Gibt es ein Muster hinter den Tatorten des NSU?
"Blutzeugen"-Hypothese
Warum starb Mehmet Kubasik 2006 in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße? Eine mögliche Antwort auf diese Frage ist seit einiger Zeit Thema im Düsseldorfer NSU-Ausschuss: In verschiedenen Städten liegen die Tatorte des NSU nahe an Stellen, an denen in den 1930er Jahren SA-Männer starben oder begraben liegen. Sie wurden als sogenannte "Blutzeugen" Helden des späteren Regimes.

Ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) steht vor der Auslandsgesellschaft. In Dortmund tötete der NSU 2006 Mehmet Kubasik.
1930, die Dortmunder Nordstadt als Arbeiterviertel damals eine Hochburg der DKP und damit ein Kampfgebiet für die immer stärker werdenden Nationalsozialisten: Schlägereien, Demonstrationen. In der Nacht zum 6. Dezember fallen Schüsse. Der SA-Mann Adolf Höh wird am Kopf getroffen, einen Tag später stirbt er.
Inzwischen stellt sich die Frage, ob diese Tat mit einem anderen Mord im Jahr 2006 zu tun hat. Mehmet Kubasik, mutmaßlich erschossen am 4. April 2006 vom NSU, starb in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße. Zwischen den Taten liegen knapp 76 Jahre und zwischen den Tatorten nur rund 500 Meter.
Vier Tatorte liegen in der Nähe der Todesorte von "Blutzeugen"
Höhs Tod machte ihn für die Nationalsozialisten zu einem Märtyrer, einem sogenannten „Blutzeugen“ der Bewegung, zwei Straßen wurden nach ihm benannt, auch bekam der Bochumer SS-Sturm 11/30 seinen „Ehrennamen“. Es gab in der Endphase der Weimarer Republik viele gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, Menschen starben. Wer die Auseinandersetzungen im rechten Lager nicht überlebte, wurde "Blutzeuge".
Auffällig ist, dass mindestens drei weitere Tatorte des NSU in der Nähe von Orten liegen, an denen die „Blutzeugen“ starben oder die einen Bezug zu ihnen haben. Neben Dortmund sind das noch München, Kassel und besonders Köln.
Bombenanschlag neben dem ehemaligen "Spangenbergplatz"
Aufgekommen ist die Hypothese öffentlich erstmals im Februar 2016 auf dem Blog NSU-Watch NRW' type='' href='http://nrw.nsu-watch.info/812-2/. Aber auch die Grünen im parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschuss in Düsseldorf hatten sich schon länger mit dem Thema beschäftigt. Sie hatten einen Hinweis bekommen: Auf die Nähe des Todesortes von SA-Mann Walter Spangenberg 1933 zum Tatort in der Kölner Probsteigasse 2001.
Der mutmaßlich vom NSU verübte Bombenanschlag geschah direkt neben dem Hansaplatz. Unter den Nationalsozialisten hieß dieser Platz „Spangenbergplatz“. SA-Mann Spangenberg war 1933 erschossen worden. Bis zu ihrem Verbot nannte sich die Kameradschaft in Köln „Kameradschaft Walter Spangenberg“.
"Kampf um die Straße"
Die These der Blutzeugen wäre erstmals ein greifbares Muster, warum der Nationalsozialistische Untergrund sich bestimmte Tatorte ausgesucht haben könnte. Auch in Dortmund jedenfalls ist der Name Adolf Höh nie vergessen worden: So vermerkte der Verfassungsschutz 2002, dass sich die „Kameradschaft Dortmund“ in „Sturm 11/Adolf Höh“ umbenannt hatte. Es wurden von der hiesigen Szene „Heldengedenken“ veranstaltet, unter anderem 2006.
Was in den 20er- und 30er- Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland geschah, war der sogenannte „Kampf um die Straße“. Die damaligen SA-Leute mischten an vorderster Front mit, sie galten als „politische Soldaten“. Es ist die gleiche Wortwahl, in der führende Rechtsextremisten in Dortmund ihr Tun beschreiben: „Weil wir politische Soldaten sind“.
So zieht sich eine Linie aus der Endzeit der Weimarer Republik bis heute. Die „Blutzeugen“ hatten und haben in der Szene also eine wichtige, weil sinnstiftende Bedeutung und sind dort, wie sich durch Namensgebung und Gedenken belegen lässt, bekannt.
Als sicher gilt inzwischen auch, dass der NSU seine Mordserie nach dem Motto „Taten statt Worte“ ausübte: Es gab keine Bekennerschreiben, die Taten sollten der Szene Zeichen genug sein. Was könnte es für ein besseres Zeichen geben, als die Taten an für die Szene derart geschichtsträchtig aufgeladenen Orten zu begehen?
Signal an die lokalen Neonazi-Szenen
Verena Schäffer, Obfrau der Grünen im Untersuchungsausschuss: „Aus der Hypothese lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Der NSU wurde von Personen aus den lokalen Neonazi-Szenen bei der Tatortauswahl unterstützt, und die Taten sollten aufgrund ihrer symbolischen Aufladung ein Signal an die lokalen Neonazi-Szenen senden.“
Die Grünen sehen einen weiteren engen Bezug zu einem „Blutzeugen“ und einem Tatort in Kassel: Dort wurde am 6. April 2006, nur zwei Tagen nach dem Mord an Mehmet Kubasik in Dortmund, Halili Yozgat hingerichtet. Auf dem Friedhof gegenüber vom Tatort liegt ein Friedhof, dort ist Heinrich Messerschmidt begraben, SA-Mann und ebenfalls „Blutzeuge“ der Bewegung. Der starb seinerseits am 18. Juni 1930 bei einer Straßenschlacht an einer Kneipe namens „Stadt Stockholm“, in der die NSDAP eine Veranstaltung machte.
These soll definitiv in den Abschlussbericht
Weiter starb in München am 29. August 2001 Habil Kilic in München - nur wenige hundert Meter von einem Heldengedenkort der Nationalsozialisten und einem SA-Heim entfernt, ebenfalls benannt nach einem „Blutzeugen“.
Die These soll definitiv in den Abschlussbericht einfließen, der Untersuchungsausschuss in Düsseldorf neigt sich dem Ende zu. Schäffer: „Weitere Recherchearbeiten, insbesondere zu den NSU-Tatorten in anderen Bundesländern, wären interessant. Wenn dort jedoch keine Tatortnähen zwischen Blutzeugen und NSU-Morden nachgewiesen werden können, muss dies nicht zwingend gegen die Blutzeugen-Theorie in Köln, Dortmund und Kassel sprechen.“