsdienst präsentieren an der Beurhausstraße die entschärften Bomben-Blindgänger. © Oliver Schaper (Achiv)
Um 17 Uhr wurden die Sperrungen wieder aufgehoben. Der Zugverkehr am Hauptbahnhof und der U-Bahn-Verkehr rollten wieder an. Noch am Abend wurden die Containerwände abgebaut. Und nach und nach kehrte das Leben in die Straßen den Klinikviertels zurück.
Abzuwarten bleibt, ob Dortmund in diesem Jahr ein ähnliches Szenario, wenn auch in kleinerem Maßstab, droht. Denn Anfang 2021 müssen mehrere Blindgänger-Verdachtspunkte am Ostwall und Schwanenwall erkundet werden. Immerhin: Krankenhäuser wären hier von einer Evakuierung nicht betroffen.
Und vielleicht könnte dann auch wieder das Simulationsmodell helfen. Das kam nach Dortmund auch schon bei einer ähnlichen Entschärfungsaktion in Münster zum Einsatz, berichtet Mansholt. Künftig könnte es bundesweit Standard werden.
Oliver Volmerich, Jahrgang 1966, Ur-Dortmunder, Bergmannssohn, Diplom-Journalist, Buchautor und seit 1994 Redakteur in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten. Hier kümmert er sich vor allem um Kommunalpolitik, Stadtplanung, Stadtgeschichte und vieles andere, was die Stadt bewegt.
