
© Julian Preuß
Mit neun Kindern durch halb Europa: Ukrainische Familie flieht nach Dortmund
Flüchtlinge in Dortmund
Andrej (42), Rita (38) und ihre neun Kinder sind dem Krieg in der Ukraine entkommen. Nun leben sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Derne. Ihr Leben in der neuen Welt hat sich komplett verändert.
Rita sitzt vor einem schmalen Bett aus Metall in einem alten Klassenraum in Derne. Eine rot-weiße Decke liegt auf der dünnen Matratze. Hinter ihr stehen weitere dieser Betten dicht an dicht. Die 38-Jährige Ukrainerin hält ihren einen Monat alten Sohn im Arm. Sie kann wieder lächeln.

Dieses der Redaktion zugeschickte Foto zeigt Rita, wie sie sich mit drei ihrer Kinder in dem ehemaligen Klassenzimmer aufhält. © privat
Noch vor wenigen Tagen lebte die 38-Jährige mit ihrem Mann Andrej und ihren neun Kindern 2300 Kilometer von Dortmund entfernt. In einem kleinen Dorf nahe der ukrainischen Metropole Charkiw. Doch dann griff das russische Militär die Region im Osten des Landes an. Die Großfamilie floh vor den Bomben und Raketen, die Russland seit Ende Februar auf die Ukraine feuert.
Andrej und Rita haben es geschafft, ihre fünf Mädchen und vier Jungs in Sicherheit zu bringen. Von Charkiw kamen sie über Warschau zunächst nach Dortmund-Schüren zu Ivan Gerner.
Der Dortmunder hatte die Busfahrt mitorganisiert. Seitdem kümmert er sich um Andrej, Rita und deren Nachwuchs. Er übersetzt für sie komplizierte Gespräche vom Russischen ins Deutsche und umgekehrt. Zwar ist Ukrainisch die offizielle Amtssprache, aber in einigen Regionen des Landes sprächen trotzdem viele Menschen Russisch. Beispielsweise in Odessa und Charkiw.
Dortmunder bringt Familie in Derne unter
Gerner war es auch, der die Familie an die Unterkunft für Geflüchtete in der „gelben Schule“ vermittelt hat. So wird das ehemalige Gebäude der Dietrich-Bonhoeffer-Grundschule an der Nierstefeldstraße in Derne wegen seiner Fassadenfarbe genannt.
Doch Mathe, Deutsch oder Sachkunde werden in den ehemaligen Klassenzimmern schon lange nicht mehr unterrichtet. Stattdessen betreibt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in dem Gebäude eine städtische Unterkunft für Geflüchtete. Sie ist zum neuen Zuhause von Andrej, Rita und ihren neun Kindern geworden. Das älteste Kind ist 15, das jüngste ist grade mal einen Monat alt.
Schule ist seit 2015 Flüchtlingsunterkunft
Das DRK hat bereits zwischen März 2015 und Ende September 2021 eine Flüchtlingsunterkunft in der ehemaligen Zweigstelle der Dietrich-Bonhoeffer-Grundschule in Derne betrieben. Teilweise haben bis zu 130 Geflüchtete zeitgleich in dem Gebäude und den aufgestellten Wohncontainern gelebt. Im Herbst 2021 hatte die Stadt keinen Bedarf mehr für das Heim gesehen, sagte DRK-Sprecher Klaas Pütschneider damals. Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine ist die Unterkunft in dem ehemaligen Schulgebäude wieder reaktiviert worden.Draußen auf dem alten Schulhof versucht Rita, sich ohne die Hilfe des Übersetzers zu verständigen. Auf Englisch erzählt sie, dass die Familie ein großes Haus besitze. Ländlich gelegen, umgeben von Feldern und Kuhweiden. Zu zweit bzw. zu dritt hätten ihre Kinder dort in verschiedenen Zimmern gewohnt.

Fotos wie diese vermitteln ein Gefühl dafür, wie Geflüchtete in der Unterkunft in Derne wohnen. © privat
Nun schlafen alle Kinder zusammen mit ihren Eltern in einem Raum. Privatsphäre gibt es in dem ehemaligen Klassenzimmer nicht. Lediglich dicke, mausgraue Vorhänge vor den hohen Fenstern können den Raum nachts verdunkeln. Spinde aus Blech stehen an den Wänden. In denen hat die Familie die wenigen Kleider verstaut, die sie noch besitzt.
Haus in der Heimat steht noch
Ob sie ihr Haus in der Nähe von Charkiw jemals wiedersehen werden? Andrej und Rita sehen sich mit fragenden Blicken an. Der 42-Jährige runzelt die Stirn. Beide zucken mit den Schultern. Sie wüssten, dass das Haus noch steht. Allerdings gebe es dort immer wieder Bombenangriffe.
Aktuell muss sich die Familie ein neues Leben aufbauen. Ohne den bescheidenen Komfort, den sich Andrej als Bauarbeiter und Rita als Lektorin erarbeitet haben.
Anstatt im eigenen Badezimmer waschen sie sich nun in den Gemeinschaftsduschen, die es im Keller des ehemaligen Schulgebäudes gibt, berichtet Rita. Im Untergeschoss stünden ebenfalls Toiletten bereit sowie eine Reihe von Waschmaschinen, Trocknern und Herdplatten.
Diese müsse sich die Familie mit derzeit 47 weiteren Geflüchteten teilen. Gemeinschaftliche Aufenthaltsräume seien ebenfalls auf Ukrainisch in kyrillischer Schrift ausgeschildert.
Die Unterkunft in der „gelben Schule“ soll jedoch nur eine Übergangslösung sein. Die Familie sucht eine feste Bleibe, eine Wohnung. Rita erklärt, dass es lediglich Wohnungen für maximal sechs Personen gebe. Zu wenig für die zwei Erwachsenen und neun Kinder.
Kinder „haben keine Sorgen“
Von den Problemen, die ihren Eltern Kopfschmerzen bereiten, bekämen die Kinder wenig mit. „Sie haben keine Sorgen. Sie haben hier Spielzeug und toben ganz in der Nähe auf einem Spielplatz“, übersetzt Gerner.
Allerdings gehen die Älteren nicht zur Schule, die Jüngeren nicht in den Kindergarten. „Das ist ein pures Chaos“, sagt Gerner und ergänzt: „In dieser Woche wird erstmal entschieden, wer die Sprachkurse bezahlt.“
Familie findet Halt in freikirchlicher Gemeinde
Trotz der sprachlichen Barriere gibt Andrej zu verstehen, dass er sich in Derne wohlfühle. Dazu beigetragen habe die Mennoiten-Gemeinde Dortmund. Mitglieder der freikirchlichen Gemeinde versorgen die Familie beispielsweise mit Lebensmitteln oder unterstützen die Eltern bei der Kinderbetreuung.
Als gläubige Christen waren Andrej und Rita ebenfalls stark in ihrer heimischen Gemeinde verwurzelt. Doch die ist für die Familie nun sehr weit weg. Genau wie die russischen Bombardements. Und das ist das Wichtigste für Andrej, Rita und ihre Kinder.
Deshalb findet Rita trotz der Umstände in der Flüchtlingsunterkunft die Kraft zum Lächeln. Denn sie kann ihren Partner und ihre Kinder jederzeit unversehrt in ihre Arme schließen.
Geboren in der Stadt der tausend Feuer. Ruhrpott-Kind. Mag königsblauen Fußball. Und Tennis. Schreibt seit 2017 über Musik, Sport, Wirtschaft und Lokales. Sucht nach spannenden Geschichten. Interessiert sich für die Menschen und für das, was sie bewegt – egal in welchem Ort.