Eine Minderheit auf Mehrheitsmission
Ahmadiyya-Muslime in Dortmund
Die Ahmadiyya-Gemeinde will mit einer Kampagne jetzt auch in Dortmund das Bild des Islam neu prägen – im Sinne ihrer freiheitlichen Auslegung der Glaubenslehre.

Die Ahmadiyya nehmen für sich in Anspruch, wie es auf der Webseite heißt, „die unverfälschten Lehren des Islam in ihrer Ursprünglichkeit“ wiederherzustellen. © dpa
Es ist jetzt fast acht Jahre her, dass der damalige Bundespräsident Christian Wulff am Jahrestag der deutschen Einheit diesen Satz gesagt hat: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Eine Aussage wie ein Bollwerk, und ihre Auswirkung ist enorm. Noch heute geistern die fünf Worte omnipräsent durch Talkshows, soziale Netzwerke und Umfragen.
Bundesinnenminister Horst Seehofer kehrte den Satz in einer Rede an seinem ersten Tag im Amt kurzerhand ins Gegenteil um. Es ist dualistisches Denken wie aus dem Bilderbuch, das die Debatte prägt um deutsche Identität und ihre Grenzen, territorial wie kulturell wie religiös.
Doch, und das wird selten im Zusammenhang gesehen, gibt es innerhalb der muslimischen Gemeinschaft genau die gleiche Diskussion: Wer ist gläubiger und im Sinne des Koran rechtschaffener, wer ist also ein „wahrer“ Muslim und wer nicht? Die Frage auf beiden Seiten ist also eigentlich viel größer: Was ist gemeint, wenn von „Deutschland“, wenn von „dem Islam“ die Rede ist?
Kampagne der Ahmadiyya-Gemeinde
Die Ahmadiyya Muslim Jamaat – die Gemeinde der Ahmadiyya-Muslime in Deutschland – hat ihre Antwort gefunden, und sie ist sehr einfach: „Der Islam steht für Freiheit, Frieden, Toleranz und gegen jeglichen Zwang im Glauben.“ So zumindest drückte es Muhammad Ahmad Qamar Din, der stellvertretende Pressesprecher der Glaubensgemeinschaft in einer Pressekonferenz im Ecos Office Center aus.
Dort waren bundesweite und lokale Vertreter – ausschließlich Männer – zusammen gekommen, um über ein großes Vorhaben zu sprechen: Die Ahmadiyya-Muslime wollen in diesen Wochen in einer bundesweit einheitlich choreografierten Kampagne das Bild des Islam in ihrem Sinne neu prägen.
Auch in Dortmund wollen die hier lebenden 125 Mitglieder deshalb rund 2000 Flyer verteilen, mit einem Stand durch die Stadtteile ziehen und einen Informations- und Diskussionsabend veranstalten. Vor Ort und unter einer 24-Stunden-7-Tage-Hotline stehen Imame für Fragen zur Verfügung. Ob die Ahmadiyyas damit wirklich Erfolg haben werden, inmitten der aufgeheizten Debatte, bleibt zu bezweifeln.
Immerhin ist die Ahmadiyya-Gemeinde – als älteste organisierte muslimische Gemeinde im Land – mit ihren laut eigenen Angaben knapp 50.000 Mitgliedern, 225 Gemeinden und über 50 großen Moscheen in Deutschland zwar eine Minderheit unter den Muslimen, aber gut vernetzt und durchaus präsent.
Als zwar wertekonservative aber dennoch freiheitliche Reformbewegung des Islam wird die Gemeinde vonseiten anderer Muslime abgelehnt. In Pakistan, wo die Bewegung ihre Wurzeln hat, dürfen sich ihre Anhänger nicht einmal Muslime nennen. „Würde ich dort den Friedensgruß sprechen, käme ich ins Gefängnis“, sagt Din.
Frauen sollen frei entscheiden
Das Hauptargument: Für die Ahmadiyya-Muslime kann es nach Mohammed weitere Propheten geben. Jesus ist für sie in Form von Hazrat Mirza Ghulam Ahmad (der der Ahmadiyya-Bewegung ihren Namen gab) im Indien des 19. Jahrhunderts ein zweites Mal auf die Erde gekommen. Sie glauben, anders als orthodoxe Muslime, dass Gott auch heute noch zu ihnen spricht statt allein in Form des Koran.
Ob Frauen ein Kopftuch tragen, entscheiden sie selbst. Frauen seien, sagt Din, den Männern gleichwertig und sollten genau so frei über ihr Leben entscheiden. Zudem betont er die Trennung von Staat und Religion, die den Ahmadiyya-Muslimen besonders wichtig sei, „Gewalt und Zwang in Glaubensdingen“ werde „kategorisch“ ausgeschlossen.
Es gibt aber auch Kritik: Die Soziologin Necla Kelek nennt die Ahmadiyya in einem Interview im Deutschlandfunk eine „islamische Sekte“, die den „Koran und auch die Sunna als Allahs Gesetz wortwörtlich“ nehme. Sie teile „die Welt in Gläubige und Ungläubige ein (...), genau wie wir es in diesen erzkonservativen Bewegungen auch sehen.“ Ihre Analyse steht den Angaben des stellvertretenden Pressesprechers Din widersprüchlich gegenüber. Der verneint, als er auf das Thema Missionierung angesprochen wird: „Wir haben keine missionarische Ambition.“ Jedem sein Glaube, jedem seine Freiheit, das sei das Credo. Es gehe darum, „falschen“ Auslegungen des Islam entgegenzutreten und „Vorurteile und Ängste gegenüber dem Islam abzubauen“.
„Man darf den Koran nicht als Lexikon verstehen“
Wo die „falsche“ Auslegung anfange? Da strauchelt Din. „Man darf den Koran nicht als Lexikon begreifen“, sagt er nach einiger Zeit. „Man muss ihn immer im historischen Kontext lesen, darf keine einzelnen Sätze herausreißen.“ Das ist wenig konkret. Am Ende hat die Auslegung der Ahmadiyya den gleichen absoluten Wahrheitsanspruch wie die derjenigen Konservativen, die sie kritisieren: Mirza Ghulam Ahmad habe „die unverfälschten Lehren des Islam in ihrer Ursprünglichkeit“ wiederhergestellt – und als deren Versteher und Verteidiger begreifen sich die Ahmadiyya-Anhänger.

Sie alle sind an der Aktion „Wir sind alle Deutschland“ beteiligt: die Ahmadiyya-Muslime in Dortmund. © Stephan Schütze
Die meisten von ihnen, die in Dortmund leben, kommen aus Pakistan, untereinander sprechen sie Urdu und Deutsch. Ihre Mitglieder sind jedoch auf der ganzen Welt verstreut, als verfolgte Minderheit leben sie in der Diaspora. Ihrer Religion zuzugehören wurde vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 1987 sogar als Grund für den Anspruch auf Asyl anerkannt.
Ihre Situation sei, so schreibt es der französische Religionssoziologe Romain Sèze im Jahr 2015 über Ahmadiyya-Muslime in Frankreich, für ihre Öffentlichkeitswirkung durchaus nützlich: Sie sezten ihren Status als „Minderheit in der Minderheit“ ein, um „im Gegensatz zu den meisten Muslimen in Frankreich eine akzeptable Form des Islam zu vertreten.“
Oder, wie Kelek es ausdrückt, „um ihre politische Agenda durchzusetzen.“ Ahmadiyya, so Sèze, versuchten, „ihr missionarisches Projekt dem französischen Kontext anpassen.“ Oder eben – wie jetzt auch in Dortmund – dem deutschen.
Schwarz-rot-gelbe Flyer
„Wir sind alle Deutschland“ steht auf den Flyern, die Din und die anderen Aktiven der Ahmadiyya-Gemeinde verteilen wollen. Menschen schwenken darauf kleine Deutschland-Fahnen, im Gegenlicht des Sonnenuntergangs sind nur ihre Silhouetten zu sehen. #MuslimeFürDeutschland ist der an die Kampagne gekoppelte Hashtag, soziale Medien nutzt die Gemeinde mit Selbstverständlichkeit. Auf dem Tisch im Konferenzraum liegen Käppis mit dem Spruch „Muslime für den Frieden“, bei der Verabschiedung verschenken sie Taschen mit dem Aufdruck „Liebe für alle. Hass für keinen.“
Ihre Botschaft ist von naiver, beinahe populistischer Einfachheit. Nur: Ist das schlimm in Anbetracht der Tatsache, dass sie eine friedfertige, tolerante und progressive sein will?
Selbst wenn die Ahmadiyya nicht die Mehrheit der Muslime repräsentieren – „der Islam“ sind auch sie. Ein Beispiel: Der Salafismus als ultrakonservative Strömung hatte laut Bundesamt für Verfassungsschutz im Dezember 2017 10800 Anhänger, ein Fünftel der Ahmadiyya-Gemeinde, und nur eine Minderheit der Salafisten gilt als gewaltbereit. Dennoch: „Das von Salafisten verbreitete Gedankengut (bildet) den Nährboden für eine islamistische Radikalisierung“, schreibt der Verfassungsschutz 2012 in einer Analyse. Und so wurde seit 2015 in knapp 40 Talkshows das Thema „Islam“ im Zusammenhang mit Salafismus, Terror oder Extremismus diskutiert. Der Extremismus gehört also zum Islam? Politiker, Journalisten, Muslime und Vertreter anderer Religionen stritten darüber, ob Muslime sich von islamistisch motivierten Terroranschlägen aktiv distanzieren müssten – und immer wieder plädierten Menschen dafür.
Sprachliche Rahmung im Kontext „Islam“
Was also ist gemeint, wenn von „Deutschland“, wenn von „dem Islam“ die Rede ist? Beantwortet werden kann die Frage wohl nur durch den- oder diejenige selbst, der oder die die Begriffe oder einen von ihnen gerade in einem bestimmten Kontext verwendet hat. Transparenz in dieser Hinsicht würde die Debatte möglicherweise entschärfen. Dann ginge es nicht mehr darum, ob ein fluides gedankliches Konstrukt mit einem anderen fluiden gedanklichen Konstrukt vereinbar ist oder nicht, sondern vielmehr um die Frage, wie man als Gesellschaft sein und wahrgenommen werden will. Und es könnte für den Fortschritt der Debatte ungemein hilfreich sein, eine Gruppierung wie die Ahmadiyya, gemessen an ihren freiheitlichen Idealen, bei der sprachlichen Rahmung im Kontext „Islam“ zu berücksichtigen.